Berliner Zeitung - 22.07.2019

(Brent) #1

Feuilleton


20 Berliner Zeitung·Nummer 167·Montag, 22. Juli 2019 ·························································································································································································································································································


Schreiben,nachdenken,sprechen


ZumTodderungarischenPhilosophinAgnesHeller


VonArnoWidmann

V

or fünfJahren beantwor-
teteAgnesHellerdie Frage
nacheinem„typischenTag
vonAgnes Heller“ so:„Ich
stehegegensiebenUhraufundgehe
runter zum Schwimmen.“ Sie
wohnte in einemNeubau inBuda-
pest,indessenKellereinSchwimm-
badwar.VergangenenFreitagging
AgnesHellerimPlattenseeschwim-
men–siemachtedortUrlaubim
HeimderBudapesterAkademieder
Wissenschaften –und kam nicht
mehr zurück.Hoffentlich ging es
blitzschnell,denkeich.
Nichtsgingschnellbeiihr,binich
versucht zu sagen. Am 12. Mai
wurde sie in Budapest geboren. Sie
überlebtemit viel Glück den Holo-
caust, 1947 wurde sie Mitglied der
KommunistischenPartei, studierte
zunächstChemieundPhysik,wech-
selteunterdemEindruckeinerVor-
lesung vonGeorgLukács zur Philo-
sophie,wurde dessen Assistentin,
geriet immer wieder auf Kollisions-
kurs mit der KommunistischenPar-
tei,bissie1977nachAustralienemi-
grierteundinMelbourneeineSozio-
logie-Professur erhielt. 1986 wech-
seltesienachNewYork,wosieander
NewSchool for Social Research den
Hannah-Arendt-LehrstuhlfürPhilo-
sophieeinnahm.
Kaum jemand hatte so gründlich
überdieFreiheitnachgedachtwieAg-
nesHeller.DieErfahrungderUnfrei-
heit hatte sie geprägt.Weniger viel-
leichtdie,diesieselbsterlittenhatte,
als vielmehrdie,die sie anderen be-
reitethatte.Siewarschließlichfreiwil-
ligindieKommunistischeParteiein-
getreten,indiestalinistischeKP.
Ihrbewunderter Lehrer Georg
Lukács (1885–1971),der sein Leben
langimmerwiederdieKPkritisierte,
ohne je vonihr loszukommen,wird
dabei eine Rolle gespielt haben. Ag-
nes Heller folgte nach dem Zweiten
Weltkrieg den Spuren vonGeorg
Lukács,der sich nach dem Ersten
Weltkrieg aus einem Ästhetennicht
nur in einen der einflussreichsten
VordenkerdesKlassenkampfes,son-
dernauch in einen Klassenkämpfer
verwandelthatte.
AberAgnesHellergelanges,sich
freizumachen vonihrem eigenen
Ideal. Sieentdeckte dieFreiheit. Sie
entdeckte sie–ich weiß nicht wo.
Aber dargestellt hat sie sie–gewis-
sermaßenaufdenSpurendesBasler
BürgersohnesJakobBurckhardt –im
„Mensch der Renaissance“. Das
erste Buch, das ichvonihr las ,war
„AlltagundGeschichte–zursozialis-
tischen Gesellschaftslehre“. Eine
Antwortaus demJahre1970, kein


Echo,auf GeorgLukács’1923 den
MarxismusrevolutionierendesWerk
„Geschichte und Klassenbewusst-
sein“.ThemawarnichtmehrdieEr-
gründungderVoraussetzungfürdie
Revolution, sonderndas Begreifen
desAlltags.
Derwurde bald einZauberwort,
dasLinkendies-undjenseitsdesEi-
sernen Vorhangshinaushalfausih-
renselbstverschuldetenUnmündig-
keiten.AgnesHellersStimmewurde
schongehört,alssienochinUngarn
war.IhreBücher halfen auch der
westlichen Linken beimAbnehmen
der einst so stolz angelegten partei-
treuen Scheuklappen.Noch erfolg-

Agnes Heller (1929–2019) DDP

„Europ ahatdie Aufklärun gentdeckt.


AberauchderTotalitarismusisteineeuropäische


Idee.Nazismus ,Bolschewismus,Faschismus.


AllewarensieeuropäischeEntdeckungen.


Dasistein Paradox,dasistunauflösbar.


WirkönnendiesenGegensatznichtauflösen,


weilesüberhauptkeinenKompromiss


zwischendenbeidengibtundgebenkann.“


Agnes Heller

reicher war der 1976 erschienene
Band „Theorie derBedürfnisse bei
Marx“.EswardieZeitdersichentfal-
tenden Alternativbewegung. „Be-
dürfnisse“ war eines der magischen
WörterjenerJahre.AgnesHellersah
zurück und mobilisierte noch ein-
mal dieEinsichten desvonvielen
schonbeiseitegelegtenTrierer Philo-
sophenfürdieneuenAufgaben.
Agnes Heller war immer aktuell,
bis zuletzt.Aber sie hatte dieBega-
bung,alles,auchdieeigenenGedan-
ken –zum Beispiel in dem 2017 er-
schienenenBand „Eine kurze Ge-
schichte meinerPhilosophie“ –, zu
kritisieren, ohne etwaswegzuwer-

fen.DasNeu-Entdeckteimmerauch
durch dieBrille des bis dahin für
richtigGehaltenensehenzukönnen,
war ihr eStärke .Mit ander nWorten:
dieReflexion.
AgnesHellerwareinezierliche
DamevonunverwüstlicherRobust-
heit.DasgiltfürihrePhysis,aber
nochdeutlicherwarsieesalsAuto-
rin.DenBegriff„Populismus“lehnte
sie ab .„In einer Demokratie“, er-
klärte sie,„müssen allePopulisten
sein.“Sieliebtees ,einenklarenKopf
zubehalten.So fordertesieunsauf,
statt in schönen Aussichten zu
schwelgen,dieGegenwartdaraufhin
abzuklopfen,was sie an schlimms-
ten Möglichkeiten biete.Nur so
könnten wir verhindern, dass sie
Wirklichkeitwerden.
IhrRealismus mochte derSieg
ihrer Vernunft über ihreIdeologie
gewesensein.ErwaraberauchAus-
druck ihresTemperamentes.
erklärte sie,Viktor Orbán sei ein
Diktator,aberUngarnseikeine Dik-
tatur.EinedialektischeFinte?Nein,
eine sehr genaueBeschreibung der
Lage von2013.Wiewir Beobachter
mitdeutlichlängerenLeitungenals
Agnes Heller erst imvergangenen
Jahrbegriffen.
„Nichts ging schnell bei ihr“,
schriebichamAnfangdiesesNach-
rufs.Ganzfalsch.Siedachteschnel-
ler als die meisten Zeitgenossen.
ZumBeispielauchinihremjüngsten
Essay„ParadoxEuropa“, das imFe-
bruar 2019 erschien. „Europa hat
doch dieAufklärung entdeckt, der
UniversalismuswarvonEuropaent-
deckt. Auch der Begriff desFort-
schritts ist ein europäischerBegriff.
UnddochhatdasselbeEuropaTota-
litarismus entdeckt.Totalitarismus
isteineeuropäischeIdee.Nazismus,
Bolschewismus,Faschismus.Alle
waren europäischeEntdeckungen.
Dasistein Paradox,dasistunauflös-
bar.Wir können diesenGegensatz
nicht auflösen,weil es überhaupt
keinen Kompromiss zwischen den
beiden gibt und geben kann.“Man
liest diese Sätze, glaubt, ihr beim
Denkenzuzusehen.Wiesiesichstei-
gertund radikalisiert.Das„geben
kann“istdanneinDonnerwort.
„Schreiben, nachdenken, spre-
chen,dasistmeinLeben.“Indieser
Reihenfolge.Der Leser hatrecht
mitseinemEindruck.AgnesHeller
hieltesnichtmitderSchulmeister-
lehre:erstdenken,dannschreiben.
Siedachte schreibend, so wie sie
auch–daserklärtesieineinemIn-
terview –gerne beim Schwimmen
dachte.AmE nde,soh offeich,war
sie eine nicht nur imPlattensee,
sondernauch in ihrenGedanken
glücklicheSchwimmerin.

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