Neue Zürcher Zeitung - 22.07.2019

(Greg DeLong) #1

10 SCHWEIZ Montag, 22. Juli 2019


BLICK ZURÜCK


Der Kommunistenfresser mit der Fliege


Wie Peter Sager mit seinem1959 gegründeten Schweizerischen Ost- Institut vor der roten Gefahr warnte


Seine Kritiker sahen in ihm den


Inbegriff des «kalten Kriegers».


Der BernerPeter Sager, der den


Diskurs über den Ostblock in der


Schweiz massgeblich mitgeprägt


hat, verstand sich indes stets als


Verteidiger der Demokratie.


MARC TRIBELHORN


Am Anfang vonPeter Sagers Mission
stehtAdolf Hitler.Wie konnte es sein,
dass gescheite Staatsmänner die Gefahr
unterschätzten, die von diesemVer-
brecher ausging?, fragt sich der18-jäh-
rige Berner, als er1943 «Mein Kampf»
liest. Darin hat Hitler bereits1925 seine
Pläne und Absichten festgehalten. Man
hä tte es also nicht nur wissenkönnen,
sondern müssen! Als dann wenig später
die RoteArmee westwärtsrollt,beginnt
Sager sich für die Schriften Lenins und
Stalins zu interessieren, ganz nach der
Devise:«Wehret den Anfängen!»
Aus dem Hobby wird bald Berufung.
Sager, der Sohn eines früh verstorbenen
Brauereidirektors, widmet seinPolitik-
studium nun vor allemFragen der So-
wjetologie, opfert Zeit und Geld, um
sich massenhaft Bücher und Artikel
über Osteuropa anzuschaffen. Nach der
Dissertation und einemForschungsauf-
enthalt in Harvardkehrt Sager der aka-
demischenLaufbahn allerdings denRü-
cken: Angesichts des von den Sowjets
niedergeschlagenen Ungarnaufstands
1956 erscheint esihm unbefriedigend,
«im Elfenbeinturm nur 20 oder 30 Stu-
denten anzusprechen». Sager sucht die
grosse Bühne – und im Nu wird dieser
Schrank von einem Mann mit der cha-
rakteristischen Hornbrille und Fliege zu
einer der umstrittenstenPersönlichkei-
ten der Schweiz im Kalten Krieg.


«Geniale Einseitigkeit»


Im Sommer1959 gründet er, unterstützt
von BGB-Bundesrat Markus Feld-
mann, das Schweizerische Ost-Institut
(SOI) als nicht gewinnstrebigeAktien-
gese llschaft. Es soll sich «ganz der Er-
forschung politischer Zusammenhänge
im Überlebenskampf der Demokratien»
widmen und ein «Mittelding» zwischen
popularisierender und wissenschaft-
licherAufklärung sein. Zugleich wan-
delt er seine bis dahin private Bibliothek
mit über 12000 Bänden und 400 Zeit-
schriften in die Stiftung Schweizerische
Osteuropa-Bibliothek um. Der «Bund»
rühmt Sager im damals aufgeheizten
antikommunistischen Klima als einen
dringend benötigten «Fanatiker von ge-
radezu genialer Einseitigkeit»:Was in
Bern entstandensei, «ist so monumen-
tal, dass man fast nicht begreifen kann,
dass es sich um einWerk eines einzigen
Mannes handelt».
Das SOI ist samt Bibliothek in einer
Jugendstilvilla an derJubiläumsstrasse 41
im vornehmen Berner Kirchenfeldquar-
tier untergebracht. Bis zu 30 Mitarbeiter
mit Kenntnissenin 17 Sprachen, unter
ihnen viele Emigranten auskommu-
nistischen Staaten und Sagers Ehefrau,
arbeiten fortan in diesem aussenpoli-
tischenThink-Tank, werten über 10 00
Zeitungen und Zeitschriften aus, davon
rund400 aus dem Ostblock und China.
Die Finanzierung erfolgt über Spenden
und denVerkauf von Publikationen, die
über dieVorgänge hinter dem Eisernen
Vorhang informieren sollen. So erschei-
nen unteranderem eine Zusammenstel-
lung von übersetztenTexten («Informa-
tionsdienst»),ein«Wirtschaftsdienst» mit
Hintergründen für Unternehmer sowie
ein Pressedienst (auf Englisch,Franz ö-
sisch, Spanisch und Arabisch) für Ent-
wicklungsländer.
Sagers Flaggschiff ist indes der zwei-
wöchentlich erscheinende «Klare Blick»
(später «Zeitbild»), ein «Kampfblatt für
Freiheit, Gerechtigkeit und ein starkes
Europa», in dem er aktuelle Entwick-
lungen im Ostblock aufzeigt undkom-
mentiert,meist natürlich mit erhobenem
Mahnfinger.Auch an der «Heimatfront»


wittert er linke Subversion, bezeichnet
sich selbst als «Politarzt», der denTota-
litarismus «als Krankheitserscheinung
menschlicher Gesellschaft» zukurie-
ren helfe. Zu denFörderern des SOI ge-
hören prominente bürgerlichePoliti-
ker (etwa die früheren beziehungsweise
späteren Bundesratsmitglieder Escher,
Feldmann, Gnägi,Wahlen,Friedrich,
Furgler undKopp), Wirtschaftsführer,
Wissenschafter oder Chefredaktoren
wie die NZZ-LegendeWilly Bretscher.

NützlicheIdioten


Noch so gerne begibt sich Sager in den
kommendenJahrzehnten in den publi-
zistischen Schützengraben:Keine Ge-
legenheit lässt er ungenutzt, um sich mit
den alten und neuen Linken, mit angeb-
lich unkritischen Medienschaffenden
und naiven Pfarrherren anzulegen. Er
sucht die öffentliche Debatte mitKom-
munisten wie dem PhilosophenKonrad
Farner oder EdgarWoog, dem Gene-
ralsekretär derPartei der Arbeit, tin-
gelt durch die Provinz und hält bis zum
Fall der Mauergegen 2000 Vorträge.
Sein Mantra: Die Sowjetssind böse; die
«friedlicheKoexistenz» ist bloss «eine
Tarnung ihrer Machtpolitik». Der stets
korrekt gekleidete Gentleman mit der
Glatze wird zu einemFeindbild der Lin-
ken, insbesondere nach1968, als er die
«Hand Moskaus» auch im Kreis der auf-
müpfigenJugend, derFriedensaktivis-
ten, der Atomkraftgegner und anderer
«nützlicher Idioten» amWerk sieht.
Der personifizierte Kalte Krieg sei er,
ein glühenderKommunistenhasser, ein
Mann «auf einem Kreuzzug», ein «un-
heimlicherPatriot», tönt es von links. Das
SOI muss in derFolge zu einer kleinen
Festung umgebaut werden, weil Extre-
misten nicht nur drohen, Schmierereien
anbringen («US-Schweineraus!») und
Fäkalien zuschicken (« Tagesration für
einenFaschisten»), sondern auch einen
Brand- und einen Sprengstoffanschlag
verüben (die beide glimpflich aus-
gehen).Einmal stürmen gar sowjetische

Kameramänner in das Haus. Ein grob-
schlächtiger Betonkopf, wie ihn seine
Kritiker schimpfen, ist Sager aber nicht.
Er ist kulturell interessiert, weltoffen
und führt in Diskussionen eine feine
Klinge. Auch bestreitet er vehement,
eine denunziatorischeFichensammlung
zu unterhalten wie der freisinnige Natio-
nalrat und selbsternannte «Subversiven-
jäger» Ernst Cincera.
«Ich stehe weiter links, als die Leute
glauben», erklärt sich Sager, der ab 1983
für dieSVP im Nationalrat sitzt. Am
Marxismus gefalle ihm etwa die Dia-
lektik. Und überhaupt, meint der über-
zeugte Liberale:«Wir bekämpfenden
Kommunismus nicht als Ideologie –
auch diese Ideologie muss vertreten
werdenkönnen –,sondern als totalitäres
Herrschaftssystem.»Das Ziel sei eine
offene Gesellschaft im Sinne von Karl
Popper.«Eine Gesellschaft ist für mich
dann offen, wenn sie zulässt,dass jeder
Glaubensinhalt darin vertreten werden
kann, und zugleich verhindert, dass eine
Ideologie mit Mitteln der Gewalt durch-
gesetzt wird.»
In seinem Antitotalitarismus lässt
Sager indes gar viel Nachsicht walten
gegenüberrechten Machthabern.So ver-
tei digt er Pinochets Gewaltherrschaft in
Chile, redet dasApartheidregime in Süd-
afrika alsMitstreiter im Kampf gegen
Moskau schön oder engagiert sich für
Somoza und die Contras in Nicaragua.
«Selbstverständlich bin auch ich Gegner
der Rechtsdiktaturen.» Nu r best ehe dort
stets die Chance, den Diktator zu stür-
zen, derweil sich einkommunistisches
System in absehbarer Zeit nicht über-
winden lasse, behauptet er.Auf Kritik
reagiert er dünnhäutig und prozessiert
mitunter wegenEhrverletzung. Gegen
die seiner Meinung nach«ideologisch-
manipulative Berichterstattung» des
SchweizerRadios undFernsehens geht
er mit eigenen «Medienanalysen» vor,
die jedoch wissenschaftliche Standards
vermissen lassen.
Als das Sowjetimperium implo-
diert, sieht sich Sager, der 1987 erstmals

nachRussland gereist ist, auf der gan-
zen Linie bestätigt.Dass er die«Wende»
erleben dürfe,sei «das unverhoffte Ge-
schenkeinesgnädigen Schicksals». Seine
neuenFeinde sitzen nun in den eigenen
Reihen. ImParlament hat sich Sager als
Aussenpolitiker einen Namen gemacht
und – gegen seinePartei – stets für den
Uno-Beitritt sowie einestärk ereAnbin-
dung an Europa plädiert. DenReform-
kurs von Gorbatschow hat er mit sei-
nem SOI früh unterstützt, was nicht alle
Antikommunistengoutieren. So spottet
der rechtsbürgerliche«Trumpf Buur» in
Inseraten über die«Russenfresser», die
nun plötzlich«das Hohelied von Glas-
nost undPerestroika singen».

Blocher als«Katastrophe»


1991 tritt eraus dem Nationalrat und aus
der SVP aus , vor allem wegen Christoph
Blocher, den er für «eine entsetzliche
Katastrophe» hält. «Er hat die Schweiz
in die Isolation manövriert», resümiert
er später. Sager zieht für einigeJahre
nach Irland, wo er seine Memoiren ver-
fasst und sich Problemen der Ökologie
widmet.Sein Lebenswerk,das SOI,wird
als Informationsdienst über denkom-
munistischen Osten1994 eingestellt.Die
inzwischen auf weit über 100000Bände
angewachsene Bibliothek wird1997 in
die Berner Universitätsbibliothek inte-
griert. In einem Interview bilanziert
Peter Sager, der 2006 im Alter von 81
Jahren stirbt: «Ich hätte mir auch ande-
resvorstellenkönnen, als mich ein Le-
ben lang mitKommunismus zu beschäf-
tigen – Archäologie hat mich immer
interessiert.»

Kampf für die «offene Gesellschaft»:Peter Sager posiert imAugust 1959 in der Bibliothek des Ost-Instituts. PHOTOPRESS-ARCHIV / KEYSTONE

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JedeWoche beleuchtet
die NZZ ein historisches Ereignis.
DieBeiträge der Serie finden Sie auf:

nzz.ch/schweiz

«Die Schweiz


ist nicht voll»


Der oberst e Touristiker
Martin Nydegger gibt Gegensteuer

ANGELIKA HARDEGGER

In St.Moritz werdenTeile des Dor-
fes abgeriegelt, weil ein indischesPaar
mit 850 GästenPolterabend feiert.Aus
Luzern berichten die Medien von einer
«China-Welle», als im Mai 12000 Besu-
cher aus demReich der Mitte anreisen.
In Interlaken sagen Einheimische,man
«prostituiere» sich für die arabischen
Gäste. Steht die Schweiz kurz vor dem
touristischen Overkill?
Nein, sagt Martin Nydegger,der
obersteVerkäufer desTourismuslandes
Schweiz: «Die Schweiz ist nicht voll.»
Nydegger ist Direktor der nationalen
Werbeorganisation SchweizTourismus.
In der «Samstagsrundschau» vonRadio
SRF wehrte er sich gegen die Idee, dass
die Schweizein Problem mit zu vielen
Touristen habe. Es gelte, die Befindlich-
keiten der Einheimischen ernst zu neh-
men.Aber über dasJahr und das ganze
Land gesehen habe die Schweiz nicht zu
viele Gäste.

Die Folgen der Krise


Tatsächlich gehtes demTourismus nicht
überall gut.Zwar befindet sich die Bran-
che imAufwind.Aber während Hoch-
burgen wie Luzern oder Interlaken über
«Overtourism» debattieren,leiden Berg-
destinationen noch immer unter den
Folgen derFinanz- und Euro-Krise. Seit
2008 hat die Schweiz über die Hälfte der
europäischen Gäste verloren.Vor allem
Deutsche verzichteten aufFerien in der
Schweiz. DieseAusfälle habe man teil-
weise mit Gästen aus Überseekompen-
siert, sagt Nydegger. «Ich mag mirkeine
Schweiz ausmalen, in der wir das nicht
hätten tunkönnen.» DieWahrnehmung
von Gästen aus fernen Märkten führt
der Schweiz-Tourismus-Direktor auch
auf einen optischen Effekt zurück. Chi-
nesische und indische Gäste fielen mehr
auf alsTouristen aus Europa oder Ame-
rika.Dabei seien Letztgenannte noch
immer in der Mehrheit.
Die Kritik aus den Hochburgen
könnte politischeFolgen haben. Das
Parlament diskutiert derzeit darüber,
wie viel Geld SchweizTourismus in den
kommendenJahren vom Bund erhalten


  • und welche Leistungen die Organisa-
    tion dafür erbringen soll. Die Subven-
    tion en des Bundes machen rund zwei
    Drittel des Budgets von SchweizTou-
    rismus aus.


SP fordert «Europa first»


Die SP fordert für die kommenden
Jahre eine «Europa first»-Strategie. Im
Leistungsauftrag des Bundes solle fest-
gehalten werden, «dass der Anteil der
Gäste aus denFernmärkten gegenüber
jenem derReisenden aus den europäi-
schen Nahmärkten nicht mehr gesteigert
werden darf». Ersonnen hat dasPosi-
tionspapier der SP der Berner Stände-
rat Hans Stöckli. Er störte sich jüngst
in einem Interview mit der NZZ daran,
«dass an vielen touristischen Hotspots
die asiatischenTouristen ihre Mahlzei-
ten in gesondertenRäumen und ge-
trenntvon den Individualtouristen ein-
nehmen». Die Schweiz habe eine«touris-
tische Zweiklassengesellschaft»,zudem
schadeten Gäste aus fernen Märkten der
Umwelt mehr alsReisende aus Europa.
Tatsächlich will SchweizTourismus in
den kommendenJahren wieder mehr in
den europäischen Markt investieren.Für
die Zeit ab 2020 planen dieWerbereine
grossangelegte Kampagne für europäi-
sche Gäste. In Gruppenreisen von chi-
nesischenTouristen investiert Schweiz
Tourismus laut Martin Nydegger der-
zeit «keinenFranken».

Martin Nydegger
Direktorvon
KEYSTONE SchweizTourismus
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