Berliner Zeitung - 22.07.2019

(Brent) #1

Feuilleton


Berliner Zeitung·Nummer 167·Montag, 22. Juli 2019 21 *·························································································································································································································································································

SymbolischerAuftritteinesOrchesters


DasPolskaOrkiestraSinfonieIuventuseröffnetYoungEuroClassic


VonPeter Uehling

E

sgibt so vielem zu geden-
kenundsovielzufeiernin
diesen Tagen: 100 Jahre
Weimarer Republik, 75
JahreHitler-Attentat,50JahreMond-
landung, 20JahreYoung Euro Clas-
sic,249 JahreLudwigvanBeethoven.
UnddasBeste:Irgendwiehängtalles
miteinanderzusammen.InKurzfas-
sung: Ohne den unausgegorenen
erstendeutschen Demokratie-Ver-
suchkeinHitlerundalsokeinHitler-
Attentat, ohne Hitler kein Kalter
Krieg, der die US-amerikanische
RaumfahrtinKonkurrenzzursowje-
tischen zumindest starkbefeuert
hat,undohneHitlerkeinZweiter
Weltkrieg, dessen Blutbäder das
Friedens-Projektdereuropäischen
Zusammenarbeit hervorbrachten,
zudessenSeitentriebenYoungEuro
Classicgehört.UndohneBeethoven
undseineIdeeeinerverbrüdernden
Musik,dieauchohneSprachealles
auszudrückenvermag, wär eYoung
EuroClassicvielleichteinNebenein-
ander nationalerMusizierstile ohne
gemeinsameGravitation.

KeinorganisatorischerZufall
Nungut, vielleicht neigt man in der
Ergriffenheit solcher Feierstunden
zur Übertreibung.DassYoung Euro
Classic amFreitag im Konzerthaus
mit demKonzer teines polnischen
Jugendorchesters begann, wurde
zwar vonkeinem derFestredner –
der Regierende BürgermeisterMi-
chael Müller,die Kulturstaatsminis-
terin Monika Grütters und derVor-
sitzende desFreundeskreises euro-
päischerJugendorchesterWilliSteul
–als symbolischer Akt herausge-
stellt. Aber dass in dieser gedenk-
und geschichtsgeladenenZeit aus-
gerechnet das Land zurFestival-E r-
öffnunggerufenwird,indemwiruns
derar tmiserabel betragen haben,
möchte man nicht als organisatori-
schenZufallverstehen.
Symbolisch wirdder Auftritt des
Polska OrkiestraSinfonia Iuventus
auch dadurch, dass er symbolisch
bleibt,dasserseineSymbolwirkung
nicht durch künstlerischeExzellenz
verg essenmacht.
DenAnfang machte–wie viele
Jahredennnoch?–dasYEC-Pflicht-
stück, dieFestival-HymnevonIvan
Fischer von2011. Es spielten die
Streicher,undfüreinenkurzenMo-
ment mochte man etwas spezifisch
PolnischesinderInterpretationdie-
seszuweilenspezifischungarischen
Stücks hören, jeneDifferenz zwi-

schenderpolnischenAvantgardeei-
nes KrzystzofPenderecki und der
ungarischen einesBelá Bartók oder
des frühenGyörgy Ligeti, die zur
klanglichdruckvollenPlanierungei-
nes subtilen Geflechts führt.Aber
vielleichtwardasEinbildung.
Dass das Orchester mit den bei-
den Beethoven-Symphonien arge
Problemehatte,warleiderkeineEin-
bildung. Schon bei derFanfarefiel
auf,dassdasZusamm enspielbeider
ersten Schwierigkeit unscharfwird.
DasRitardandoamBeginnder„Pas-
torale“ brachte der Dirigent Jakub
Chrenowicz beim ersten und beim
wiederholten Durchgang nichtzu-
sammen.InderFolgebeschränkteer
sich beiweit flügelnderGestik auf
ein sehr geradesTempo ohne jede
Phrasierung,undd aswir dimH and-
umdrehenlangweilig.

InklanglichemZwielicht
Wasist da los? Chrenowicz„begann
seine professionelle Laufbahn 2010
beimWarschauerPhilharmonischen
Orchester“, belehrtdas Programm,
er ist also kein unerfahrenerDiri-
gent.KannersichaufdasJugendor-
chester nicht einlassen, kann er es
nichterziehen?
Die„Toccata“fürkleinesOrches-
ter vonArtur Malawski, ein explo-
diert-neoklassizistischer Bürger-
schreck-Überfallvon1947,funktio-
niertbesser.Allerdingskonfrontiert
daszackigeStückauchnichtmitsti-
listischen Schwierigkeiten, es er-
schließt sich der konventionell ge-
lehrten Virtuositätmühelos.Bisauf
einigeinnehaltendeFelderinklang-
lichemZwielicht,dieaufmodernere
polnischeKomponistenverweisen
–Penderecki war MalawskisStu-
dent–,istdasStückauchnichtsehr
interessant.
In Beethovens Fünfter jedoch
verliertsich alle Brillanz des Or-
chesterswieder.DermanirierteVer-
such,das GehämmerdeserstenSat-
zeszuh uman isieren –schon das
Gewitterder„Pastorale“entludsich
anscheinendinweiterFerne–führt
zu einem eigentümlich muffigen
Orchesterklang und ist auch kein
guterAusgangspunktfürdiesesym-
phonischeErzählung, indem er die
Kontraste zu denAusdrucksberei-
chenderfolgendenSätzeeinebnet.
DasFinale schleppt sich immer
langsamer zu seinem endlichen
Schlussakkord, und man fragt sich
schon: DasistdocheinRepertoire-
StücknichtnurfürDirigenten,son-
dernauchfürJugendorchester;wie
kanndassodanebengehen?

WEITERE KONZERTE

Montag:An diesem Abend
spielt das Nationale Jugend-
orchester Rumäniens Beet-
hovens 4. Symphonie,
Tschaikowskis Variationen
über ein Rokoko-Thema so-
wie ein Klavierquartettvon
Brahms.

Dienstag:Das schwedische
O/Modernt Kammarorkester
spielt Beethoven, Ar vo Pärts
„Fratres“ sowie Improvisatio-
nen über Beethoven-Varia-
tionen undVivaldi-Konzerte,
kombiniertmit finnischer
Rockmusik.

Mittwoch:Die Nationale Ju-
gendphilharmonie der Türkei
spielt dirigiertvon Cem Man-
sur außer Beethoven, Carl
MariavonWeber und Rach-
maninowauchFüsün Kök-
sals „Silent Echoes“. Es ist
die deutsche Erstaufführung.

Der polnische Dirigent Jakub Chrenowicz KAI BIENERT

TowerBridgeimBrexit-Chaos


Die„Apokalypse“-BilderdesDeutsch-BrasilianersAlexFlemminginderKircheamHohenzollernplatz


VonIngeborg Ruthe

M


itnichtenwirdsieeinstürzen–
dieTowerBridge,Wahrzeichen
Londons,wenn er am 31.Oktober
endgültigist:derfolgenschwereAus-
tritt GroßbritanniensausderEU.
Alex Flemming, inBerlin leben-
der,1954inSãoPaulogeborenerMa-
ler mit deutschemPass und damit
ein Wahl-Europäer,stellt das euro-
päischeWelterbe-Bauwerküber der
ThemseineinerbedenklichenSitua-
tiondar .Farbchaosobenwieunten,
diemarkantenTürmeder244Meter
langenKlapp-undHängebrückevon
1894 schief, bedrohlich wankend,
nichtmehrinderLage,denFußgän-
gersteghochobenzuhalten.Derun-
tereStraßenbrückenteilistschongar
nichtmehrzusehen.
Flemming, dessen farbintensive
Malerei aus heftigen, expressiven
Pinselschlägen und ebenso auch
akribischer Architekturzeichnung
besteht,wobeiletzterefastwieindie
Farbmassen hineingekratzt wirkt,
hat für seine neueste,22G emälde
zählendeMalserie„Apokalypse“die-
ses symbolstarke Bauwer kausge-

wählt. Einbesonderer und auch as-
soziationsreicherHingucker in sei-
ner der zeitigen Ausstellung in der
evangelischenKunst-KircheamHo-
henzollernplatz.
DasbiblischeThema derApoka-
lypsehatteimspäten15.undfrühen

Metapherndurch menschliches
HandelngefährdeterOrteunterun-
heilschwangerenHimmeln.Funda-
mentekrachen,Feuer,Rauch,Explo-
sionenderFarbenzerstörenalleGe-
wissheiten. Noch Intaktes trägt
schon die Zeichen wahnsinniger
Zerstörungswut.Flemmingmaltfar-
bigeAlbträume–vonfuturistischen
ArchitektureninBarcelonaundNew
York.Von Bauten derWeltkunstge-
schichtewiedemKölnerDom,dem
BrandenburgerTor, der Blaue Mo-
schee,derHagiaSophiaIstanbuls.
2015 malte er,wohl unter dem
Eindruck der islamistischenAtten-
tate vonParis ,die Kirche Notre
Dame.Vier Jahrespäter wurde die
Apokalypse für dieses unersetzliche
Bauwer kzur sc hrecklichenRealität.
Aber nicht durch dieHand perfider
Terroristen, sondernwegen grober
Fahrlässigkeit derBauverantwortli-
chen. Undsod ringt aus Flemmings
BildernauchtiefeMelancholieüber
dieFehlbarkeitderMenschen.

Ev.Kirche am HohenzollernplatzNassauische
Straße 66-67. Bis 11. November,Di/Do/Fr
14–18/Mi+Sa 11–13 Uhr.


  1. Jahrhundertschon Albrecht Dü-
    reretwa zu Holzschnitt-Serienvon
    Ritter,Todund Teufelinspiriert.Da-
    malswieheutewarundistZeitkritik
    ein starker Antrieb für Künstler.
    Flemming stelltBauwerke mitho-
    hemSymbolgehaltdar,machtsiezu


Alex Flemming: dasWahrzeichen Londons, die „Tower Bridge“, 2017.VG BILDKUNST BONN 2019

TOP 10


Sonnabend, 20.Juli

1München Mord ZDF 3,84 17 %
2Gefragt–Gejagt ARD 3,76 18 %
3Tagesschau ARD 3,72 19 %
4Der Staatsanwalt ZDF 3,13 14 %
5heute ZDF 2,88 18 %
6heute journal ZDF 2,25 12 %
7Tagesthemen ARD 2,21 17 %
8Dakommst du nie ...ZDF 2,16 12 %
9SokoKitzbühel ZDF 1,97 15 %
10 RTLAktuell RTL 1,82 12 %
ZUSCHAUER IN MIO/MARKTANTEIL IN %

ZumCSD:


Warum


LGBT?


WÖRTERBUCH


VonNikolausBernau

A


nderEckederChristopherStreet
imNewYorkerStadtteilGreen-
wichVillagemitderGayStreetsteht
einStraßenschildauselfbuntstrah-
lendenTafeln.Ganzoben,weißauf
Schwarzblau,ehrtdie„GaySt“jene
Männer,dieMännerlieben.Esfolgt
inDunkellila„LesbianSt“,dieLesbi-
scheStraße,gewidmetdenFrauen,
die Frauen lieben, dann preußisch-
blau die „BisexualSt“für die ,die
Männer wieFrauen lieben.Blaurot
ist die „Trans St“für Transsexuelle,
dieimfalschenKörpergeborenwur-
den,undTransvestiten,diegegenge-
schlechtliche Kleidung lieben.
„Queer St“ist Queeren gewidmet,
die,sehrgrobvereinfacht,allesexu-
ellDiskriminiertenalsEinsansehen.
AufihrerpolitischenAgendasteht
auch derKampf für dieRechte der
oftbrutalverstümme lten Intersexu-
ellen –„Intersex St“–deren Körper
nicht die eine oder andereeindeu-
tigeGeschlechtsformentwickelthat.
DenNicht-Sexuell-Interessierten
dergelben„A-SexualSt“istdieganze
Sex-Obsession obskur.Orangefar-
benleuchtetdie„NobinarySt“derje-
nigen, die sich nicht in dasRaster
vonnur zwei Geschlechternfügen
wollen ,rotdie„PansexualSt“–wozu
Grenzen setzen, alles einvernehm-
lichSpaßmachendeisterlaubt.
Tiefrotaberist„TwoSpirit St“,was
sich auf die überaus umstrittene
englische Übersetzung für das
Ojibwa-Wort„nisomanito“ bezieht.
Essoll„drittesGeschlecht“oderzwei
Geschlechter in einer Person be-
zeichnen.Einepolitischüberausun-
korrekte Straßenschildfarbe.
Schließlich folgt auf dem untersten
Schild die „+St“, die „Wie wir uns
sonst noch soverhalten können“-
Straße.Dag ehörtauchdieHeterose-
xualitäthin.
Vonoben nach unten lesen sich
die Anfangsbuchstaben auf ameri-
kanisch„GLBTQIAN2BP2S+“.Dasist
derzeitdiediewohlumfangreichste
Erweiterung des inzwischenwelt-
weit geführten Kürzels LGBTQ+.
Wanndas LfürLesbenandieSpitze
rückte,istdabeinichtganzklar.Ent-
spricht es dem viktorianischenVor-
urte il,Kerle seien triebgeleitet,
müssten zivilisatorisch eingehegt
werdenzwischenLundB? Odergeht
eshierumeinenMachta nspruchder
Lesben, wie manche ältereSchwu-
lenbewegtevermuten ?Eineneutrale
alphabetische Reihenfolge müsste
aktuellallerdingsausgerechnetmitA
fürAsexuellanfangen.Aberwennfür
A-Sexuell nun„Non-Erotic“ stünde?
Dasläse sich die Abkürzung so:
BN2BGILNEQ2S+.
OderganzkurzBGLTQ+.

GETTY IMAGES

Gedenken


und


Widerstand


StreitumMuseumaufder
WesterplatteinDanzig

D


anzigs Bürgermeisterin Alek-
sandraDulkiewiczhatdenpol-
nischen Präsidenten aufgefordert,
Pläne zumBaueines umstrittenen
Museums auf derWesterplatte zu
stoppen.Siehabe dasStaatsober-
haupt AndrzejDuda in einemBrief
gebeten, gegen ein entsprechendes
Gesetz einVeto einzulegen oder es
an dasVerfassungsgericht weiterzu-
leiten,sagteDulkiewiczamSamstag
nachAngabendesSendersTVN24.
GrunddesStreitsisteinvompol-
nischenParlamentverabschiedetes
Gesetz, mit dem die nationalkon-
servativeRegierungaufderHalbin-
sel,diebishergrößtenteilsvomop-
positionell regierten Danzig
(Gdansk)verwaltet wird, ein Mu-
seumerrichtenkann.
DieStadtDanzigundHistoriker
fürchten, die Regierenden wollten
den historisch bedeutendenOrt
ähnlichwie schon das Danziger
MuseumzurGeschichtedesZwei-
ten Weltkriegs übernehmen,um
die Geschichtsdarstellungzu be-
einflussenundfürihrepolitischen
Zwecke zu nutzen. Im Vorder-
grund könnte möglicherweise ein
einseitiger polnischer Patriotis-
mus stehen.Nach einem Rechts-
ruck2015setztdieRegierungspar-
tei Recht und GerechtigkeitPiS in
PolensGeschichtspolitikneueAk-
zente.DamitdasWesterplatte-Ge-
setz in Kraft tritt, muss Andrzej
Duda es noch unterschreiben –
diesgiltalswahrscheinlich,dader
Politiker aus Reihen der National-
konservativenstammt.
Bürgermeisterin Dulkiewicz
kritisierte,dieswerdeZeugnisda-
fürsein,dassdiePiS-Regierung
die Meinung anderer nicht be-
rücksichtige.Historiker,Zeitzeu-


Seit 1966 steht auf derWesterplatte ein
25 Meter hohes Granit-Denkmal. DPA/WOLF


genundBürgerhättenindiePläne
miteinbezogen werden müssen.
DasGesetzgebungsverfahren
weistDulkiewiczzufolgevieleUn-
stimmigkeitenauf.
DerBeschuss des polnischen
Munitionslagers auf derWester-
plattedurchdasdeutscheMarine-
schiff „Schleswig-Holstein“ am
frühen Morgen des 1.Septembers
1939leitetedendeutschenAngriff
auf Polen und damit denBeginn
des Zweiten Weltkriegs ein.Nach
Kriegsende wurde die Verteidi-
gungderbewaldetenHalbinselbei
Danzig in Polen zur Heldenle-
gende,dievorallemandenWider-
stand gegen die deutsche Über-
machterinnert.Seit1966stehtauf
derWesterplatte ein 25Meter ho-
hesGranit-Denkmal.
AusSicht vonPolens Regie-
rungspartei PiS wirddies demGe-
denkortnichtgerecht.DasHelden-
tum der polnischenSoldaten bei
derVerteidigung derHalbinsel so-
wie die Bedeutung fürPolen wäh-
renddesKriegesunddanachwerde
zu wenig her vorg ehoben, heißt es
ineiner Begründungfürdasvonih-
nen vorangetriebeneGesetz. Die
Stadt Danzig habe den Ortjahr-
zehntelang vernachlässigt, kriti-
siertVize-KulturministerJaroslaw
Sellin nach Angaben der Agentur
PAP. „Besucher verlassen diesen
Ortbeschämt“,meinter.(dpa)

Free download pdf