Neue Zürcher Zeitung - 22.07.2019

(Greg DeLong) #1

Montag, 22. Juli 2019 ∙Nr. 167∙240.Jg. AZ 8021Zürich∙Fr. 4.90 ∙€4.


Wunsch nach Gemeinschaft: Warum wir die Idee der Stadt so faszinierend finden Seite 8


Selenskis Partei


gewinnt überle gen


Der ukraini sche Präsident domini ert Parlamentswahl


Die Partei Diener desVolkes
erhält mehr als 40 Prozent
der Stimmen.Wolodimir Selenski
wird aber voraussichtlich
auf einenKoalitionspartner
angewiesen sein.

MARKUSACKERET,MOSKAU

Zum dritten Mal binnen vier Monaten
habenamSonntaginderUkraineWahlen
stattgefunden. Diesmal waren die Ukrai-
ner dazu aufgerufen, dasParlament, die
WerchownaRada,neuzuwählen.Erneut
triumphierteWolodimir Selenski, der im
Frühjahr neu gewählte Präsident und
politischeAussenseiter.Seine inWindes-
eileentst andeneParteiDienerdesVolkes
(Sluha Narodu) gewann dieWahl überle-
gen, wie erste Prognosen zeigten. Dem-
nach entfielen auf ihreParteiliste mehr
als 40 Prozent der Stimmen.
Alle anderenParteien mussten sich,
wie erwartet, mit weitaus bescheidene-
ren Ergebnissen begnügen. Die nach
Russland ausgerichtete Oppositions-
plattformFür das Leben kann mit gut
11 P rozent rechnen, es folgen diePar-
tei Europäische Solidarität des frühe-
ren PräsidentenPetro Poroschenko und
die Partei Vaterland (Batkiwschtschina)
von Julia Timoschenko. Auch diePartei
Stimme (Holos) desRocksängersSwja-
toslawWakartschuk überwand dieFünf-
Prozent-Hürde.

Im ganz en Land erfolgreich


Das Resultat ist ein auf den ersten Blick
grosser Erfolg füreine Partei,dieeigent-
lich erst als Hülle existiert.Auf den
zweiten Blickrelativiert sich das Ergeb-
nis aber insofern, als dieWerchowna
Rada nur zur Hälfte überParteilisten
gewählt wird.225 Sitze werden so verge-
ben. Für die andere Hälfte sind Einzel-
wahlkreise bestimmend.Gewählt wurde
in 199 Wahlkreisen; 26 sind wegen des
Kriegs im Donbass vorläufig unbesetzt.
In den Einzelwahlkreisen traten zwar
auchVertreter von Sluha Narodu an,
aberausKnappheitanKandidatennicht
überall. Zudemkommen dieWahlkreise
traditionell den länger verwurzelten, oft
mit lokal einflussreichenPersonen ver-
bundenen altgedientenPolitikern ent-
gegen. Erste Ergebnisse deuten aller-
dingsdaraufhin,dassdieWählerauchda
of t einen Bruch mit derVergangenheit
wollten–wasdenmeistwenigbekannten
Unternehmern,Aktivisten,Journalisten
oderKulturschaffenden, die für Selens-
kis Partei antraten, entgegenkam.
Erneut gelanges auch, im ganzen
Land erfolgreich zu sein. Sluha Narodu
belegte in allen vier Grossregionen den
ersten Platz. Erst danach zeigt sich eine
deutliche Spaltung: Wä hrend imWesten
und im ZentrumWakartschuksPartei,
diejenigePoroschenkos und diejenige
Timoschenkos die weiteren Plätze beleg-
ten, erzielten im Osten und Südosten–
dem traditionell eher nachRussland
ausgerichtetenLandesteil – die Oppo-
sitionsplattform und weitere prorussi-
sche Parteien die bestenResultate. Die
Oppositionsplattform des persönlichen

Freundes von Wladimir Putin,Wiktor
Medwedtschuk, hatte bis kurz vor der
Wahl Unterstützung aus dem Kreml be-
kommen.

Bruch mit derVergangenheit


Selenski zeigte sich vor seinen Anhän-
gern zufrieden. Bestätigen sich die ers-
ten Prognosen, verpasst seinePartei re-
lativ knappdie Mehrheit. Sie ist damit
auf einenKoalitionspartnerangewiesen.
Diesenkönnte sie inWakartschuksPar-
tei Holos (Stimme) finden.
DiezweiRundenderPräsidentschafts-
wahl imFrühjahr hatten zwar den ent-
scheidenden Impuls für den politischen
Kurs des osteuropäischenLandes ge-
geben. Mit dem Schauspieler und Unter-
haltungsunternehmerSelenskihattendie
Bürger haushoch für einen klaren Bruch
mit der bisherigenPolitik votiert. Für die
Umsetzung benötigt Selenski aber das
Parlament,dasinderUkrainediewesent-
lichen Züge der Innen- undWirtschafts-
politik festlegt.
Das sich abzeichnende Ergebnis der
Wahl zeigt auch hier einen klaren Bruch
mit der Vergangenheit:Die meistenPar-
lamentarier werden zum ersten Mal in
derWerchownaRada sitzen. EineReihe
von in den vergangenen fünfJahren ein-
flussreichenPolitikern und derenPar-
teien verschwinden sang- und klanglos –
unter anderem jene der beiden Minister-
präsidenten unterPoroschenko,Arseni
Jazenjuk undWolodimir Hroisman.
Für Selenski wird es nicht gemüt-
licher. Zwar ist er jetzt eher als zuvor
in derLage, die enormen Hoffnungen
in der Bevölkerung zu erfüllen.Aber er
muss auch etwas liefern. Ein politisch
noch unbefleckter, unabhängiger Öko-
nom soll ihn als Ministerpräsident bei
der Umsetzung seiner noch sehr wenig
konkretenVorhaben unterstützen. An-
gesichts der so disparatenWählerschaft
dürfte das schnell für Enttäuschungen
sorgen. Und letztlich kann er sich trotz
diesem überwältigendenWahlsieg auch
der Macht seiner eigenenPartei nicht si-
che r sein: Gerade weil sie so viele bis-
her unpolitische, ungebundeneKöpfe
vereint und ihr eine eindeutige inhalt-
licheAusrichtung fehlt, wird es schwie-
rig sein, sie auch bei unpopulären Ent-
scheidungen zusammenzuhalten.

Die Schattenseiten des «Trotti»-Booms


Tretroller mit Elektromotor liegen im Trend, bergen aber auch ein Unfallrisiko


scf.·Wer sich einmal mit einem E-Trot-
tinett mitten durch den Stadtverkehr
schlängeln musste, weiss: Zwischen
Trams, Lkw undAutos kann man sich
sehr einsam fühlen – und ungeschützt.
Dennoch ist in den grossen Schweizer
Städten ein riesiger Boom um dieTret-
roller losgebrochen. So auch in Zürich,
wo gleich vierFirmen umKunden strei-
ten – mit insgesamt1500 Fahrzeugen.
Gleichzeitigsteigt die Zahl der Un-
fälle mit E-« Trottis».ImApril etwa kam
im KantonWallis ein 32-Jähriger ums
Leben, nachdem er dieKontrolle über
sein Fahrzeug verloren hatte. Und Ende


Mai gerieten inBasel zwei alkoholisierte
Männer mit einem E-Scooter zwischen
zweiTrams. Ihre Fahrt endete im Spi-
tal. Laut einem Medienberichtrechnet
die Schweizerische Unfallversicherungs-
anstalt (Suva) zurzeit mit durchschnitt-
lich 66 E-Trott inett-Unfällen proJahr.
Angesichts dieser Entwicklung wird
der Ruf nach mehrRegeln laut. Der
SchweizerischeStädteverband fordert in
der «NZZ am Sonntag» den Bund dazu
auf, neuartige Gefährte nicht mehr auto-
matisch denFahrrädern gleichzustellen.
Im Nationalrat wiederum ist einVor-
stoss hängig, der eineAuslegeordnung

für Fahrzeuge desLangsamverkehrs for-
dert. Andere Politiker hingegen wollen
eine Helmtragepflicht für E-Scooter.
AuchfürdieStadtZürichistdierasante
Entwicklung der stationslos vermiete-
ten E-«Trottis» eine Herausforderung.
In ihrem Bericht «Stadtverkehr 2025»
heisst es, man würde den Boom «inten-
siv beobachten». Gleichzeitig wurde be-
reits gehandelt. Seit April diesesJahres
müssenVerleiher vonVelos, E-Bikes und
TretrollernbeiderStadteineBewilligung
einholen–undfürjedesFahrzeugmonat-
lich 10Franken bezahlen.
Zürich undRegion, Seite 12, 13

JOËL HUNN / NZZ

Mit Albert Rösti


auf der Alp


WelcheFolgen hat die Klimapolitik für die landwirtschaftliche Produktion?
Was hält einLandwirt von veganem Käse?Wie CO 2 -freundlich ist das Leben auf der
Alp ?AlbertRösti besucht seinen älteren Bruder HansRösti (rechts) auf der Alp
Ueschinen oberhalb von Kandersteg,wo derBauer seinVieh sömmert – und
gibt landwirtschaftlichen Anschauungsunterricht. Schweiz, Seite 9

QUELLE: NATIONALE EXIT-POLL NZZVisuals/cke.

Parlamentswahl in der Ukraine 2019
Vorläufige Anteile bei den Listenstimmen
In Prozent

11,

8,

7,

6,

Diener desVolkes (Selenski)

Oppositionsplattform (Boiko/Medwedtschuk)

Europäische Solidarität (Poroschenko)

Vaterland (Timoschenko)

Stimme (Wakartschuk)

44,

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