Neue Zürcher Zeitung - 22.07.2019

(Greg DeLong) #1
Montag, 22. Juli 2019 FEUILLETON 25

Der Schriftsteller Mia Couto passiert scheinbar mühelos


Grenzen zwischen Ländern, Kulturen und Epochen SEITE 26


Ágnes Heller hat einen langen intellektuellen Weg


zurückgelegt–nun ist sie 90-jährig gestorbenSEITE 27


Unter den Pharaonen ging’s schneller


Zwei gigantische neue Museen harren in Kairo seit Jahren ihrer Eröffnung – und das alte ist inzwischen selbst museumsreif


SUSANNA PETRIN, KAIRO


Das Nationalmuseum der ägyptischen
Zivilisation in Kairohat alles, was ein
Museum sich nur wünschen kann – und
mehr: zehnAusstellungssäle,einThea-
ter, ein 3-D-Kino, einen grossen und
einen kleinenKonferenzraum, einen
VIP-Salon,Laboratorien, eine Drucke-
rei, Cafeterias, 300 Garderobenkästen,
einenParkplatz für 500Autos, ja sogar
einen See. Rund 130 000 Quadratmeter
Fläche beansprucht das Museum samt
Umschwung. 300Angestelltearbeiten
in den Büroräumen im Untergeschoss,
unter ihnen rund 70Wissenschafter.
Dieses Museum hat aber ein nicht
unwesentliches Problem: Es ist nicht ge-
öffnet. Es steht lediglich kurz vor der Er-
öffnung. Und das schon seit vielenJah-
ren. DieTheater-,Kino- undKonferenz-
räume stehen so parat wie ungenutzt;
man kann sie mieten,wasbisher aber
selten geschah. Ein einzigerAusstel-
lungsraum von zehn wurde Anfang 20 17
für eine temporäreSchau teileröffnet; ei-
nige hundert Objekte sind darin zusam-
mengestellt,um, so scheint es, nach all
denJahren wenigstens etwas herzeigen
zukönnen. Sogar amWochenende hat
eine Besucherin diesen Saal allerdings
für sichallein: «Ich habe mich gefühlt
wie der erste Mensch, der den Mond be-
sichtigt», kommentiert eineFrau auf der
Facebook-Seite des Museums.
Die restlichen neunAusstellungs-
räume sindkomplett leer; noch wird
daringehämmert, geschliffen und ge-
malt. Einmal fertiggestellt und einge-
richtet,sollen hier 5 000 Jahre ägypti-
scher Zivilisationsgeschichte anhand
von rund 50 000 Artefakten vermit-
telt werden – von der frühdynastischen
Periode bis heute. Man wagt gar nicht
daran zu denken, wie viel allein dieKüh-
lung des seitJahren halbleeren Gebäu-
deskostet, von den laufendenPersonal-
kosten ganz zu schweigen.


«Das Museum ist zu 90 Prozent fer-
tig», sagtKurator Sayed Abuelfadl. Zu-
sammen mitFayrouzFekry, der Leite-
rin der Abteilung für internationale Be-
ziehungen des NMEC– sodas englische
Kürzel für die Institution –, führterdie
Besucherin durch das Haus; lüftet da
eine Plastikplane, öffnet hier eineTüre.
Alles ist von feinster Qualität: moderne
Designermöbel, Granitspülbecken, edle
Holztäfelungen.Das Ausstellungsdesign
stammt aus der Hand von Arata Isozaki,
dem diesjährigen Pritzker-Preisträger.
Zuoberst auf dem noch nicht betretba-
renTürmchen mit Pyramidendach habe
man «eine Sicht bis auf die Zitadelle»,
schwärmt derKurator.

Direktorenparade


Fayrouz Fekry und Sayed Abuelfadl
arbeiten schon seit 2004 hier,gehören
damit zu dendienstältestenAngestell-
ten. Seit 15 Jahren harren sie der Eröff-
nung. Man sieht ihnen dieVerzweiflung
ein wenig an, doch sie üben sich in ägyp-
tischerGeduld und Zuversicht.Bald sei
es so weit. «Ende 2021 wirddas Museum
hoffentlich eröffnet», sagt wenig später
ihr Chef, KhaledFahmy. Er leitet das
Haus seit diesemFebruar. Es ist bereits
der zwanzigste Direktor, unter demFay-
rouz und Sayed arbeiten.
Direktor Fahmy lacht: «Wirklich,
habt ihr mitgezählt, habe ich neunzehn
Vorgänger?» Er sei von Haus aus Öko-
nom und wolle nun vor allem auf die
wirtschaftliche Machbarkeit achten.
Ein neuer Businessplan wurde soeben
erarbeitet. Etwa 1,7 Milliarden ägypti-
sche Pfund, also um die 100 Millionen
Schweizerfranken, habe das NMEC bis-
her gekostet. Es dürfte noch fast eine
Milliarde Pfund mehr werden.«Wir öff-
nen dieTürefür jede Hilfe.»
KhaledFahmys Ziel:Das Haus soll
einmal selbsttragend werden. Im Unter-
grund will manLäden vermieten: Sie

sind allerdings noch nicht gebaut, die
Suche nach Interessenten beginnt erst.
Dazukommen die Eintritte: 60 0000 bis
700000 Besucherinnen und Besucher
proJahr werden erwartet; mehrheitlich
Einheimische, die immer wiederkom-
men. Denn neben derWissensvermitt-
lung will man auch dem Bedürfnis nach
Entertainment entsprechen. Hier sollen
ägyptischeFamilien ganzeTage verbrin-
gen: mit Shoppen, Shows,Essen, Boot-
fahren und Bildung.
Mumien werden die touristische
Hauptattraktion dieses Museums bil-
den. 22Königsmumien, unterihnen
Ramses II. undKönigin Hatschepsut,
sollen hier ein grosszügigeres Zuhause
finden. Eigentlich war geplant gewesen,
sie bereits diesenJuni vonihremRäum-
chen im Ägyptischen Museum amTah-
rir-Platz in die grossen Untergrundkam-
mern des NMEC überzuführen.Das
Datum wurde kurzfristig verschoben.
Voraussichtlich im Herbst soll es aber so
weit sein,sagt DirektorFahmy. Geplant
ist eineParade derKönigsmumiendurch
Kairo, gefilmtvon Helikoptern. Sind die
Mumien erst einmal angekommen,sol-
len auch die wichtigsten drei Museums-
säle bis EndeJahr öffnen.

Gross – und noch grösser


Die Planung des NMEC hatte bereits vor
vierzigJahren begonnen. Der ägyptische
Architekt El GhazzaliKosseiba gewann
Mitte der1980erJa hreden ausgeschrie-
benenWettbewerb. Ursprünglich sollte
das Museum auf der Nilinsel Zamalek
zu stehenkommen; in den neunzigerJah-
ren wurde das Projekt in den alten Stadt-
teilFustat verlegt, nahe denkoptischen
Sehenswürdigkeiten. 2002 begann man
mit demBau, 2009hätte ursprünglich die
Eröffnung stattfinden sollen. Es kam die
Revolution; auf sie folgten politische Un-
sicherheit, wirtschaftliche und finanzielle
Schwierigkeiten.

« We lches Museum, bitte?», hatte der
Taxifahrer auf derFahrt hierher ge-
fragt. Obwohl das NMEC ein Riesen-
projekt ist,wissen die meisten Kairoer
nichtsdavon. Denn diesesMuseumsteht
im Schatten eines grösseren: des Grand
Egyptian Museum (GEM). Dieser noch
gigantischere, noch viel teurereBau
wird gegenüber den Pyramiden hoch-
gezogen.Das GEM wird das neue Zu-
hauseTutanchamuns sein: Erstmals seit
Howard Carter1922 dessen Grab ent-
deckte, sollensämtliche 50 00 Grabbei-
gaben des goldenenKönigs dort aus-
gestellt werden, dazuTausende weite-
rer Objekte. Bereits in Betrieb sind die
weltweit grösstenLabors für dieRestau-
ration von Antiken.
Nebender Megalomanie hat das
GEM mit dem NMEC gemein, dass
sich die Eröffnung immer weiter hinaus-
zögert. Noch vor zweiJahren hatte der
damalige DirektorTarekTawfik auf eine
Eröffnung des Hauptteils im Herbst
2018 geschworen, nun ist die Gesamt-
eröffnung auf 2020 angesetzt. UndTaw-
fik ist inzwischen als GEM-Direktor von
einem General abgelöst worden.
Wieso nimmt sich das wirtschaft-
lich gebeutelte Ägypten zwei solch
enormeKulturprojekte fast zeitgleich
vor? Natürlich gibt es vielPotenzial –
hinsichtlich der Besucher wie auch der
vorhandenen antiken Objekte. Doch
muss es immer so überdimensioniert
sein?Wärees nicht besser, etwas klei-
nere,ausbaufähige Gebäude zu pla-
nen, diese dafür beizeiten fertigzube-
kommen? «Haben Sie in Ägypten je
etwas gesehen, das klein ist?», fragt
TatianaVillegas von der Unesco, die das
NMEC technisch und finanziell unter-
stützt, zurück. Selten. Aber vielleicht ist
diese pharaonische Denkweise nicht die
Lösung, sondern das Problem.
Zumindest ein neues Museumbraucht
es tatsächlich.Das gutealteÄgyptische
Museumist in dieJahre gekommen.

Seine Holzvitrinen sehen noch genau
so aus wie zu Zeiten seiner Eröffnung
anno1902 amTahrir-Platz. Mit etwas
Glück findet sich irgendwo ein Objekt,
das auch angeschrieben ist. Junge
Museumspädagogenkönnen hier stu-
dieren, wie sie ihrenJob nicht machen
sollen. Aber gerade dafür muss man die-
ses Haus lieben, das selber als Ganzes in
ein Museum gehörte.

Das alte Haus wirdgeplündert


Nun werden dem alten Haus die gröss-
ten Publikumsmagnete weggenommen:
Tutanchamuns goldene Grabbeigaben
ziehen ins GEM, die prominentesten
Mumien ins NMEC.Schon jetzt fallen die
vielen leeren Kästen auf; für Nachschub
aus dem chaotischen Depot imKeller
wurde noch nicht gesorgt.Wer wird das
Haus künftig noch besuchen? Sind drei
ägyptische Museen nicht etwasviel?
Das alte Museum soll bleiben. Ein
Konsortium aus fünf grossen europäi-
schen Museen, darunter das British
Museum und das Neue Museum Ber-
lin, arbeiten mit an einem neuenKon-
zept für dessen Zukunft.Das Haus soll
seinen nostalgischen Charme nicht ver-
lieren, aber moderne Standards errei-
chen. 3,1 Millionen Euro aus EU-Gel-
dern wurden bereits dafür gesprochen.
NMEC-Kurator Sayed Abuelfadl hat
eine eigene Idee:«Wir haben in Ägyp-
tens Museen fast nichts aus Europa,
auchkeineWanderausstellungen. Dort
gäbe es nun dafür Platz.»
Im GEM wie im NMEC geht es, pas-
send zum politischenTr end, nicht zuletzt
um die Stärkung des eigenen nationa-
len Selbstbewusstseins. «Wir wollen die
Ägypter stolz machen und ihnen Hoff-
nung einimpfen»,sagt der NMEC-Di-
rektor. Dafür baut Kairo nun zwei mo-
derne Pyramiden.Darunter will man es
nicht machen. Doch unter den antiken
Pharaonen ging es schneller.

Baustelle stattKulturpalast:Das Grand Egyptian Museum, das eigentlichschon vergangenesJahr hätte eröffnetwerden sollen. AHMED GOMAA / IMAGO
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