Neue Zürcher Zeitung - 22.07.2019

(Greg DeLong) #1

26 FEUILLETON Montag, 22. Juli 2019


«Wer Identität sucht, sucht ein Trugbild»


Keiner weiss das besser als Mia Couto. Er ist Schriftsteller, Wissenschafter und ein Europäer aus Afrika


Senhor Couto, wenn Sie anBeira, die
St adt Ihrer Kindheit denken –woran
denken Sie?

An das Meer. Bei Flut stieg dasWas-
ser in unsere Strasse. Undan dieTrom-
meln. In derWeihnachtsnacht feier-
ten nicht nur diePortugiesen; auch die
Schwarzen durften feiern. Sie trommel-
ten , und dieser Klang derBatucas hat
mich beeindruckt: Plötzlich tratda eine
Welt hervor, die sonst still und unsicht-
bar war. Diekoloniale Logik aller Städte
in Moçambique funktionierte in Beira
nicht. Überall sonst lagen dieViertel ge-
trennt, aber Beira ist auf Sumpf gebaut.


DasWasser bestimmte, wo man bauen
konnte.Aus unsererWohnung im ers-
ten Stock schaute ich auf einViertel
der Einheimischen, gleichauf der ande-
ren Seiteder Strasse. DieKolonialisten
hatten es nicht geschafft, Afrika aus der
Stadt zu stossen!


Hatten Sie schwarze Freunde?
Nicht viele. Doch mein besterFreund
war ein schwarzerJunge, etwas älter als
ich:João Joãoquinho. Er wurdePastor
einer Kirche, die Erwachsene im Meer
taufte. Die afrikanischeWelt erwachte
durch die Geschichten der Kinder von
der anderen Strassenseite. Die andere
Welt durch die Geschichten und Lieder
daheim.Aus diesen Stimmen habe ich
mir eine eigeneWelt gebaut.


Im März 2019zog der Zyklon «Idai»
über Ihre Heimatstadt. In einem Inter-
view sagten Sie damals, Beira sei «Dun-
kelheit,Trauer und Stille». Fo tos zeigen
Frauen in der Innenstadt; mitKübeln
auf demKopf waten sie durchsWasser.
DieFrauen sindweit weg, doch man
sieht...

...man sieht sie lächeln. Unglaublich,
nicht wahr? Die Stadt hat gelitten, doch
die Menschen sind unglaublich vital.


1972 wurde IhnenBeira zu klein, Sie
zogen zum Studium nach Lourenço
Marques, heute Maputo. 1972 – daswar
mitten imBefreiungskrieg gegenPortu-
gal.Worin unterschieden sich die beiden
Städte damals?

In Beira stand der Krieg gleichvorder
Stadt. Beira lag im Delirium, die weissen
Einwohner waren vor Angst gelähmt,
sie wurden fast verrückt. In Lourenço
Marques hingegen war der Krieg weit
weg. DieVerrücktheit dort erinnerte an
den Untergang desRömischenReiches:
grosseFeste, Stierkampf in der Arena.


Mit 17 gingen Sie zurBefreiungsfront
Frelimo. Was war Ihre grösste Prüfung?

Wir arbeiteten im Untergrund,in der
Uni und unter schwarzen Soldaten der


Kolonialarmee.Wir druckten Flugblät-
ter, damit sie desertieren. Natürlich
hatte ich Angst,dochein episches Ge-
fühl hat die Angst besiegt:Ich warTeil
von etwas Grossem. Die Arroganz der
Jugend – nichts schien unmöglich!

1974 war derBefreiungskrieg zu Ende.
1975 wurde Moçambique unabhängig,
die meistenWeissen flohen inPanik. Sie
aber sind geblieben. Zwei Jahre später
begannder Bürgerkrieg gegen die kon-
servativeRenamo.Was hat Sie emotio-
nal am meisten mitgenommen?
Es war, als würde man ersticken,denn die
Stadt war eingeschlossen. Die Leute hat-
ten aber ihreFamilien auf demLand,dort
wollten sie ihreToten zurRuhe legen,
ihreFeste feiern.Ich war damals Direktor
der Zeitung «Jornal de Notícias». Chef-
redakteur war ein junger Mann namens
PedroTivane aus der Provinz Inhambane.
EinesTages sagte er, er werde in sein Hei-
matdorf fahren, zu einerreligiösen Zere-
monie.Wir wussten:Das ist gefährlich.
Denn auf den Strassen gab es Überfälle
der Renamo. ZweiTage später kam die
Nachricht, alle seien tot – er, seineFrau,
seine Kinder. Sie sind in ihremAuto ver-
brannt.Ich musste einenKörper identifi-
zieren,der nicht mehr identifizierbar war.

Hat Sie der Krieg auch etwas gelehrt?
Was die für mich besteLektion des
Krieges war? Man kann miteinander
reden,so weitentfernt der andere auch
sein mag.

SiebzehnJahre hielt der Krieg das Land
im Würgegriff, in Moçambique dachte

man, er würde nie enden. Erst 1992 gab
es einFriedensabkommen. Ist der Bür-
gerkrieg also vorbei?
Ja. Ich glaube, ja. Ich bin nicht ganz
sicher. Zurzeit wird ein zweites Ab-
kommen vorbereitet, die letzten Kämp-
fer derRenamo sollen demobilisiert
werden. Doch vielleicht gibt es immer
nochGruppen, die als Guerilla weiter
gegen den Staat kämpfen. UmVorteile
zu erpressen.

Sie nannten den Krieg einmal einen
Dämon: Er sitze in einerTruhe, und die
Leute hätten Angst, dieTruhe zu öffnen.
Wo steckt derDämon heute?
Er ist lebendiger denn je. Denn wir er-
leben einen Zustand des allgemeinen
Krieges. Es ist ein unerklärter Krieg –
gegen Minderheiten, gegen Immigran-
ten, gegen dieFrau, gegen «unreine»
Rassen, auch ein Krieg gegen die, die
anders denken.

Siesind ein erfolgreicherAutor, Ihr
grosses Thema heisst «Identität». Darum
die Frage: Herr Couto, wer sind Sie?
Ich könnte auf dieseFrage nur mit einer
Lüge antworten, denn letzten Endes
weiss niemand, wer er ist.Wir sind so
vieles gleichzeitig. Ich bin ein Afrika-
ner, der aus Europakommt.Ich bin ein
Schriftsteller in einerRegion,in der das
Mündliche dominiert. Ich bin Atheist in
einem tiefreligiösenLand, einWissen-
schafter unter Menschen, die nach ande-
renAntworten suchen. Identität ist tat-
sächlich meinThema, doch ich weiss:
Wer Identität suc ht, der sucht nach
einemTrugbild.

Um seine Identitätzu umschreiben,
nutzt der ErzählerJosé Eduardo Agua-
lusa aus Angola gern denBegriff «Lu-
sophonie». Nach diesemKonzept bil-
den alle Länder portugiesischer Spra-
che einen kulturellen Raum.Was sind
Sie, sprachlich –Portugiese,Afrikaner
oder einBewohner dieser lusophonen
Welt?
Lusophon? Nein. Ich kann diesesKon-
zept nicht akzeptieren.Weil es inPor-
tugal erfunden wurde.Wer von Afrika
spricht, teilt denKontinent gern in ang-
lophon, frankophon, lusophon. Ganz so,
als könne man Afrika durch etwas defi-
nieren, das ausserhalb liegt. Ich habe
in meiner Muttersprache meine eigene
Sprache gefunden. Und die entstand
durch denAustauschzwischen denKul-
turen Moçambiques.

In IhremRoman «Imani» von 2015
wandelt eine Mosambikanerin im

19. Jahrhundert beharrlich zwischen
zweiWelten, schwarz undweiss. Sie
meinten einmal, die erstrebenswerte
Identität bestehe in derVielfalt.Wie
lässt sich die heutige Identität Moçam-
biques beschreiben?

Ein bisschen wie die der Schweiz, doch
steh en wir erst am Anfang desWeges.
Als was fühlt sich ein Mosambikaner
aus der grossen Ethnie der Shona? Ist
er erst Mosambikaner und dann Shona
oder ein Shona, der auch Mosambika-
ner ist? In einer Erzählung von 1990
sagt eine meinerFiguren: «Jeder ist eine
Menschheit für sich.Jeder Mensch ist
eineRasse, HerrPolizist.»
Interview: Uwe Stolzmann


«Jeder ist eine
Menschheit für sich.
Jeder Mensch
ist eine Rasse.»

Zwischen Natur


und Literatur


ust.· Scheinbar mühelos passiert er
die Grenzen zwischenLändern,Kultu-
ren und Epochen: Mia Couto, Jahrgang
1955, ein weisserAutor aus Moçam-
bique. Geboren wurde er als Sohn por-
tugiesischer Migranten in der Hafen-
stadt Beira, heute lebt und lehrt er in
der Hauptstadt Maputo.Couto ist Bio-
loge und Chef derFirma Impacto. Pro-
jekte und Studien zur Umwelt. Er ist ein
stiller Mann mit einer starken literari-
schen Stimme; 35 Bücher hat er publi-
ziert und ist für sein Schaffen mit pres-
tigereichen Preisen wie dem Prémio Ca-
mões und dem Neustadt International
Prize for Literature ausgezeichnet wor-
den.Auf Deutsch erschien zuletzt sein
Roman «Imani» beim Unionsverlag.


Ein Gast vonWeltformat: Für das Open-Air-Literatur-Festivalkam Mia Couto nachZürich. ANNICKRAMP/ NZZ

Die Alternative


zum Spektakel


Die Bregenzer Festspiele zeigen
einen reizvollen «Don Quichotte»

MICHAELSTALLKNECHT, BREGENZ

Als Miguel de Cervantes zu Beginn des
17.Jahrhunderts seinen «Don Quijote»
ve röff entlichte, liess er dieTitelfigur in
Ritterromanen ein Heldentum finden,
das in derRealität längstkeinen Platz
mehr hatte. In der Gegenwartkönnen
Männer sich immerhin gelegentlich ins
Kino flüchten, wenn sie sich qua Pro-
jektionwieder einmal richtig heldisch
fühlen wollen.In einem solchen Kino
lässt Mariame Clément die zweite Pro-
duktion der BregenzerFestspiele begin-
nen. Ein offensichtlich verwirrter Mann
im Don-Quijote-Kostüm sieht sich die
eigene erträumte Geschichte an, in der
selbst ein in dieJahre gekommener Held
für seineDulcinea noch altmodisch sin-
gen und fechten darf.

Ventilatoren,Windmühlen


Für den ersten Akt vonJules Massenets
Oper «Don Quichotte» hat dieAusstat-
terinJulia Hansen eine Spanien-Vision
auf die BühnedesFestspielhauses ge-
wuchtet, wie sie sich heute nicht einmal
mehr Historienfilme trauen, bei der Ur-
aufführung imJahr 1910 aber durchaus
auf der Bühne zu sehen gewesen sein
könnte.Schliesslichkommt die Oper als
pathossattes Loblied auf den Idealismus
ihresTitelhelden daher, wobei sie dessen
ironische Doppelbeleuchtung bei Cer-
vantes weitgehend unterschlägt.
Clément und Hansen holen Letztere
in die Oper zurück,indem sie sie zugleich
als Reflexion auf aktuelle Genderdebat-
ten deuten.Denn natürlich kann auch
ein moderner Don Quichotte (intensiv
gerade in leisenPassagen,aber insgesamt
noch zu arm anFarben: Gábor Bretz)
nicht den ganzenTag im Kino sitzen.
Deshalb kämpft er hier wenigstens mor-
gens beimDuschen tapfer gegenWind-
mühlen, auch wenn es sich dabei nur
um denVentilator seinesBadezimmers
handelt, während sein ständiger Beglei-
ter SanchoPansa (David Stout) wütende
Kommentare über die neuen Geschlech-
terbilder ins Internet hackt.
Oder er holtsich des Nachts im Spi-
derman-Kostüm einen blutigen Schädel
im Kampf gegen eineVorstadtbande,
die – ebenfalls im Gegensatz zum Idea-
lismus der Oper – ihren Machismo an
ihm austobt.Fünfmal wechseln die hin-
reissend detailverliebten Bühnenbilder,
fünfmal dieKostüme, in denen Don
Quichotte und SanchoPansa daherkom-
men. Die Inszenierung greift damit auch
die episodische Struktur bei Cervantes
wieder auf, sorgt aber bei der offensicht-
lich überfordertenTechnik während der
Premiere für lange Umbaupausen. Im
vierten Bild ist Don Quichotte schliess-
lich nurnoch einalternder Angestellter
im Strickpulli, der mit all den feschen,
bestens angepasstenJungs im Gross-
raumbüroschlicht nicht mehrkonkur-
rieren kann.Dulcinea, gesungen vom
ehemaligen Zürcher Ensemblemitglied
Anna Goryachova, ist hier die Chefin,
die nichteinmal mehr imTraum an so
etwas Altmodisches wie Heiraten denkt,
auch wenn sie sich eigentlich einsam da-
bei fühlt.Am Schluss sitzt sie jedenfalls
allein im Kino und sieht dem buchstäb-
lich zum Holzschnitt erstarrten männ-
lichen Helden beim Sterben zu.

Um Längenbesser


Es ist schade, dass dieser assoziativ offe-
nen, nie mit dem Zeigefinger hantie-
renden Inszenierungkeine ebensolche
musikalische Realisierung entspricht.
Der für den ursprünglich vorgesehe-
nen AntoninoFoglianieingesprungene
DirigentDaniel Cohen hakelt sich eher
schwerfällig durch diePartitur, und die
WienerSymphoniker lassen kaum den
für das französischeFach unabdingba-
ren Farbenreichtum hören.
Dennoch bleibt die zweite Produk-
tion der BregenzerFestspiele wie schon
so oft in denVorjahren eine echte Alter-
native zum «Rigoletto»-Spektakel auf
der Seebühne, das sie an Bewusstsein
für die historischeTiefenwirkungeines
Stoffes wie für dessen Aktualitätspoten-
ziale um Längen schlägt.
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