Neue Zürcher Zeitung - 22.07.2019

(Greg DeLong) #1

Montag, 22. Juli 2019 FEUILLETON 27


Diese fatale Portion Authentizi tät


Die Netflix-Serie «When They See Us» schlägt hohe Wellen und hat Folgen für eine frühere Staatsanwältin


VIOLA SCHENZ


Die Suche nachWahrheit ist mühsam,
bisweilen aber auch ehrenvoll. Linda
Fairstein verschreibt sich seit einem hal-
ben Jahrhundert derWahrheitssuche.
Die 72Jahre alteJuristin gilt als eine
der profiliertesten Strafverfolgerinnen
und Strafverfolger der USA, sie war Be-
zirksstaatsanwältin von NewYork, über-
nahm1976 die frisch gegründete Abtei-
lung für Sexualdelikte, die erste ihrerArt
im Land, verfolgte dort 25Jahre lang
Serienvergewaltiger, Sexmörder, Sadis-
ten.SieengagiertsichinderOpferbetreu-
ung, ist als juristische Expertin imTV
gefragt, schreibt Sachbücher und oben-
dreinKrimi-Bestseller,dieineinDutzend
Sp rachenüb ersetztwurden.Mankannsie
ein e juristische Zelebrität nennen.
Jedenfalls war sie das bis zum 31.Mai
diesesJahres. Da startete auf Netflix die
vierteilige Mini-Serie«When They See
Us» über fünfTeenager aus Harlem, die
im April1989 ins Gefängnis kamen. Die
«CentralPark Five», zwischen14 und 16
Jahrealt,wurden der brutalenVergewal-
tigung und versuchtenTötung vonTrisha
Meili angeklagt. Die28 Jahre alteJog-
gerin überlebte die Attacke knapp, sie
lag zwölfTage imKoma, musste wieder
gehen lernen,verlor für immer ihren Ge-
ruchssinn. Nach stundenlangen, manipu-
lativenVerhören unterschrieben die fünf
Beschuldigten Geständnisse – die sie
Tage später widerriefen.
Sie hatten dasVerbrechen, das man
ihnen vorwarf, nicht begangen.Trotz
Widersprüchen und mangelnden Indi-
zien wurden sie zuGefängnisstrafen
zwischen sechs und14 Jahren verurteilt.
Erst 2002 hob NewYork dieFehlurteile
auf, nachdem der wahre Täter Matias
Reyes gestanden hatte. Der Fall wühlte
seinerzeit ganzAmerika auf.


DerShitstorm warheftig


Als Staatsanwältin warFairsteinAnfang
der 1990erJahre eine treibende Kraft
in demVerfahren, auch in dieser True-
Crime-Verfilmung hat sie, gespielt von
Felicity Huffman, eine tragendeRolle –
allerdingskeine gute. Sie kommt als un-
sympathische Karrieristin rüber, wel-
che die fünfJugendlichen von Anbe-
ginn verdächtigt und die Strafverfolger
zu zweifelhaften Methoden drängt.Das
hat Konsequenzen.Die Zeitschrift «Gla-
mour», die sie1993 zur «Frau desJahres»


erklärt hatte, distanzierte sich von «die-
ser Ehre». Im Web formierten sichPeti-
tionen, die ihrenRückzug ausVorstän-
den diverser Organisationen forderten
und zum Boykott ihrer Bücher aufrie-
fen, sie gipfelten in den Hashtag #Can-
celLindaFairstein (Tilgt LindaFairs-
tein).Der Verlag,mit dem sie seitJahr-
zehnten Bestseller produzierte, kün-
digte ihrenVertrag. Innert wenigerTage
mutierte sie zurPersona non grata.
Fairstein wehrte sich, nannte dieDar-
stellung ihrerPerson «grob und böswillig
ungenau», den Film «ein Lügenmärchen
voller Entstellungen und Unwahrhei-
ten», sprach von «Mobmentalität in den
sozialen Netzwerken» und «unverant-
wortlichenFilmemachern». Die Wahr-
heit über ihre Mitverantwortungkönne
in öffentlichen Dokumenten und Proto-
kollen eingesehen werden.Es half nichts,
der Shitstorm war zu heftig. Sie gab ihre
Vorstandsposten bei Opferorganisatio-
nenauf,löschteihrTwitter-Konto.Ausder
Öffentlichkeitistsiequasiverschwunden.
«When They See Us» (Regie:Ava
DuVernay) bringtkeine neuenFakten
ans Licht, was darin passiert, ist seitJah-
ren bekannt.Die überraschendeWende,
MatiasReyes’ Geständnis, der Skandal –
all das sorgte 2002 fürFurore , Fairsteins
Rolle geriet bereits damals in die Kri-
tik. Doch die hielt nicht lange an, New
York war noch zu sehr mit denTerror-
anschlägen vom 11.Septemberbeschäf-
tigt. 2012 schliesslich befasste sich der
gelobte Dokumentarfilm«The Central
Park Five» mit dem Skandal. NewYork
geriet unter Druck und entschädigte
die fünfJustizopfer 2014, nach einem
jahrelangenZivilprozess,mit insgesamt
41 Millionen Dollar.
«WhenThey See Us» allerdings kata-
pultiert denFall in eineneue Dimension.
Laut Netflix hatte die Serie bis EndeJuni
bereits 23 Millionen Zuschauer – und
viele sind enorm aufgewühlt. Amerika
fet zt sich über den Umgang mit Minder-
heiten, es herrschen empörungsbereite
Zeiten. Die #MeToo- und Black-Lives-
Matter-Bewegungen tragen zum öffent-
lichen Hyperventilieren bei, ebenso die
sozialen Netzwerke, die Debatten inner-
halbvon Stunden in Hysterie ausarten
lassenkönnen. Ein Hashtag wird dann
zum Brandbeschleuniger.
Zu vielkommt zusammen:Justizver-
sagen,ein emotionalerFilm, Hasstiraden
im Web und die immer wiederkehrende
Frage, ob dunkelhäutigen Amerikanern

nach wie vor Unrecht geschieht oder ob
sie im Zuge derPolitical Correctness pro-
tegiert werden.Jetzt,30Jahrespäter,geht
es darum, endlich jemandVerantwort-
lichen zurRechenschaft zu ziehen. New
York hat zwar die Millionenentschädi-
gung gezahlt, ein Schuldeingeständnis je-
dochverweigert.WasFairsteinnunwider-
fährt,isteineunfaire,aberunvermeidliche
Spät folge der ausgebliebenen politischen
Katharsis.Tatsächlichhattesiesichineine
Kollektivtäter-Ideeverrannt.
Das Opfer Trisha Meili konnte
sich zwar nicht an denAngriff erin-
nern, sprach jedoch von einem «zwei-
ten Täter». Für Fairstein blieb das ein
Indiz dafür, dass mindestens einer der
fünf irgendwie an dem Angriff beteiligt
war, selbst wenn sichReyes zum Einzel-
täter erklärte. Polizei und Staatsanwalt-
schaft haben1989 fataleFehler gemacht


  • unbewusst,fahrlässig, absichtlich.Aber
    auch dieRegisseurinAva DuVernay hat
    nicht akkurat gearbeitet, hat für die Dra-
    maturgie denVerlauf der Beweisauf-
    nahme und jenerFehler verdichtet, es
    tauchen Diskrepanzen auf, die es zu dem
    Zeitpunkt noch nicht gab.Das lässt die
    Verfehlungen und Schlampereiender
    Strafverfolger grösser erscheinen.


Die «Sex-Staatsanwältin»


Der Streit über die wahrhaftigeDarstel-
lung birgt etwasTragisches, zwei Mis-
sionen scheinen unvereinbar:Hierdie
weisseAnwältin,die sich fürOpfersexu-
ellerGewalteinsetzt,dortdieafroameri-
kanischeFilmemacherin, die sich den
Rechten von Schwarzen hingibt.DuVer-
nayhabenzwei Oscar-nominierteFilme
bekannt gemacht, die Dokumentation
«13th» (2016) über die Abschaffung der
Sklaverei und das Martin-Luther-King-
Drama «Selma» (2014). Hinter«When
They See Us» steht eine Riege einfluss-
reicherProduzenten,darunterRobertde
Niro und OprahWinfrey.
DuVernay legt denFokus auf die
Jugendlichen,ihre Lebensumstände, auf
die Schikanen, denen schwarzeAmeri-
kaner in den USA nach wie vor aus-
gesetzt sind. Es gehe ihr darum,einen
strukturellenRassismusoffenzulegen,
als junger schwarzer Mann gerate man
automatisch in denVerdacht, kriminell
zu sein, bet ont die 46-Jährige in Inter-
views. Ein berechtigtes Anliegen. So
widmet sie dem zurTatzeit16 Jahre
altenKorey Wise, der nach Erwachse-

nenstrafrecht verurteilt wurde, die ge-
samte vierteFolge. In wechselnden Ge-
fängnissen ister brutalen Bedingungen
ausgesetzt. Sie zeigt, wie schwer es in
den USA für Haftentlassene ist,Fuss zu
fassen,einenJob zu finden – die Bewäh-
rung sauflagen blockieren vieles.
Man könnte der Serie vorwerfen,dass
sie bisweilen sentimental gerate, dass
die Familien der fünf zu moralisch und
heldenhaft agierten. DieJungs waren
wohl nicht gänzlich unschuldig; sie hat-
ten sich an jenem Schicksalsabend zwei
DutzendJugendlichen aus Harlem an-
geschlossen, die in den CentralPark zo-
gen,um dortJogger, Radfahrer, Spazier-
gänger zu jagen, anzugreifen, auszurau-
ben.Dieses«Wilding» machte seinerzeit
den Park zu einer No-go-Zone, unddie-
ser Aspektkommt in der Serie zu kurz.
LindaFairstein erfährt auch Soli-
darität.Auf die Berichterstattung über
ihre Rolle damals in derRealität und
jetzt in derVerfilmung melden sich Op-
fer sexueller Angriffe: NewYork habe
Fairstein viel zu verdanken, erst durch
die «Sex-Staatsanwältin», wie die Boule-
vard presse sie damals nannte, sei es
überhaupt zu Anklagen von Tätern ge-
kommen. Gewalt und Sexualdelikte in
der Millionenmetropole waren in den
1970er und1980erJahrenkolossal, der
sozialeFrieden stand auf dem Spiel.
Wegen «aufrührerischerFalschdar-
stellung» erwägt Fairsteinrechtliche
Schritte gegenDuVernay. Die Regis-
seurin sagt, sie habeFairsteinsPosition
einbeziehen wollen, man sei sich aber
nicht über die Bedingungen einig ge-
worden. In einerRestaurantszene mit
einer Mitarbeiterin derStaatsanwalt-
schaft legt diese einen Stapel Bücher
auf denTisch und meint zuFairstein:
«Während SieKrimis schrieben, sas-
sen Kevin, Antron,Yusef,Raymond
und Korey eine Haftstrafe ab fürVer-
brechen, die sie nicht begangen hatten.»
Fairstein bedankt sich für den Kauf der
Bücher und verlässt wütend das Lokal.
Sie habe mit dem Krimi-Schreiben an-
gefangen, erzählte sie derReporterin
einmal in einem Interview, weil sie die
komplizierteJustiz auf unterhaltsame
Weise habe erklären wollen, vor allem
aber weil sie sich ärgere «über Krimis,
in denendie Details der Strafverfolgung
hinten und vorne nicht stimmen.Was ich
in die Krimi-Welt bringenwill, ist eine
PortionAuthentizität.»
ZumÄrgerkommt jetzt dieÄchtung.

Hattesie sic hverrannt?FelicityHuffman(links)als LindaFairstein in«When They See Us». NETFLIX


NACHRUF

Der Zeh drückt


täglich woanders


Zum Tod von Ágnes Heller


STEFANDORNUF

Mit der ungarischen
Philosophin verliert die
internationale «scienti-
fic community» einen
profilierten(wenn auch
nicht unangefochtenen)
Kopf. Das Œuvre von
Ágnes Heller, die in
ihrerAutobiografie, «DerAffe auf dem
Fahrrad» (1999), noch selber erschöp-
fend Auskunft über ihren intellektuel-
len Werdegang erteilt hatte, lässt sich
grob in drei Schaffensphasen einteilen.
Die erste stand ganz imBanne ihres
Mentors Georg Lukács, den sie nach
dem ZweitenWeltkrieg am Universi-
tätskathederkennenlernte. Die bis 1971
entstandenen Monografien der gebür-
tigen BudapesterJüdin lassen sich als
Variationen überThemen ihres «Meis-
ters» verstehen. Das gilt für die (nicht
übersetzten)Versuchezur Ethikvon
der griechischen Antike bis zu den rus-
sischen revolutionären Demokraten
des 19.Jahrhunderts ebenso wie für ihr
Hauptwerk jener erstenPeriode, «Das
Alltagsleben» (Deutsch gekürzt1978).
In ihm differenziert und pointiert sie
einzelne Aspekte von Lukács’ ungelieb-
ter «Ontologie des gesellschaftlichen
Seins», nicht zuletzt die Problematik
der Alternativentscheidungen und der
Wertewahl, die zunächst vor dem Hin-
tergrund der Stalin-Ära und von deren
permanentem Schwanken zwischen De-
terminismus undVoluntarismus ihre Be-
deutung erhielt.
Als mittelfristig folgenreich sollten
sich Ágnes HellersKontakte zur jugo-
slawischen «Praxis»-Gruppe erw ei-
sen, an deren sogenannter Sommer-
schule sie mit massgeblichen marxis-
tischen und linkssozialistischen Den-
kern ins Gespräch kam, vor allem
Bloch, Marcuse, Fromm,Fetscher und
Habermas. Die von ihr mitunterzeich-
nete Petition gegen den Einmarsch der
Warschauer-Pakt-Truppen in Prag 1968
führte schliesslich1973 zu ihrer akade-
mischenRückstufung, 1977 gar zur (als
vorläufig gedachten)Ausreise nachAus-
tralien.
Ágnes Hellers Publikationen in die-
ser zweiten Phase (darunter die sehr
erfolgreiche«Theorie der Bedürfnisse
bei Marx») waren betonter politisch
und jetzt auch offen systemkritisch. Sie
vertrat eine – später von ihr als illu-
sionär widerrufene – Dichotomie, wo-
nach das Sowjetmodell schon seit Lenin
durchgängig einePervertierung der ur-
sprünglich durchaus emanzipatorischen
Absichten von Marx darstellte.
Der Durchbruch zu erheblich breite-
rer Wirksamkeit gelang Heller endlich
1987 mit der Berufung auf denHan-
nah-Arendt-Lehrstuhl an der NewYor-
ker New School for SocialResearch.Als
Auftakt zu dieser dritten Phase mochte
«Die Macht der Scham» gelten (Eng-
lis ch 1985), entstanden aus intensiven
Konstanzer Diskussionen mit Albrecht
Wellmer. Programmatisch wurde darin
ein Pluralismus statt des Zwangs zum
Konsens beschworen, das Arbeitspara-
digma als überholt verabschiedet.
Wie lang dieWegstrecke war, die
Ágnes Heller seit ihren geschichts-
philosophischen Anfängen zurück-
gelegt hatte,bezeugten auch ihremehr-
fachenAuftritte im Umfeld der Aache-
ner Karlspreis-Verleihung an ihren
Generationsgenossen, den Schriftstel-
ler GyörgyKonrád,vomMai 20 01.Da-
bei wies die inzwischen zu Derrida Be-
kehrte Publikumsfragen nach möglichen
Fortschrittsperspektiven hochindustria-
lisierter Gesellschaften als allzu speku-
lativ ab: Man müsse sich vielmehr damit
abfi nden,dass einen jedenTag im Schuh
der Zeh woanders drücke.
In jüngster Zeit hat sich Heller in
entschiedene Gegnerschaft zurRegie-
rung Viktor Orbáns gebracht. Noch in
di esemFrühling hat sie ihre Kritik in
einem Buch verdichtet, das die gegen-
wärtige europäische Krise analysiert
(«Paradox Europa»). AmFreitag nun
ist Ágnes Heller 90-jährig im Platten-
see-BadBalatonalmadigestorben.
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