Berliner Zeitung - 22.07.2019

(Brent) #1
Berliner Zeitung·Nummer 167·Montag, 22. Juli 2019–Seite 19
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Feuilleton


„KaumjemandhattesogründlichüberdieFreiheitnachgedacht.“


ArnoWidmanninseinemNachrufaufdieungarischePhilosophinAgnesHellerSeite


E

sistausderNotgeboren.
Voraussetzung für Katja
Oskamp,ihr Buch„Mar-
zahn mon amour“ zu
schreiben, war einradikaler Rollen-
wechsel. DasBuch handelt vonder
Wirklichkeit dieses Landes,esspielt
in einem Berliner Bezirk, den ver-
mutlich die Mehrheit der Haupt-
stadt-Bewohnernoch nie betreten
hat. Deshalb wirkt die Liebeserklä-
rung im Titel, zumal voreiner Plat-
tenbaufassade,alsProvokation.
DerAnfang beschreibt fast ein
Scheitern,dasliegtinderspeziellen
Situation der Schriftstellerin Katja
Oskamp und den gesellschaftlichen
Verhältnissenbegründet.„Ich war
vierundvierzig Jahrealt, als ich die
Mitte des großen Sees erreichte“,
schreibt sie.Die Mitte des Sees,wo
eineUmkehrnichtmehrmöglichist
unddasUferzuweitwegerscheint.
„MeinLebenwarfadgeworden–das
Kind flügge,der Mann krank, die
Schreiberei,mitderichesbisherver-
bracht hatte,mehr als fragwürdig.“
IhreManuskriptefandenkeinenVer-
lag mehr.Sie trug „etwas Bitteres“
vorsich her und„machtedamit die
Unsichtbarkeit, die Frauen jenseits
dervierzigbefällt,vollkommen“.

SiewirdFußpflegerin
KatjaOskamp–dieAutorinlässtkei-
nenZweifeldaran,dassdasIch,das
in diesem Buch spricht, ihr eigenes
ist–,dieTheaterwissenschaftenstu-
diertundalsDramaturgingearbeitet
hat,diedasDeutscheLiteraturinsti-
tutbesuchtundzweiRomanesowie
einenErzählungsbandveröffentlicht
hat,lerntetwasvölligNeues:Siewird
Fußpflegerin. Ihre Arbeitsstelleist
ein Kosmetikstudioin einem Hoch-
hausinBerlin-Marzahn.MitWasser-
badundSchere,mitFeileundFräser
lerntsiedieLeutekennen,die„inder
Platte“ wohnen.„Ich habe seit dem
Frühjahr 2015 ungefähr dreitau-
sendachthundertFüßegepflegt“,
wirdsiegegenEndesagen,einigeda-
vonbilden die Basisfür die „Ge-
schichten einer Fußpflegerin“, so
derUntertiteldesBuches.
DaistFrauBlumei er,dieals Spät-
folge derKinderlähmung auf den
Rollstuhl angewiesen ist, aber alles,
was irgendwie geht, selber macht,
„sogardieBehindertenwitze“.Diese
FrauerzähltgutgelauntvonAusflü-
genmitihremJugendfreund,unddie
AutorinbringtdieSchnurrenineine
klugeDramaturgiemittollerPointe.
Ganzandersverhältsichderehema-
ligeFunktionärHerrPietsch,derdie
Fußpflegerin examiniert, als wolle
sie sich um eine Anstellung bei ihm
bewerben. Als sie ihm „Immer lebe

die Sonne“ aufRussisch vorsingen
kann,hatsiegewonnen.„Ersiehtin
mir die fleißigeJungpionierin, die
icheinmalwar.“
Da sind die älterenDamen, die
gegenseitig ihreHunde hüten, wäh-
rend sie sich die Füße machen las-
sen,daisteineGreisin,dievonihrer
Tochterherumkommandiertwird,

Blick von den Gärten derWelt auf Marzahn-Hellersdorf IMAGO IMAGES/JÜRGEN RITTER

VonCornelia Geißler

EinStückvon


BerlinsSeele


DieSchriftstellerinKatjaOskamperzählt


mit„Marzahnmonamour“


dieStadtvonunten


daist HerrHübner,denseineSozial-
betreuerinnen insStudio schaffen.
„Erhattenichtsgelernt,niegearbei-
tet,aberseitTeenagerzeitengesoffen
wie ein Loch.“DerAutorin fällt auf:
„Ausgerechneter,dessenFüßeeinen
Verwahrlosungsgraderreichthatten,
derseinesgleichensuchte,entschul-
digte sich nicht.“Denn bis dahin

hatte doch jeder,obBauarbeiter
„oder eitler Ganzkörpertätowierer,
obSchwangereoderGreisin,obgeis-
tiger Tiefflieger oder Akademiker“
beim erstenTermin das Bedürfnis,
sichfürseineFüßezuentschuldigen
–unabhängigvonderen Zustand.
DieinKapitel aufgeteiltenGe-
schichtenlassendasBuchbuntund
witzigundzugleichwahrwirken.Die
Autorin erscheintdabei immer den
Menschen zugewandt. „FrauGuse
ist nicht dement.Sieentfernt sich
nurlangsamundimRückwärtsgang
vonder Welt, in der sie sich aus-
kannte:Kinder,Küche,Kaufhalle.“
Mehrer eKapitelbeginnenmitei-
nem Vorurt eil überMarzahn, das
sichim Verlaufauflöst.Weilaberdie
Berliner Hausnummernordnung
hiernochmehrverwirrtalsindenal-
ten Bezirken, weil die Wohnungen
hellhörig sind, ergeben sich daraus
AufhängerfürEpisoden.Durchihren
Blickwinkelvonden Füßen auf die
PersonhatdieAutorineinhöchstde-
mokratisches Ordnungsprinzip für
das,wasim Kosmet ikstud iopreisge-
gebenwird.Unddannsinddanoch
ihrebeiden Kolleginnen, mit denen
siediesenRahmenaucheinmalver-
lässt. MitWärme schreibtOskamp
vonihnen,anderenSeitesie vonder
deprimierendenMittedes Seesweg-
schwimmenkonnte.

GeschichtenvonderStraße
Katja Oskamp verfasste alsFußpfle-
gerin bereits einigeKolumnen für
die Zeit-Online-Rubrik „Freitext“,
dochkomponiertzue inemBucher-
gibt sich etwasEigenes undBeson-
deres mit großerSogkraft. Dasist
keineA utofiktion,dasistdasLeben.
Undvon ei ner Sozialreportage un-
terscheidetsichdieserGeschichten-
reigen, weil Oskamp Gespräche ex-
trem verdichtet, für jedes einen an-
deren TonunddramaturgischenBo-
gen findet.Ihre Erzählhaltung ist so
berlinisch wie die in den Büchern
vonKatja Lange-Müller und Annett
Gröschner (die beide lobende Sätze
für den Umschlag beisteuerten),
auch derGedanke anErich Kästner
liegtnichtsofern.DasistdieStadtin
ihrem Bodensatz.DieGeschichten
lägenaufderStraße,heißtesmanch-
mal, selten traf das besser zu.Katja
Oskamp hat sich gebückt, aus den
Fundstücken ein überzeugendes
StückLiteraturgemacht.

Katja Oskamp:Marzahn mon amour.Geschich-
ten einer Fußpflegerin. Hanser Berlin 2019. 144
S.,16Euro.
BuchpremieremitKatja Oskamp 19.8., 19.
Uhr,ModerationAnnettGröschner,Kulturbrauerei
(Maschinenhaus),SchönhauserAllee 36

NACHRICHTEN


DerFrankfurterLyriker
Werner Söllner ist tot

DerLyrikerundfrühereLeiterdes
HessischenLiteraturforumsWerner
Söllner(67)isttot.ErseiamFreitag
nachkurzerschwererKrankheitge-
storben,erklärtedasLiteraturforum
amSonntagin Frankfurt:„Wirverlie-
renmitihmnichtnureinenehemali-
genMitarbeiter,derde nherausra-
gendenRufdesHessischenLiteratur-
forumsüberJahregeprägthat–so n-
dernaucheinengroßenDichterund
nichtzuletzteinenWegbegleiterund
Freund,denwirschmerzlichvermis-
sen.“Söllnerwurde1951inRumä-
niengeboren.1982siedelteerindie
Bundesrepubliküber,woera lsfreier
AutorinF rankfurtlebte.1988veröf-
fentlichteSöllnerimSuhrkamp Ver-
lagden Gedichtband„Kopfland.Pas-
sagen“undweitereWerke.(dpa)

Argentinischer Architekt
CésarPelli gestorben

DerpreisgekrönteargentinischeAr-
chitektCésarPelli,derunterande-
remdiePetronas-TürmeinMalaysia
unddas OneWorldFinancialCenter
inNewYorkentworfenhat,istimAl-
tervon92J ahrengestorben.Das
teilteseineFamilieamFreitagmit.
SeineBauteninderganzenWelt
seienseinVermächtnisund„ein
StolzfüralleArgentinier“,schrieb
PräsidentMauricioMacriimKurz-
botschaftendienstTwitter.Pellihatte
zunächstArchitekturinArgentinien
studiert,bevorer 1952 indieUSA
ging.Von1 977 bis 1984 warerDekan
derArchitektur-FakultätanderElite-
UniversitätYale.Erwurdemitzahl-
reichenPreisenausgezeichnet.Erer-
hieltunteranderemdieGoldme-
dailledesAmericanInstituteofAr-
chitects,demBerufsverbandder
ArchitektenindenUSA.(AFP)

Großer Hersfeldpreis für
Katharina Mehling

DieSchauspielerinKatharine Mehr-
lingbekommtfürihreRolleindem
Musical„FunnyGirl“den Großen
HersfeldpreisbeidenBadHersfelder
Festspielen.„InderInszenierung
vonStefanHuberüber zeugtsieals
deutscherBühnenstarinderRolle
einerBroadway-Legendeundver-
körperteineselbstbewusste,starke
Frau“,sodieVeranstalter.(dpa)

Sie


lesen!


W


irhabeneigentlichallesrichtig
gemacht.DieWohnungistvoll
mitBüchern,wirhabenjahrelangje-
den Abend vorg elesen, zu jedem
Weihnachtfest und jedemGeburts-
taggabesfürjedesderKindermin-
destens einBuch. Dazu lesenVater
und Mutter selbst ständig.Morgens
die Zeitung, abendsRomane.Also,
guteVorbildersindwirauch.DieÄl-
terehatauchfrühereinmalgelesen.
DieJüngereverweigertesichvonAn-
fang an.Siehasse lesen, sagt sie so-
garmanchmalmitderihrderzeitei-
genen pubertären Rotzigkeit. Ein
Satz,dermich–ind erGrundschule
einstzurLesekönigingekürt–zuver-
lässigzurVerzweiflungbringt.
Derzeitsinddiebeidenmitihrem
Vater und denGroßelterninU nter-
franken imUrlaub.Von dor terrei-
chen mich sensationelle Aufnah-
men.Siewirkenaufmichwieinsze-
niert,sollenaberwohlderWirklich-
keit entstammen. Einer besseren
Wirklichkeit.Aufeinem Foto liegen
die beiden auf Liegestühlen neben-
einanderimGarten,jededieNasein
einem Buch. Heute früh kam ein
Schnappschuss vomFrühstücks-
tisch, die Lesehasserin noch im
Nachthemd, vorihr eine Schale
Müsli. Diese war unangetastet.Die
Hände wurden gebraucht, um ein
Buchzuhalten.SpäterdasKindauf
dem Sofa, noch später beide in den
Betten, und immer mit dem besag-
ten Lesestoff.GesternAbend kam
die Meldung, ein 500-Seiten-Buch
(AngieThomas’„OnTheComeUp“)
seibeendet.Ichkonnteesnichtfas-
sen!Waswargeschehen?
DieErklärung ist einfach. Es gibt
in der Gegend praktisch keinenIn-
ternetempfang.DieeinzigeEckeam
Seeufer,ander man,wenn man
Glück hat, manchmal ins Netz
kommt,kenntnurderVater.Undder
wirdeinen Teufel tun, den Ortbe-
kanntzugeben.EsistdieseineArtTal
der Ahnungslosen, in demSmart-
phones nutzlos sind.Ichwürde es
lieber Talder Glückseligigkeit nen-
nen. DieGegend solltevonder Stif-
tungLesenempfohlenwerden.


Sensation


Susanne Lenz
weiß, was ihr nächstes Feri-
enziel auszeichnen muss.

Unsere Lehrer


Mathematik:


HerrHerning


UNTERM


Strich


VonKaroline Klemke

N


ach demAbschluss der 10. Klasse war
ich überzeugt, einMatheversager zu
sein. Sieben Jahreunterrichtete unsFrau
Grau,undgenausolangehatteichkeineinzi-
gesWortverstanden.IchhieltesfüreineArt
angeborenenProgrammierfehlerinmeinem
Gehirn. Niemand korrigierte mich.Im
Herbst 1989verließ ich diePolytechnische
Oberschule mit dem schriftlichenBewe is:
eine drei inMathematik, was heute eine


glattevierwäre.Si ebringtesnicht,hießdas
übersetzt, da fehlt eine Gehirnwindung.
MeinemWirkeninderVolksbildungkamdie
WendeindenWeg.Undsol iefichnacheini-
gem Zögern, das imWesentlichenvonMa-
thematikproblemenherrührte,ind asSchul-
amtunseresBezirkes .Esw arFrühling1990.
ManschicktemichineinkleinesZimmeram
Ende eines langenGanges zu einemBeam-
ten, dessenrechtlicheVorgaben sich gerade
inLuftaufgelösthatten.
„Ich würde gernand ie Erweiterte Ober-
schulegehen“,sagteichdortsob estimmt,wie
ich konnte.Erm urmelte: „Dasind sie nicht
dieErste“,undschobmireineListeüberden
Tisch, auf dem ichNamen undAdresse ein-
trug. EtwasspätererhielticheinenBrief,der
mirden WegzuH errnHerningebnete.
MeinLebenwäreandersverlaufen,ohne
ihn. Angstvoll saß ich in seiner ersten
Stunde.Der endgültigeBewe is meiner in-

tellektuellenBeeinträchtigung würde nun
mein Abiturprojekt unter sich begraben.
Ikarus ,fliegnichtzuhoch,derAbsturzwird
fürchterlichsein.
ErbetratmitleichtgebeugtemGangdie
Klasse,ind er Hand eine abgeschrammelte

Ledertasche.Erw ardamalsschonkurzvor
derRente.SeinHaarwarschlohweiß,ersah
auswieAlbertEinsteininklein.MitderAura
des Gelehrten.Ichwollte unter meinem
Tisch versinken.Ohne aufzuschauen, be-
grüßteeruns.„Womitbeginnenwirheute?“
ErhobdenKopf,wieeinBoxer,derden Geg-
ner prüft. Am liebsten wäreich schreiend
rausgerannt.Aber nach zwei, drei einfüh-
rendenWortensagteer:„EineFunktionbe-
schreibt dieBeziehung zwischen zweiVa-
riablenxundy.“
Ichatmeteaus .Aha,dachteich.Soistdas
also.Warumhatmirdasnieeinergesagt?Der
Satz br annte sich in meineErinnerung.Ich
verstand Mathem atik. Ichverstan dHerrn
Herning. Wochenlang hatte ich Angst, beim
nächstenThemawürdedasVerstehenenden.
Espassiertenicht.ErlotstemichdurchDiffe-
rentialrechnung,Integralrechnung undV ek-
toren.MitkristallklarenSätzen.Eindeutigund

logisch.EinangenehmerKontrastzumeinem
Innenleben.HerrHerningwarmeinHeld.
Underb egleitet emichjahrelang, wäh-
rend schrecklicherStatistikvorlesungen an
derUniversität.Ichverstan damA nfangfast
nichtsundwusste,esl iegtnichtanmir.
BeiderAbschlusspartyklebtenihmSchü-
ler die Windschutzscheibe seinesTrabis mit
CDU-Aufklebernvoll. Ichhasst esie dafür.
ZumAbiballwollteichmichbedanken,aber
erkamnicht.Undspätertrafichihnaufder
Straße,nebensicheinealte,sehrkrankeFrau.
Ersahmichan,alswollteernicht,dassichihn
anspreche.Undsohabeichnurkurzgenickt.
Niehabeich ihmgesag t, wie wichtig er für
mich war.Ich bereue es bis heute.Wahr-
scheinlich ist er nun längst tot.Aber wenn
meine Kinder Probleme mitMathe haben,
dann sage ich:Keine Sorge, du br auchst nur
die zu dir passendeErklärung. Dann kannst
dualles verstehen. Undichde nkeanihn.

GERO DESCZYK

Peter Uehling
über die
YoungEuro Classic

Seite 21
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