Neue Zürcher Zeitung - 22.07.2019

(Greg DeLong) #1

Montag, 22. Juli 2019 ZÜRICH UNDREGION


Das Tier-Trotti fällt
durch seine türkise Farbe auf.

wertvolle Minutenkostet. Beim ers-
ten Versuch vor dem Airgate in Oerli-
kon die Ernüchterung:Das Gerät steht
nicht da, wo es laut App sein sollte.Auf
der Suche nach einem fahrbaren Unter-
satz sehen wir aus wie verwirrtePoké-
mon-Go-Spieler.
Alsorasch ins 10er-Tram, denn der
nächsteTretrollerauf unserer Route
befindet sich in der Nähe des Milch-
bucks. Doch auch hier istkein Trotti in
Sicht.Wir hatten es beim Einsteigen ins
Tram nichtreserviert, weil wir mehr als
einen Kilometer entfernt waren, diese
Grenze gibt die App vor.Wieder steht
das nächste geladeneFahrzeug zu weit
weg für einen kurzenFussmarsch.
Unser Handy hatte beimVerlassen
des Hauses noch 35 Prozent Akku. Und
als wir beim Hauptbahnhof ankommen,
um immerhin noch die letzte Strecke mit
dem Tretroller zu absolvieren, sind wir,
auch wegen der permanenten Standort-
suche, noch bei 10 Prozent. In3Minu-
ten sind wir dann am Stadelhofen – aber
nu r, weil wir die S-Bahn benutzen.


Anbieter 3:Tier


Dasdeutsche StartupTier ist seit Mai in
Zürich präsent,mit derzeit 600 schwarz-
türkisenScootern. InBasel sind es 200.
Auch beiTier kostet das Entsperren des
Geräts1Franken, für jedeFahrminute
werden 30Rappen verrechnet. Eine be-
auftragteFirma sammelt dieTrottis täg-
lich ein, lädt,reinigt und unterhält sie.
Ab 22 Uhr sindkeine Tier-T retroller
mehr auf den Strassen. Sie werden erst
um 7Uhr morgens wieder verteilt –
dort, wo sie gemäss eigenerDatenaus-
wertung am meisten gebraucht werden.
Der Akkureicht lautFirmenangabe
für 40 bis 50 Kilometer. Laut dem Unter-
nehmen will man erst dann die Flotte
vergrössern, wenn eine entsprechende
Nachfrageda ist – und die Stadt eine sol-
che Erweiterung erlaubt.Wie vieleFahr-
ten imDurchschnitt proTag undTrotti
getätigt werden, will dieFirma wie ihre
Konkurrenten derzeit nicht sagen. Nur
so viel:«Zürich lohnt sich, die Zahlen
sind gut.» Apropos Zahlen, auch hier
betont man, dasskeine Daten an Dritte
weitergegeben würden.Das Material
werde anonymisiert, man führe auch
keine Routenprotokolle.


Tier im Test


Die Benutzung derTier-App erfordert
die Eingabe einigerDaten: Nebst einer
E-Mail-Adresse muss man auch die
Handynummer angeben, was für einige
sicher eine zusätzliche Hürde darstellt.
Auf Anfrage heisst es,man wolleüber
zweiWege sicherstellen,dass eine «reale
Person» die App verwende.
Nach der Eingabe vonVor- und
Nachname,dem Akzeptierender AGB
und dem Hinterlegen der Zahlungs-
methode geht es los. Das Freischalten
des Scooters funktioniert ausschliess-
lich über das Handy, das Einscannen
eines QR-Codes ist nicht erforderlich.
Um das Gerät vomTrottoir auf den
Velostreifen zu hieven, braucht es etwas
Muskelkraft, denn dasFahrzeug ist –
wie bei den anderen Anbietern auch –
ziemlich schwer. Um loszufahren, müs-
sen wir selbst ein paarTritte Anschub
leisten, erst dann gibt dasFahrzeug mit-
tels Daumenschalter Gas.
Das Trotti fährt ziemlich ruhig und
verfügt über zwei Bremsen.Was aber
fehlt, ist eine Glocke. Bei derTestfahrt
entlang des Limmatquais wäre eine sol-
che vonnöten gewesen, da andauernd
Passanten in die Strasse laufen, ohne
auf denVerkehr zu achten.Ausgecheckt
haben wir auch hier via App. Für eine
Fahrtzeit von 12 Minuten wurden uns 4
Franken 60 verrechnet.


Tram contraTrotti


Sind E-Scooter eigentlich eine Ergän-
zung zum öV oder bloss Spielzeuge?
Und sind die motorisiertenTrottinette
schneller als dasTram? UnsereTeststre-
cke führte vom Opernhaus zumHaupt-
bahnhof. Die Fahrt beginnt wie ein
Spiessrutenlauf:Nicht derTramschiene
zum Opfer fallen, keinen peinlichen
Crash produzieren, lautetdie Devise.
DasTram vor uns hält gefühlt alle 300
Meter. Ein Überholversuch scheitert,
weil wir mit einer Höchstgeschwindig-
keit von 20 km/h zu langsam sind.
Insgesamt stellt die Beschleunigung
eine Herausforderung dar. Schaffe ich


es zwischen denTrams hindurch? Kann
ich mich noch vor diesemAuto in die
Kolonne einreihen? Im Zweifelsfall lau-
tet die Antwort: nein. Denn während
man beimVelo ordentlich in diePedale
treten kann,um einen Bus zu überholen,
ist man hier mit den besagten 20 km/h
schon sehreingeschränkt.
Unsere Fahrt geht schliesslich bei
einemVeloständer am HB zu Ende
und dauerte8Minuten und 50 Sekun-
den. Die Reise mit demTram dauerte
ungefähr gleich lange. Schneller ist man
also mit dem E-Trott inett nicht – und die
Fahrt ist teurer. DasTram schlägt mit 2
Franken 70 zu Buche (Kurzstrecken-Bil-
lett, Vollpreis), dieFahrt mit dem Scoo-
ter (Anbieter:Tier) kostet 3Franken 70.

Anbieter4: Voi


Voi ist als einziger der hier beschriebe-
nenAnbieter erst inWinterthur präsent,
und zwar mit rund 100 Geräten. Als
Parkfläche steht dabei nur die Innen-
stadt zurVerfügung. Mit der jetzigen
Obergrenze von 100Fahrzeugen sei es
nicht möglich, die ganze Stadt ideal ab-
zudecken.Das Unternehmen würde laut
eigenenAngaben daher gern noch mehr
Scoo ter a nbieten. Der Markteintritt in
Zürich folgt wohl nicht vor Ende Som-
mer, da sich dieFirma auf Deutschland
konzentrieren will.Das schwedische
Unternehmen ist in seinenHeimmärk-
ten in Skandinavien die Nummer eins
und will das nun auf dem ganzenKon-
tinent werden.
Der Anbieter betont seine euro-
päischeFirmen-DNA im Umgang mit
Daten – man nutze das Minimum, das
man für den Geschäftsbetriebbra u-
che, und halte sich an die europäischen
Datenschutzbestimmungen.Voi lässt
die Tretroller inWinterthur von einer
lokalenFirma aufladen und warten.
Diese nimmt sie jeweils abends um 21
Uhr von den Strassen und stellt sie um
7Uhr morgens geladen wieder auf. Eine
Fahrt kostet wie bei Circ eine Startge-
bühr von1Franken und danach 25Rap-
pen pro Minute.

Voi imTest


Die App funktioniert problemlos. Auch
hier gilt es zunächst, den QR-Code zu
scannen,bevor man losfahren kann.Die
Handhabung ist gewöhnungsbedürftig:
Bei Voi wird über einenDaumenschal-
ter nicht nur beschleunigt,sondern auch
gebremst.Auch hier braucht es ein,zwei
Versuche, bis der Motor wirklich an-
zieht.DasTrott i denkt bei derFahrt mit.
Wenn man sich in einem Bereich befin-
det, in dem nicht gefahren werden darf,
stellt der Motor ab.
Die Vorderradbremse leistet einen
ordentlichen Dienst, die manuelle
Bremse auf dem Hinterrad aberreicht
allein nicht aus, wenn man bergab fährt.
Insgesamtkommen wir in unseremTest
tatsächlich zügig vonA nachB. Das Ein-
und Auschecken funktioniert wie ge-
wünscht. Zum Schluss muss man auch
bei Voi ein Bild seines parkierten E-
Scooters machen. Unsere 13 Minuten
langeReise hat 4Franken 50 gekostet.

Fazit


Die E-Trott inette in Zürich undWinter-
thur sind in gewissen Situationen nütz-
lich.So etwa,wenn man schweissfrei von
A nach Bkommen will oder einem das
Tram vor der Nase abgefahren ist und
man dringend an ein Meeting sollte.
Preislich aberkönnen die Scooter nicht
mit dem öffentlichenVerkehr mithalten.
Vor allem bei einer längerenReise läp-
pert sich die Summe, die von der Kre-
ditkarte abgebuchtwird. Hinzukommt,
dass einige Anbieter ihre Geräte nachts
aus demVerkehr ziehen –also genau
dann, wenn sie eigentlich eine echte Al-
ternative zum öV bietenkönnten.
ZumFahrkomfort:Auf freier, glat-
ter und gerader Strecke macht dasFah-
renmit den E-Trott inetten Spass,nicht
zuletzt, weil ihre Motoren anstän-
dig beschleunigen. Sobald die Piste je-
doch etwas unebener wird, ist dasVelo
im Vorteil. Denn über die kleinenRä-
der derTretroller schüttelt es dieFah-
rer ziemlich durch.Auch das Anzei-
gen von Richtungswechseln wird zur
Zitterpartie. Denn mit nur einer Hand
am Lenker fühlt man sich ziemlich un-
sicher. Dasselbe gilt mitten imVerkehr,
zwischenLastwagen,Autos undTrolley-
bussen.

DenVoi-Scooter gibt es
nur inWinterthur zu fahren.

BILDER JOËL HUNN / NZZ

Heidi ist auch


eine Japanerin


Was die Zeich entrickserie und die
Spyri-Romane gemeinsam haben

ADI KÄLIN

Man fragt sich ja oft, mit welchen Bil-
dern asiatische Gäste in dieSchweiz
reisen. Wir befürchten, dass es vor
allem jene sind, die auch dieTourismus-
industrie am liebsten vermarktet,also
eindrückliche Berge, idyllischeLand-
schaften, permanenter Sonnenschein
und glückliche Alpenbewohner. Neus-
tens wissen wir, dass viele dieser Bilder
einem erfolgreichen japanischenAnime,
also einer Zeichentrickserie, mit dem
Namen «Alpenmädchen Heidi» ent-
nommensind.

IdealisierteGegenwelt


Das Landesmuseum zeigt derzeit eine
kleineAusstellung über diesenspeziel-
len Kulturaustausch. Die Schau ist in
Zusammenarbeit mit der Universität
Zürich und einem japanischen Exper-
tenteam entstanden. Man erfährt bei-
spielsweise, dass die 52-teilige Heidi-
Serie ein idealisierter Gegenentwurf
zur stark boomenden japanischenWirt-
schaft und Gesellschaft in den siebziger
Jahren war.Auch Johanna Spyris Origi-
nal war schon ein solcher Gegenentwurf


  • einfach knapp hundertJahre früher,
    bezogen auf dierasante Umgestaltung
    der Schweiz und der Stadt Zürich.
    Kreiert wurde «Alpenmädchen
    Heidi»1974 von vier jungen Männern,
    von denen zwei später das weltberühmte
    Studio Ghiblimitbegründeten.Die Serie
    stand also auch am Anfang des Sieges-
    zugs der japanischen Animes. «Alpen-
    mädchen Heidi» wurde zum weltweiten
    Erfolg und fand über die Bildschirme
    zurü ck in die Schweiz.Wer sich noch
    vertiefter mit Heidi und deren Schöp-
    feri n Johanna Spyri auseinandersetzen
    will, besucht am besten das kleine, aber
    sehr sorgfältig gestalteteJohanna-Spyri-
    Museum in Hirzel.DieAusstellung ist in
    zweiTeile gegliedert; einer befasst sich
    mit denJugendjahren auf dem Hirzel,
    der andere mit der ZeitJohanna Spy-
    ris als «Frau Stadtschreiber» und Schrift-
    stellerin in Zürich.1868 wurde Bern-
    hard Spyri,ihr Ehemann, zum Zürcher
    Stadtschreiber gewählt,worauf dasPaar
    mit seinem 13-jährigen Sohn ins dama-
    lige Stadthaus beimBauschänzli zog. Es
    war kein idyllischer Ort. Die ganze Um-
    gebung wurde in den folgendenJahren
    richtiggehend umgepflügt:Das ganze
    Kratzquartier,zu dem auch das Stadt-
    haus gehörte, wurde niedergewalzt, um
    Platz zu machen für Börse, National-
    bank und die heutige Stadthausanlage.


UnglaublicherErfolg


Hinter dem Haus vonJohanna Spyri
wurde der Quaiaufgeschüttet und die
neue Quaibrücke erstellt. In einem
Brief beklagt sie1882 ihre Situation:
«Du hastkeinen Begriff, was jetzt von
Morgens6Uhr bisAbends 7Uhr stets
fort für ein Gehämmer u. Geklopfe ist
hier vor meinemFenster auf dem einst
so wunderschönen Stadthausplatz, dazu
dringt immer fort ein solcher Gestank
von Theer u. Steinkohlen herein, dass es
keine Freude mehr ist, da zu sitzen.» In
dieser Umgebung entstanden die Bücher
über dasWaisenmädchen und die idyl-
lischen Alpen der Bündner Herrschaft.
1885 zogJohanna Spyri in eine neue
Wohnung an derBahnhofstrasse und
wechselte schliesslich an den Zeltweg.
Die Heidi-Bücher («Heidis Lehr- und
Wanderjahre», 1880, «Heidi kann brau-
chen, was es gelernt hat», 1881) wur-
den zum grossen Erfolg: In über fünf-
zig Sprachen wurden sie übersetzt, in
den zwanzigerJahren auch erstmals auf
Japanisch. Später entstanden zahlrei-
che Heidi-Filme; zuletzt etwa jener von
Alain Gsponer mit dem unlängst ver-
storbenen Bruno Ganz als Alpöhi. Und
selbstverständlich wird die Heidi-Figur
von der Tourismusindustrierege als
Werbemittel eingesetzt:Im Heidiland
gibt es eine nach Heidi benannteAuto-
bahnraststätte und in Maienfeld eine an-
gebliche Original-Alphütte, die zu einer
regelrechten Pilgerstätte geworden ist.
Wir vermuten mal,auch fürJapanerin-
nen undJapaner.
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