Neue Zürcher Zeitung - 22.07.2019

(Greg DeLong) #1

4INTERNATIONAL Montag, 22. Juli 2019


Die Leiden der Falun-Gong-Anhänger in China


Aus Angst vor einer Massenbewegung hat das kommunistische Regime vor zwanzig Jahren hart durchgegriffen


Die spirituelle BewegungFalun


Gong wurde1999 vonPeking


verboten.Anschliessend


verfolgten die Machthaber die


Praktizierenden unnachgiebig,


wie das Schicksal einerFrau in


den Vierzigern zeigt.


MATTHIAS MÜLLER,HONGKONG


ChinasMachthaber und Sicherheits-
kräfte werden durchatmen, wenn der



  1. Juli vorbei ist. 2019 gibt es diverse
    heikleJahrestage, die in China tot-
    geschwiegen werden. Der Rest der
    Welt erinnert jedoch mahnend daran:
    Im März vor sechzigJahre erfolgte die
    Flucht desDalai Lama und fandendie
    Aufstände in Lhasa statt.Am 4.Juni ge-
    dachte dieWelt der Niederschlagung
    der Demokratiebewegung inPeking vor
    dreissig Jahren. Und an diesem Montag
    vor zwanzigJahren hatPekingFalun
    Gong verboten und die Anhänger an-
    schliessend brutal verfolgt. Die noch
    anstehendenJahrestage mit der Grün-
    dung der Volksrepublik Anfang Okto-
    ber sowie derRückgabe Macaus an das
    chinesischeFestland im Dezember sind
    dagegen ganz nach dem Geschmack der
    Mächtigen.


Pekings Angst


DerAufstieg vonFalun Gong ist eng mit
jenem von Li Hongzhi verbunden,den
di eAnhänger der Bewegung als Meis-
ter verehrten. Er stellte seinen als «spi-
rituellenWegzur Vollendung» bezeich-
neten Ansatz erstmals1992 vor. Es han-
delt sich um eine Mischungaus buddhis-
tischen, daoistischen,konfuzianischen
und chinesisch-volksreligiösen Elemen-
ten, durch die das ganze Universum ge-
läutert werden soll, wie in einer Publi-
kation des deutschen Bundesamts für
Migration und Flüchtlinge zu lesen ist.
Falun heisst dasRad des Dharma,
also die Lehre Buddhas; und (Qi-)Gong
bedeutet Kraft, Energie.Li, der seit
Mitte der neunzigerJahre in denVer-
einigten Staaten lebt,entwickelte fünf
Steh- und Meditationsübungen, die mit
ihren langsamen, ruhig-fliessenden Be-
wegungen ähnlich wie Qigong ablaufen.
Der Gründer formulierte zudem die
drei PrinzipienWahrhaftigkeit (Zhen),
Barmherzigkeit (Shan) und Nachsicht
(Ren). Darüber hinaus veröffentlichte
Li 1995 sein Hauptwerk ZhuanFalun,
das von den Praktizierenden immer wie-
der gelesen werden sollte, um dasVer-
ständnis für dieKultivierungsbewegung
zu vertiefen, wie es in einer Publikation
von Falun Gong heisst.
Li traf mit seinem Ansatz den Nerv
der Zeit.Durch die wirtschaftlichen
Reformen Chinas seit Ende der sieb-


zigerJahre hatte sich die Gesellschaft
grundlegend gewandelt.Traditionelle
Dorf- undFamiliengemeinschaften bra-
chen auf, Bindungenund Werte gin-
gen verloren.Viele Chinesen waren auf
der Suche nach Erlösung und Glück.
Anfangs sprachen sich gar staatliche
Medien fürFalun Gong aus. Hoch-
rangigeParteikader und Militärs be-
kannten sich zu der spirituellen Bewe-
gung. Der Siegeszug vonFalun Gong
war atemberaubend. Ende der neun-
zigerJahre sollen zwischen 70 und 100
Millionen Chinesen zu den Praktizieren-
den gezählt haben.
Solche Massenbewegungen miss-
fallen derKommunistischenPartei zu-
tiefst. Im April1999 begannen die staat-
lichen Medien mit Agitationen gegen
Falun Gong. Ein richtiger Schock war
für Peking der 25.April1999, als mehr
als 10000 Praktizierende in dieBann-
meile rund um Zhongnanhai, wo die
Mächtigen leben, eindrangen und dort
ihre Übungen vollführten.

Kurz vor diesem schicksalshaften
Datum war Lu Hong mitFalun Gong in
Kontakt gekommen. Die damals 22-jäh-
rige Frau, deren richtiger Name nicht in
der Zeitung stehen soll, lebte in Süd-
chin a. «EineFreundin zeigte mir die
Übungen und gab mir das Buch des
Falun-Gong-Gründers», erinnerte sie
sich in einem Café.Das Treffen findet
in Hongkong statt, denn wer Anhänger
der spirituellen Bewegung treffen will,
muss in die einstige britischeKolonie
oder nachTaiwanreisen, wo sie noch in
Freiheit praktizierenkönnen.Auf dem
Festland gibt es zwar nochFalun-Gong-
Anhänger. Mit einemTreff en würden sie
jedoch in zu grosse Gefahr geraten.

Folterund Organentnahme


«Das Buchund dieÜbungen haben tiefe
Spuren hinterlassen.Auch meine ältere
Schwester begann sich dafür zu inter-
essieren», sagt Lu imRückblick. Ihre
Lage sollte sich nach demVerbot von

Falun Gong schnell verschlechtern. Am


  1. Juli 1999 stand diePolizei vor ihrer
    Tür und wies sie warnend darauf hin,
    dass sie nicht länger öffentlich prakti-
    zieren solle. Lu und ihre Schwester lies-
    sen sich jedoch nicht einschüchtern.Im
    Oktober 2000 fuhren sie mit anderen
    Praktizierenden nachPeking und ent-
    rollten auf demTiananmen-Platz Pro-
    test-Plakate. AlleTeilnehmer wurden
    eingesperrt.Lu trat in den Hungerstreik.
    «Nach zehnTagen haben sie mich in den
    Zug gesetzt und zurück in die Heimat
    gebracht», sagt sie.
    Drei Monate später wollte sie aber-
    mals mitdemZug nachPeking. Lu
    wurde jedoch bereits kurz nach der Ab-
    fahrt abgeführt.Dieses Mal sass sie fünf-
    zehnTage lang im Gefängnis.Am Boden
    sitzend wurde sie von denWärter ange-
    kett et, damit sie ihreFalun-Gong-Übun-
    gen nichtpraktizieren konnte.«Wenigs-
    tens haben mich die Mithäftlinge gefüt-
    tert und mir beider Verrichtung meiner
    Notdurft geholfen», sagt Lu.


Kurz darauf verschwand ihre ältere
Schwester für einJahr im Arbeitslager.
Sie sei dort physisch und psychisch ge-
foltert worden und habe gegenFalun
Gong gerichtete Artikel lesen müssen,
sagt Lu. Zudem hatte sie schriftlich zu
bestätigen, nicht länger Falun Gong
zu praktizieren. «Das bereut sie noch
heute», betont Lu.
Das Schicksal von Lu und ihrer
Schwestersteht stellvertretend für jenes
Hunderttausender von Falun-Gong-
Praktizierenden, die nach demVerbot
vor zwanzigJahren inArbeitslagern lan-
deten und gefoltert wurden.Jüngst ver-
öffentlichte das «ChinaTribunal» unter
Leitung von Sir Geoffrey Nice eine Stu-
die, laut der in China Gewissensgefan-
gene in grossem Umfang wegen ihrer
Organe getötet worden sind und noch
immer getötet werden. Unter den Op-
fern sollen sich vieleFalun-Gong-An-
hänger befinden.
Lu verbrachte insgesamt anderthalb
Jahre in chinesischen Gefängnissen.Vor
einigenJahren ist es ihr und der Schwes-
ter gelungen,nach Hongkong zu ziehen,
wo die Eltern seitJahrzehnten leben.
«Hier fühle ich mich sicher, auch wenn
regelmässig Spione vomFestland einge-
schleust werden, um die Aktivitätender
Falun-Gong-Bewegung zu dokumentie-
ren», sagt Lu.

Tochter allein aufdem Festland


Sie kommt von ihrer alten Heimat den-
noch nicht los. Ihr Mann, den sie 2004
bei Falun-Gong-Übungen kennenge-
lernt hatte, sitzt in einem chinesischen
Gefängnis. Er wurdezu einer acht-
jährigen Haftstrafe verurteilt, weil er
mit Nachrichten auf dem Nachrichten-
dienstWechat die öffentliche Ordnung
gestört haben soll. Lu hat ihn letztmals
vor etwas mehr als zweiJahren gesehen.
Lange Zeit hatte siekeine Ahnung, wo
er sich befindet.
Am Tag, als ihr Mann festgenom-
men wurde, war auch ihreTochter für
einige Stunden verschwunden. Irgend-
wann seienVerwandte informiert wor-
den, dass man sie wieder abholenkönne,
erzählt Lu.Inzwischen fährt sie alle zwei
bis drei Monate in die alte Heimat, um
die beiVerwandten lebende Kleine zu
sehen. Der Grenzübertritt sei nochin
Ordnung. «Wenn ich allerdings zu mei-
nen Verwandtenkomme, ist die Situa-
tion fast unerträglich, weil alles über-
wacht wird», fügt Lu an.
Gemäss offiziellen Dokumenten ist
ihr Kind dieTochter des inhaftierten
Vaters.Die Mutter hat deshalbkeine
rechtliche Handhabe, ihre Kleine nach
Hongkong zu holen. DieFrau spricht
trotz ihren Erfahrungen ruhig. Sie wirkt
gelassen.«Dasliegt vielleicht daran,dass
ich soviel durchlitten habe», sagt sie und
lächelt kurz.

Polizistinnen nehmen 2001 in HongkongFalun-Gong-Anhänger fest. DieRepression hält bis heute an. SOUTH CHINA MORNING POST / REUTERS

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