Frankfurter Allgemeine Woche - 19.07.2019

(nextflipdebug5) #1

Schließen Sie aus, dass Sie ins Kabinett wechseln? So lautete
vor zwei Monaten eine Interviewfrage an Annegret Kramp-
Karrenbauer. Die CDU-Vorsitzende antwortete: „Ich habe
schon letztes Jahr im Februar gesagt, ich will mich auf die Par-
tei konzentrieren. Ich sehe keinen Anlass, warum ich von mei-
ner Grundsatzentscheidung abweichen sollte.“ Nun hat sie es
doch getan. Das ist die zweite riesengroße Überraschung
durch die CDU innerhalb kürzester Zeit. Erst: Kommissions-
präsidentin Ursula von der Leyen – schon das kam ja so uner-
wartet und unerklärbar wie ein Zaubertrick. Und zwar kein
oller Kaninchen-aus-dem Hut-Trick, sondern ein wirklich gu-
ter, etwa wie das Verschwindenlassen der Freiheitsstatue
durch David Copperfield. Nun: Verteidigungsministerin An-
negret Kramp-Karrenbauer. Dieser Zaubertrick ist sogar
noch besser, wirklich meisterlich.
Angela Merkel hat damit wieder einmal ihr ganzes politi-
sches Können präsentiert. Auch Kramp-Karrenbauer selbst hat
gezeigt, dass sie über erheblichen Machtinstinkt verfügt und
sehr viel von der Kanzlerin gelernt hat. Denn jetzt hatte sie ei-
nen Anlass, von der Grundsatzentscheidung abzuweichen. Es


nicht zu tun, hätte wahrscheinlich sogar eine bittere Niederlage
bedeutet. In den vergangenen Monaten ist es für Kramp-Kar-
renbauer schließlich nicht optimal gelaufen. Der Eindruck, der
sich verfestigte, war: Sie hat sich stets bemüht. Ihre Reaktion
auf Youtuber Rezo war blamabel, als wolle sie helfen, sich und
die CDU zu zerstören. Die Folgen waren sinkende Umfragewer-
te und die immer häufiger geäußerte Frage, ob sie denn wirk-
lich die geeignete Nachfolgerin von Merkel ist.
Mit dem Abweichen von ihrem Grundsatz ist es ihr nun
gelungen, Jens Spahn und Friedrich Merz wieder auszustechen.
Die Debatte um die Merkel-Nachfolge dürfte zumindest vor-
erst verstummen. Natürlich könnte man nun einwenden, dass
bisher nur ein Verteidigungsminister den Sprung ins Kanzler-
amt geschafft hat. Aber von der Leyen ist es immerhin gelun-
gen, in diesem Amt ihr Ansehen in ganz Europa zu steigern.
Warum also sollte es Kramp-Karrenbauer schaden? Zunächst
einmal hat die Entscheidung ihr gutgetan – und es ist für sie
eine Chance zu zeigen, was sie wirklich kann.Fest steht doch:
Hätte sie sich dieses Amt nicht zugetraut, dann wäre auch die
Kanzlerschaft nichts für sie. (Siehe Seite 14).

Dassausgerechnet eine Zugfahrt zu einem Treffen der Absti-
nenzbewegung, die der Baptistenprediger und Unternehmer
Thomas Cook im Jahr 1841 für 570 englische Anhänger der
Mäßigung organisierte, das Zeitalter des Pauschalurlaubs und
damit des inzwischen ins Exzessive gesteigerten Reiseverkehrs
eröffnete, gehört zu den Treppenwitzen der Geschichte. Im
Abendglanz ihres Empires eroberten erst britische Touristen
die Welt, dann andere wohlhabende Bewohner des Westens, al-
len voran die Deutschen. Und die postkoloniale Umkehr der
Verhältnisse will es, dass nun Abermillionen Chinesen, Inder
oder Araber die Exotik des alten Europas bei uns suchen.
Das ist eigentlich ein gutes Zeichen. Immer mehr Men-
schen weltweit können sich Reisefreiheit nicht nur nehmen,
sondern auch leisten und wollen ihre Sehnsucht nach einer Be-
gegnung mit der Fremde stillen. Wenn da nicht das Mengen-
problem wäre. Mit dem Massentourismus, befördert durch Bil-
ligflüge, Online-Buchungen, die Airbnb-Revolution und Ins-
tagram-Moden, verhält es sich wie mit lokalem Starkregen im
Hochsommer: Auf manche Orte prasselt es kübelweise nieder,
während anderswo Landstriche verdorren. Groß ist der Schre-


cken, wo ein Terroranschlag, eine Naturkatastrophe oder eine
andere Krise eine wirtschaftlich vom Tourismus abhängige Re-
gion von den Besucherströmen abschneidet. Laut ist das Kla-
gen aber auch, wo Touristen zur Plage werden und Reiseziele
zu Tode geliebt werden, wie es jetzt oft heißt.
Touristen, über die es sich zu empören lohnt, sind im-
mer die anderen: die einen als Einheimischen verdrängen, ei-
nem als Reisenden den Blick verstellen, etwas teuer oder billig
machen oder durch schiere Anwesenheit die Illusion von Ex-
klusivität und Authentizität zerstören. Siebzig Prozent der
Deutschen wollen dieses Jahr verreisen, am liebsten nach Spa-
nien. Wir werden uns daran gewöhnen, als Reiseweltmeister
von Urlaubern aus Fernost abgelöst worden zu sein, die sich
nicht mit Nachbauten europäischer Wahrzeichen begnügen,
sondern die Welt sehen wollen. Überlaufene Orte werden
Wege finden, die Besucherflut zu kanalisieren. Nach Touristen
dürstende Orte können hoffen. Und man selbst hat die Wahl:
Zwischen Venedig und Ballermann gibt es viel zu entdecken,
wo man nicht im Gedränge steht. Statt Abstinenz braucht es
nur eine gewisse Mäßigung.(Siehe Seite 38.)

Annegret Kramp-Karrenbauer


Massentourismus


Von PhilipEppelsheim


VonUrsula Scheer


Meisterlich


Gute Reise


Meinung 9


FRANKFURTERALLGEMEINE WOCHE 30/

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