Neue Zürcher Zeitung - 17.07.2019

(Grace) #1

Mittwoch, 17. Juli 2019 WIRTSCHAFT 21


In seinem Büroim31. Stockdes PrimeTowerinZürichkümmert sichder Anwalt FlavioRomerio insbesondere umFälle vonWirtschaftskriminalität. CHRISTOPH RUCKSTUHL / NZZ

BERUFE IM WANDEL

«Was früher das Diktierge rät war,

ist heute das technische Talent»

Auch in Anwaltskanzleienhaben Themen wie Work-Life-Balance u nd Technologie Einzug gehalten


ZOÉBACHES

0,37 Sekunden. So lange dauert es, bis
Google auf eine eingetippte Such-
anfrage eineAuswahl anAntworten lie-
fert. Die rasante Entwicklung derTech-
nologie habe auch die Erwartungen der
Kunden stark erhöht, sagt Flavio Ro-
merio, seit kurzem ManagingPartner
der Zürcher Anwaltskanzlei Hombur-
ger und Leiter der Abteilung fürWirt-
schaftskriminalität.Vor dreissigJahren
konnte sich ein Anwalt für die Ant-
wort auf eineKundenfrage – gerneals
Brie f per Post oderFax versandt – meh-
rere Tage Zeit lassen. Heuteerw arte-
ten die Klienten innert kurzer Zeit und
am besten gleich perTelefon eine fun-
dierteReaktion.Wegen der umfassen-
den Verfügbarkeit vonInformationen
müsse eine solche Antwort mindestens
so gut sein wie die bisher beste Ant-
wort, sagtRomerio.
Der 55-jährigeJurist ist seit bald 28
Jahren als Anwalt tätig. Denrapiden
Wandel der Branche hat er an vorders-
ter Front erlebt. Der Beruf des Anwalts
an und für sich sei zwar der gleiche wie
früher,betont er.Ein Jurist versuche,
die rechtlichen Probleme seiner Klien-
ten zu lösen, vomVerhandlungstisch bis
zum Prozessieren vor Gericht. Deut-
lich verändert habe sich aber die Art,
wie der Beruf ausgeübt werde. Haupt-
treiber sind die zunehmendeKomplexi-
tät alsFolge der Globalisierung, gesell-
schaftlicheVeränderungen und neue
Technologien. So war früher das Herz-
stück jeder Kanzlei die gut bestückte
Bibliothek mit einerVielzahl juristi-
scherWerke; heute sind diese Informa-
tionen jederzeit online verfügbar, und
das Herzstück ist nun die IT.

Skepsis gegenüber Computern


Dank den neuen Kommunikations-
mitteln sind Anwälte für ihre Klien-
ten immer erreichbar – umgekehrt gilt

selbstverständlich dasselbe. Heute sit-
zen Rechtsexperten von Beginn an in
den Projektteams derFirmen, und das
ManagementrechtlicherFragen ist zur
Führungsaufgabe geworden. DerWirt-
schaftsanwalt muss nicht nur dasRecht
im Blick haben,sondern die Gesamt-
heit der unternehmerischen, finanziel-
len undkommunikativen Aspekte eines
Falls.Wie derArztberuf sei dieJuristerei
lange Zeit ein Stand und nicht ein «Ge-
schäft» gewesen, sagtRomerio. Es gibt
viel mehr Anwälte als früher, auch weil
immer mehrFrauen diesen Beruf er-
greifen.Kanzleien, fir meninterneJuris-
ten und andere Anbieter anwaltlicher
Dienstleistungen wie Beratungsfirmen
kämpfen oft um dieselbe Klientel.
Gleichzeitig nehmen die Zahl der
Regulierungenund dierechtlicheKom-
plexität stark zu, und es entstehen neue
Fachbereiche wie dieFinanzmarktregu-
lierung und in Zukunft vielleicht das
Recht auf künstliche Intelligenz.Klien-
ten erwarten von ihren Spezialisten
Kenntnisse über internationaleRegeln
und dieFähigkeit,mit ausländischenBe-
hö rden zu verhandeln.
Für dieJuristerei entschied sichRo-
merio, weil er sich mit dieser Studien-
richtung die grösstmöglicheFreiheit bei
der Gestaltung seines künftigen Beru-
fes erhoffte.Als Bester seinesJahrgangs
hatte er1989 dasJurastudium an der
UniversitätBasel abgeschlossen; bis zur
Anwaltsprüfung arbeitete er als Prak-
tikant bei derBasler Kaderschmiede
Christ, Löw, Brückner & Konsorten
(heuteVischer Anwälte).
Diese Urbasler Kanzlei, damals «die
Fabrik» genannt, wurde von einer Hand-
voll Anwälten geführt, die zur geschlos-
senen Gesellschaft des «Daig» zählten.
Der Umgang in der Kanzlei war steif
und formell.In der winzigen Biblio-
thek wurde ein Platz für den Praktikan-
ten freigemacht – und dieser verlangte
einen Computer, damals noch ein un-
handliches,grosses Gerät.Es wurde ihm

allerdings verweigert.DasErlernen der
Fähigkeit, Gedanken so zu ordnen, dass
man frei Briefe,Rechtsschriften und
Gutachten ins Diktiergerät sprechen
konnte, sahen die Anwälte als unum-
gängliche Schulung an.

«Hallo,Herr Kollege»


Effizienz war dagegenkein Kriterium.
So durfte ein Praktikant seinen ins Dik-
tiergerät gesprochenenText nicht sel-
ber abtippen.Dafür waren die Assisten-
tinnen zuständig, und bis diese Zeit für
einen Praktikanten hatten, der in der
Hackordnung ganz unten stand, vergin-
gen manchmalTage.Ein Anwalt ging
fast nie zum Klienten, dieser musste die
Kanzlei aufsuchen. Berufskollegen hat-
ten sich stets mit «HerrKollege» anzu-
sprechen, privat und im Büro. Ein Brief
hattekorrekt mit «freundlichen und
kollegialen Grüssen» zuenden; stand
da nur «mit freundlichen Grüssen», war
das eine Kritik an der fachlichen Befähi-
gung desKollegen.
Dass diese alteWelt derJuristerei
nicht die seine war, erkannteRomerio
rasch.«Ich kann bis heute nicht mit dem
Diktiergerät arbeiten.» Bei Homburger
dagegen kam dann sein Interesse für die
Technik zumTragen.So führteRomerio
in der Kanzlei den Blackberry ein, zu-
letzt startete er 2018 die Initiative «Ex-
ponential Homburger», die den digita-
len Wandelin der Kanzlei vorantreibt.

«Was früher für einen Anwalt das Dik-
tiergerät war, ist heute das technische
Talent», sagt er.
Die Ausbildung in den USA –Ro-
merio absolvierte nach seiner Anwalts-
prüfung die UC Berkeley School of
Law, danach doktorierte er – sei heute
für Junganwälte, die in grösseren Kanz-
leienarbe iten wollten,die Norm,meint
der Jurist. Nur wenige von ihnen ver-
fassten aber noch eine Dissertation; als
zu gross wird derAufwand dafür einge-
schätzt,der sich zudem im Salär nur mit
einigen hundertFranken im Monat nie-
der schlägt.Romerio fällt auf, dass jün-
gereKollegen deshalb oft nicht mehr
richtig gutrecherchieren und schrei-
ben können. Zudem sind junge An-
wälte lautRomerio fast nur nochFach-
spezialisten, was das Risiko desTun-
nelblicks erhöht.
Di eVeränderungen im Berufsbild
der Juristen gingen mit denjenigen in
der Gesellschaft einher, merkt ein er-
fahrenerAnwalt an.Bei den Grosskanz-
leien finde einWandel vom freienPart-
ner zum nicht mehr so freienPartner im
Anstellungsverhältnis statt, oft imRah-
men einer Aktiengesellschaft.Romerio
räumt ein, dass diePartner von Gross-
kanzleien an Unabhängigkeit verlören.
Dafür eröffnet sich ihnen die Chance,
komplexeFälle in einemTeam in An-
griff zu nehmen. Oft ist auch dieRede
davon, dass in den Kanzleien eine Nine-
to-five-Mentalität Einzug gehalten habe
und Junganwälte gar vonWork-Life-
Balance sprächen. «Die Büros sind an
den Wochenenden tatsächlich leerer als
früher», sagt Romerio;damals habe man
eben stundenlang dieFaxe ordnen müs-
sen. Heute aberkönnten Anwälte dank
der Technik überall arbeiten.Wenn Be-
werber ihn zurFreizeit befragen, ant-
wortetRomerio jeweils: «Es gibt nur
ganz selten Situationen, in denen ich das
Telefon nicht abnehme. MeineWork-
Life-Balance besteht darin, jedenTag
mit Freude zu arbeiten.»

BERUFE IM WANDEL
NeueTechnologienund die Globalisierung
verändern die Art, wie wir unsereBerufe
ausüben. Über die Sommermonate
stellenwir Personenvor, die in ihrem
Alltag mit diesemWandelkonfrontiert
sind. Am nächsten Mittwoch lesen Sie
von einer Kondukteurin.

nzz. ch/wirtschaft/berufe

Spahn macht


Doc Morris


das Leben schwer


Deutscher Gesundheitsminister will


VersandapothekenRabatteverbieten


CHRISTOPH EISENRING, BERLIN


Am Mittwoch wird im deutschen Kabi-
nett das «Apothekenstärkungsgesetz»
beraten. Nomen est omen: Es geht
nicht so sehr um diePatienten, viel-
mehr steht der Schutz der etablier-
ten Apotheken vorKonkurrenz durch
ausländischeVersandhändler imVor-
dergrund. Schon imKoalitionsvertrag
hatte Schwarz-Rot festgehalten,sich für
ein Verbot desVersandhandels mit ver-
schreibungspflichtigen Medikamenten
einzusetzen. Es wird behauptet, dass
die Apotheken vor Ort und damit die
Versorgungssicherheit durch dieKon-
kurrenz gefährdet würden.
Ein vollständigesVerbot ist zwar vom
Tisch.Aber wenn das Gesetz durchgeht,
dürfte der Branchenführer Doc Morris,
die in den Niederlanden ansässigeToch-
ter der Schweizer Zur-Rose-Gruppe, ge-
setzlichversicherten deutschenKunden
keine Boni mehr gewähren,wenn sie bei
ihr Rezepte einreichen.


Im Interesseder Apotheker


Der deutscheApothekenmarkt ist hoch
reguliert. Ein Apotheker darf maxi-
mal vier Geschäfte betreiben,Kapi-
talgesellschaften sind in diesem Be-
reich nicht zugelassen. Für verschrei-
bungspflichtige Medikamente gilt in
ganz Deutschlandein fixer Preis (bei
rezeptfreien sind die Preise dagegen
frei). Unter diesen Voraussetzungen
war es für ausländische Anbieter lange
unmöglich, am deutschen MarktFuss
zu fassen.Der Europäische Gerichts-
hof hatte jedoch im Herbst 2016 ent-
schieden, dass auch ausländischeVer-
sandapotheken in Deutschland eine
Chance haben müssen, weshalb sie auf
verschreibungspflichtigen Medikamen-
ten Rabatte geben dürfen.
Der deutsche Gesundheitsminister,
Jens Spahn (CDU), hatte nun Ende
2018 als Antwortauf das Gerichts-
urteil einenKompromissentwurf vor-
gelegt. Doc Morrisund andereVer-
sender sollten höchstens einen Bonus
von €2.50 jeVerschreibung geben dür-
fen. Diesents pricht auch dem Niveau,
das Doc Morris derzeit in vielenFäl-
len einräumt.Der Preiswettbewerb aus
demAusland und zwischen denVer-
sandhändlern hätte man so zwar einge-
schränkt, doch hätte Doc Morris nach
eigenem Bekunden damitlebenkön-
nen. Nun ist derMinister aber den
Inte ressen der etablierten Apotheker
entgegengekommen und will die Ra-
batte ganz verbieten.Dazu hat er einen
Trick angewandt:Das Verbot derRa-
batte wird statt ins Arzneimittelrecht
in die Sozialgesetzgebung geschrieben.
Dahinter steckt die Idee, dass Brüs-
sel im Sozialbereich den EU-Ländern
nichtsvorzuschreiben hat – und dieRe-
gel damit schlucken müsste.


Zweiklassengesellschaft


Ob das Gesetz in der vorgeschlagenen
Form aberkommt,bleibt offen.Die SPD
ist gegenüber demVersandhandel offe-
ner als Spahns CDU. Sie hat dem Ge-
sundheitsminister laut «Handelsblatt»
abgerungen,dass er in einem nächsten
Schritt mit der EU-Kommission abklärt,
obdas Gesetz mit denRegeln des Bin-
nenmarktes vereinbar ist.
Zu erwarten istferner, dassDoc
Morris gegen einRabattverbot kla-
gen würde, sollte es vomdeutschen
Bundestag verabschiedet werden. Im
Momentsind ihr die Hände gebun-
den: Doc Morris kann die Gespräche
der deutschenRegierung mit der EU-
Kommission unddas Gesetzgebungs-
verfahren nur abwarten.Das geplante
Bonusverbot soll für gesetzlichVersi-
cherte, nicht aber für Privatversicherte
gelten, die inDeutschland etwa 11%
an allenVersicherten ausmachen.Ihnen
traut man offenbar eine mündigeEnt-
scheidung zu, die gesetzlichVersicher-
ten dagegen müssen vor Boni «ge-
schützt» werden– ein seltsamesVer-
ständnis des Gesetzgebers.

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