Handelsblatt - 22.07.2019

(sharon) #1

Kommunale Selbstverwaltung


Schuldenschnitt für Pleite-Kommunen


Ökonomen unterstützen die


Pläne von Finanzminister


Scholz, verschuldeten


Kommunen ihre Altschulden


zu erlassen.


Martin Greive Berlin


E


s soll nicht weniger als der Be-
freiungsschlag für überschul-
dete Kommunen werden:

Bundesfinanzminister Olaf Scholz


(SPD) hat angekündigt, die Verbind-


lichkeiten hochverschuldeter Städte


übernehmen zu wollen. Durch den


Schuldenschnitt sollen Städte wie


Gelsenkirchen, Oberhausen oder Pir-


masens endlich wieder in die Lage


versetzt werden, in die Zukunft, kon-


kret in wichtige Infrastrukturen wie


Straßen und Schulen zu investieren,


statt vor allem Zinsen auf alte Schul-


den zu bezahlen.


Länder sind zuständig


Der Vorschlag ist allerdings umstrit-


ten: So will die Union davon nichts


wissen. „Wir erwarten da keine leich-


ten Gespräche“, hatte Heimatminis-


ter Horst Seehofer (CSU) gesagt. Un-


terstützung erhält Scholz hingegen


nun von überraschender Seite: Das


arbeitgebernahe Institut der deut-


schen Wirtschaft Köln (IW) hält seine


Altschuldenlösung für eine gute Idee.


„Eine Altschuldentilgung ist eine Vo-


raussetzung für eine eigenständige


Gestaltung der Zukunft“, sagte IW-


Forscher Tobias Hentze. „Die Politik


wäre gut beraten, eine Altschuldentil-


gung als vorrangiges Ziel zu verfol-


gen.“


Das Bundesfinanzministerium hat-


te die Forderung nach einer Altschul-


denlösung in den Abschlussbericht


der Regierungskommission „Gleich-


wertige Lebensverhältnisse“ aufneh-


men lassen, den das Kabinett am 10.


Juni beschlossen hatte. Dies war eine


große Überraschung, denn bislang


hatte sich der Bund immer gegen ei-


ne solche Forderung gewehrt.


Der Bund sieht grundsätzlich die


Länder in der Pflicht, da sie für die


Finanzaufsicht der Kommunen ver-


antwortlich sind. Vorreiter ist dabei


das Land Hessen, das bereits ein Ent-


schuldungsprogramm auf den Weg


gebracht hat. Auch das Saarland hat


einen entsprechenden Pakt beschlos-


sen, mit dem die Kommunen von


2020 an spätestens bis 2045 wieder


entschuldet sein sollen. In Nord-


rhein-Westfalen denkt die Landesre-


gierung über ein Entschuldungspro-


gramm nach, hofft aber auf Unter-


stützung durch den Bund. NRW-


Kommunen sind mit 82 Milliarden


Euro verschuldet.


Etliche Ökonomen fürchten zu-


dem, dass mit einem Schuldenerlass


für klamme Kommunen Fehlanreize


gesetzt werden: Da die Städte künftig


wüssten, dass der Bund sie notfalls


rettet, würden sie in Zukunft erst


recht wieder hohe Schulden anhäu-


fen, lautet die Mahnung.


Diese Gefahren sehen auch die Ex-


perten beim IW Köln. Zum Nulltarif


dürfe es die Schuldentilgung daher


nicht geben. So müsse ein Entschul-


dungsprogramm verbunden sein mit


einer Haushaltskonsolidierung der


Kommunen, „die auch kontrolliert


und sanktioniert werden“. Auch


müssten sich neben dem Bund auch


die Länder an einer Altschuldenlö-


sung beteiligen.


Daneben sei auch eine „grundle-
gende Neuordnung der Kommunalfi-
nanzen“ notwendig. Als ein zentrales
Problem gilt die Gewerbesteuer.
1,6 Prozent der Unternehmen tragen
zu 77 Prozent des Aufkommens bei.
Dies führt dazu, dass Kommunen oft
von nur einem oder wenigen Unter-
nehmen und deren konjunktureller
Lage abhängig sind. Geht es diesen
Unternehmen schlecht, haben auch
die Gemeinden sofort ein großes Pro-
blem: Im Zuge der Finanzkrise 2009
brachen den Kommunen so etwa 20
Prozent ihrer Gewerbesteuereinnah-
men weg. Zudem verschärft die Steu-
er das Gefälle zwischen armen und
reichen Kommunen.
IW-Forscher Hentze fordert daher,
die Gewerbesteuer abzuschaffen und
die Kommunen stattdessen stärker

an den Einnahmen der gemeinschaft-
lichen Umsatzsteuer zu beteiligen.
Der Vorschlag soll indes nicht bedeu-
ten, dass Kommunen in Zukunft
noch weniger Rechte in Steuerfragen
haben sollen, im Gegenteil: „So
könnte es Kommunen freigestellt
werden, Zuschläge auf die Lohn- und
Einkommensteuer zu erheben, um
bestimmte Projekte finanzieren zu
können“, empfiehlt der IW-Forscher.
Auch müsse mit der Praxis Schluss
gemacht werden, dass Kommunen
Mehreinnahmen über den kommu-
nalen Finanzausgleich in ihren Bun-
desländern an das Land abgeben
müssen.
Zwar stehen auch die Kommunen
dank des langen Aufschwungs wie
Bund und Länder finanziell aktuell
gut da und erzielen Überschüsse. Die
Kluft zwischen armen und reichen
Städten ist in den vergangenen Jah-
ren dennoch immer größer gewor-
den. So haben in den vergangenen
20 Jahren die sogenannten Kassen-
kredite stark an Bedeutung gewon-
nen. Diese Überziehungskredite glei-

chen eigentlich nur vorübergehende
Zahlungsengpässe aus, ihnen stehen
keine Vermögenswerte gegenüber.
Lagen sie laut IW im Jahr 2000 noch
bei sieben Milliarden Euro, waren es
2014 schon 48 Milliarden.

Seitdem gehen die Kassenkredite
zwar langsam zurück. Ökonomen be-
fürchten aber, im nächsten Konjunk-
turabschwung werde die Zahl schnell
wieder zunehmen, um Haushaltslö-
cher zu schließen. Für viele Kommu-
nen ist es hingegen keine Option
mehr, die Steuern zu erhöhen: Zwi-
schen 2012 und 2015 haben bereits 52
Prozent der Kommunen die Gewer-
besteuersätze angehoben, nur ein
Prozent der Städte und Gemeinden
haben sie gesenkt.

Angst vor Negativspirale
Durch die höheren Steuern „haben
sich zahlreiche Städte in eine Nega-
tivspirale begeben, da dadurch das
Umfeld für Unternehmensinvestitio-
nen geschwächt wurde“, analysiert
das IW in einer Studie. Eine Altschul-
denlösung sei daher „unerlässlich“.
Die Schuldenproblematik betrifft
laut Bundesinnenministerium etwa
2 000 der 11 000 Gemeinden in
Deutschland.

Kassenkredite


48


MILLIARDEN


Euro haben deutsche Kommunen
allein als Überziehungskredite auf-
genommen.

Quelle: Statistisches Bundesamt


Fußgänger im Centro
Oberhausen: Finanz-
minister Olaf Scholz
will die Kommunen
dpanicht alleinlassen.

 
 




Wirtschaft & Politik
MONTAG, 22. JULI 2019, NR. 138


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