Neue Zürcher Zeitung - 22.07.2019

(Greg DeLong) #1

Montag, 22. Juli 2019 INTERNATIONAL


Kurz – ein Altkanzler voller Selbstsicherheit


In Österreichs Wahlkampf erweisensichdie Sozialdemokraten als schwach und die Freiheitlichenals Partei mit zwei Gesichtern


Während Sozialdemokraten und


Freiheitliche mit Problemen


kämpfen, gilt der Sieg von


SebastianKurz als fast sicher.


EineKoalition mit der FPÖ


schliesst seinePartei nicht aus –


doch es gibt einen Stolperstein.


IVO MIJNSSEN, WIEN


In Österreich hat derWahlkampf offi-
ziell begonnen – fast gleichzeitig mit
denFerien. Doch eigentlich läuft er be-
reits seit dem Sturz derRegierung von
SebastianKurz infolge des Ibiza-Skan-
dals Mitte Mai. Seither ist der 32-jäh-
rige Altkanzler aufWerbetour,schüt-
telt Hände auf Dorfmärkten, wandert
durch dieTiroler Alpen, trifft die deut-
sche Kanzlerin Merkel und den israeli-
schenMinisterpräsidenten Netanyahu –
ganz so, als sei er weiterhin im Amt.
DieAuftritte sind ebenso formvoll-
endet wie sorgfältig inszeniert, und es
gibt kaum einen Zweifel daran, dass
Kurz’ konservative Österreichische
Volkspartei (ÖVP) die vorgezogene
Parlamentswahl vom 29. September ge-
winnen wird:Laut neusten Umfragen
wünschen sich 37 ProzentKurz als neu-
alten Kanzler.
Er kann vereinzelteAussetzer ver-
kraften, wie die peinliche Segnung, die er
von einem umstrittenen amerikanischen
Pastor an einemFreikirchen-Kongress
imJuni entgegennahm. Etwas unange-
nehmerkönnte ihm die amWochenende
aufgeflogene Affäre um einen Mitarbei-
ter werden, der wenigeTage nach dem
Sturz derRegierung illegal Akten im
Kanzleramt schredderte.Wahlentschei-
dend ist sie kaum.


SchwacheKonkurrenz


Von so vielPopularitätkönnen seine
Konkurrenten nur träumen.Während
kl einereParteien wie die Neos oder
die GrünenAufwind verspüren,sind
die Sozialdemokraten in der Krise.
Statt vom politischen «Ibiza-Steilpass»
zu profitieren, ringt die Parteichefin
PamelaRendi-Wagner mit ihremAuf-
tretenin der Öffentlichkeit und mit
Heckenschützen in der eigenenPartei.
Diese machenkein Hehl daraus, dass sie
dieerst vor wenigenJahren in diePar-


tei eingetretene Gesundheitsexpertin als
Vorsitzende für ungeeignet halten. Den
Sozialdemokraten droht ein historisch
schlechtesWahlresultat von 20 Prozent.
DieFreiheitlichePartei (FPÖ) be-
wegt sich zwar in einer ähnlichen Grös-
senordnung, kann dies aber als Erfolg
verbuchen: Sie ist nach den haarsträu-
bendenAussagen und demRücktritt
ihresParteichefs Heinz-Christian Stra-
che nicht implodiert. Die FPÖ schafft
es bis jetzt,ihre Stammwähler bei der
Stangeund sich als zukünftigenKoali-
tionspartner im Spiel zu halten. Seit dem
Abflauen der ersten Empörungswelle
zeigen sichKonservative undFreiheit-
liche einer weiterenKooperation gegen-
über durchaus aufgeschlossen.
Politisch stehen sich die beidenPar-
teien weiterhin am nächsten. Der desi-
gnierte FPÖ-Vorsitzende Norbert Hofer

präsentiert sich dabei als moderates Ge-
sichteiner moralisch erneuertenPar-
tei; er gewährt sogar der pointiert lin-
kenWochenzeitung«Falter» ein langes
Interview.Von Strache distanziert er
sich verbal, sieht aber von weitergehen-
den disziplinarischen Schritten ab–aus
Gründen derParteiräson.
Hofers Gegenstück – gewissermassen
der «Bad Cop» – ist Herbert Kickl. Der
Demagoge, asylpolitische Hardliner und
ehemalige Innenminister ist der Held
derrechten bisrechtsextremenWähler
derPartei,die für den Erfolg an der Urne
unabdingbar sind. Ohne Kickl hätte die
FPÖ ein Problem. Mit ihm allerdings
auch, denn Kickl teilt immer häufiger
gegen dieÖVP aus. Er wirkt verbittert
darüber,dass seinAbgang vonKurz im
Mai zur Bedingung für eineWeiterfüh-
rung derKoalition gemacht wurde. Die

FPÖ weigerte sich–und zog ihreMinis-
teraus derRegierung ab.
Seither haben sowohl Bundespräsi-
dentVan der Bellen als auch ein enger
Vertrauter vonKurz klargemacht, dass
Kickl in einer allfälligen zukünftigen
Regierung als Innenminister – und mög-
licherweiseauch ganz generell –keinen
Platz hätte. Die FPÖ machte denAus-
geschlossenen daraufhin öffentlich zur
Koalitionsbedingung.
Ob dasVeto gegen Kickl auch mit-
telfristig gilt, wird sich weisen. ImWahl-
kampf schadet der FPÖ derKonflikt
aber kaum, zumal Kickl denKonser-
vativen nicht ganz zu Unrecht vorwirft,
ihn aus machtpolitischen Gründen aus
dem Innenministerium (BMI) entfernt
zu haben.Kurz’ offizielle Erklärung,
Kickl sei zu stark in die Ibiza-Affäre
verwickelt gewesen, um sie aufzuklären,

überzeugt nicht;ein Mitwissenkonnte
ih m nicht nachgewiesen werden. Eher
dürftedenAusschlag gegeben haben,
dass viele Konservative unzufrieden
waren über die Selbstherrlichkeit, mit
der Kickl im traditionell von derÖVP
dominierten BMI agierte.

Skandalträchtiges Gebaren


Das Gebaren Kickls und der ihm
gegenüber loyalenFührungsriege war
tatsächlich haarsträubend.Dazugehör-
ten nicht nur rechtsstaatlich hochpro-
blematische Schritte im Asylbereich,
sondern auch verdächtige Zusatzzah-
lungen an FPÖ-nahe Beamte. Eben-
falls einerAufklärung harrt dieRolle
des Ministers bei einerRazzia imVer-
fassungsschutz. DerVerdacht steht im
Raum, dass dabeiDaten überrechts-
extreme Gruppen in falsche Hände ge-
rieten, was internationale Nachrichten-
dienste zur EinschränkungderZusam-
menarbeit bewegte.
Auf eine ungesunde Nähe Kickls zum
braunen Milieu deutet auch eine wei-
tere Untersuchung gegen einen Maul-
wurf innerhalb des BMI. Dieser soll
den Identitären-Chef Martin Sellner
vor einerRazzia gewarnt haben. Sie er-
folgte,weil Sellner eine grosse Spende
von jenem Rechtsextremen erhalten
hatte, der in Neuseeland am15.März 51
Personen ermordet hatte.
Doch unerklärlicherweise löschte der
Identitären-Chef in den vierzig Minuten
vor der Hausdurchsuchung zahlreiche
E-Mails, die er mit demTerroristen aus-
getauscht hatte. Die Beamten warteten
auch mehrere Minuten vor derTür – ob-
wohl sie verdächtige Geräusche vernah-
men.Zumindest Kickls Generalsekretär
war über dieRazzia informiert.
Die engen Kontakte zahlreicher
Funktionäre der FPÖ zu den Identitä-
ren führten zurerstenRegierungskrise.
Sie zwangen den damaligenVizekanzler
St rache dazu, auf Druck vonKurz eine
«rote Linie» gegenüber demRechts-
extremismus zu ziehen. Einschneidende
personelle Konsequenzen hatte dies
nicht.Kurz deutete später an, die vielen
«Einzelfälle» seien ein Grund für seine
Entscheidung gewesen, dieRegierung
zu beenden. Es gibt aber wenigAnzei-
chen dafür, dass sich solche Probleme
bei einer zukünftigenKoalition mit der
FPÖ nicht erneut stellen würden.

Ein Brüsseler Strippenzieher springt über die Klinge


ImZuge des Wechsels ander Spitze der EU-Kommission wird auchGeneralsekretärMartin Selmayr entmachtet


Martin Selmayr prägte diePolitik


der EU-Kommission der letzten


fünfJa hre. Dabei spielte er auch


in den Beziehungen zur Schweiz


eine Schlüsselrolle.


NIKLAUS NUSPLIGER, BRÜSSEL


Planmässig wird Ursula von der Leyen
die NachfolgevonJean-ClaudeJun-
cker an der Spitze der EU-Kommission
erst im November antreten. Dennoch
hat der Stabwechsel bereits personelle
Konsequenzen an höchster Stelle: Mar-
tin Selmayr, bisheriger Generalsekretär
derKommission undrechte HandJun-
ckers, kündigte unmittelbar vor von der
LeyensWahl im Europaparlament an,er
werde sich per EndeJuli aus Brüssel zu-
rückziehen.


Symbiose mit Juncker


Dass eine deutscheKommissionspräsi-
dentin einen deutschen Chefbeamten
aus Gründen derregionalenBalance
nicht im Amt belassen würde, war ab-
sehbar gewesen. Doch Selmayr ist in
Brüssel und im Europaparlament eine
derart polarisierendeFigur,dass sich
von der Leyen veranlasst sah, sich mit
seiner frühzeitigen Opferung zusätzliche
Stimmen zu sichern.


Martin Selmayr hat in den letzten
fünfJahren in Brüssel als machtbewuss-
ter, rücksichtsloser, aber auch brillanter
Stratege dieFäden gezogen. MitJun-
cker, für den er bei der Europawahl 2014
den Spitzenkandidaten-Wahlkampf ge-
leitet hatte, verband ihn einsymbio-
tischesVerhältnis. Während Juncker

seine vielfältigen Beziehungen auf poli-
tischer Ebene spielen liess, hielt Selmayr
als Kabinettschef denLaden mit harter
Hand zusammen.
Der detailversessene Jurist hatte
die Gabe, bei unterschiedlichsten Dos-
siers gleichzeitig die Zügel fest in den
Händen zu halten. Immer mehr Ent-
scheide wurden zentralisiert, und Sel-
mayrs Machtfülleals Strippenzieher
wurde desto grösser, je mehr ihn der
alterndeJuncker gewähren liess. 20 18
gipfelte seinAufstieg in einer umstrit-
tenen Blitzbeförderung zum General-

sekretär, die imParlament als «staats-
streichartig» kritisiert wurde.
Selmayr stellte seine Schaffenskraft
ganz in den Dienst der europäischen
Sache. Die Abschaffung derRoaming-
Gebühren für die Mobiltelefonie ver-
wandelte er in einen PR-Coup für die
Kommission, und alsKoordinator der
Vorbereitungsmassnahmen für einen
harten Brexit hielt er die 27 verbleiben-
den EU-Staaten zusammen. 20 15 ver-
suchte er an der SeiteJunckers denAus-
tri tt Griechenlands aus der Euro-Zone
zu verhindern und exponierte sich mit
Tweets, die den Ärger des damaligen
deutschen Finanzministers Wolfgang
Schäuble hervorriefen.

Offensiver Kommunikator


Auch in den Beziehungen zur Schweiz
spielte der Christlichdemokrat eine
Schlüsselrolle. DieFederführung beim
bilateralen Dossier wurde vomAuswär-
tigen Dienst inJunckers Kabinett ver-
lagert, was freilich auch eineFolge des
Brexits war, der viele Querbezüge zum
Schweizer Dossier aufweist. Selmayr
weiss, wieman Verhandlungspartner
unter Druck setzt.
Er gilt alsVater der perfiden Idee,
dieFortschritte bei denVerhandlungen
über dasRahmenabkommen mit der
sachfremden Gewährung der Börsen-

äquivalenz zu verknüpfen.ImJanuar
erliess er eineWeisung an die Dienste
derKommission, wonachalleVerhand-
lungen und Gespräche mit der Schweiz
bis zu einem befriedigenden Ergeb-
nis beimRahmenabkommens zu sistie-
renseien. Unlängst nutzte er sogardie
Plattform des SchweizerFernsehens, um
seine Botschaften direkt ans helvetische
Publikum zu bringen.
Dass ein nicht gewählter Beamter
eine derart offensive politischeRolle
spielte, sorgte in der Brüsseler Zentrale
ebenso für Kritik wie seinalsautoritär
und selbstherrlich beschriebenerFüh-
rungsstil. Als ehemaliger Sprecher und
Stabschef der einstigenJustizkommissa-
rinVivianeReding war Selmayr in der
Kommunikationspolitik beschlagen, und
er betätigte sich immer wieder als ver-
sierter Spindoktor.
Journalisten, die sein Spiel mitspiel-
ten, wurden mit exklusiven Hinter-
grundgesprächen oderInterviews be-
lohnt, kritische Distanz hingegen wurde
nicht honoriert. Seine unangefochtene
Machtstellung verleitete ihn aber auch
zuFehleinschätzungen. So soll erJun-
cker 20 18 dazu gebracht haben, auf-
grund einerUmfrage überhastet die
Abschaffung der Sommerzeit in ganz
Europa zu propagieren und damit einen
Flickenteppich von Zeitzonen in Kauf
zu nehmen.

Dass er als Generalsekretär die Prä-
sidentschaftJunckers nicht überdauern
wird, dürfte Selmayr wurmen. Doch laut
Gesprächspartnern, die ihn privatken-
nen, hinterliess Selmayr in den letzten
Monaten ohnehin einen zunehmend
unzufriedenen Eindruck. Nun will der
48-Jährige Brüssel verlassen, wobei es
überseine Plänekeine gesicherten In-
formationen gibt.

NeuerTonfall gegenüber Bern?


Am Mittwoch will dieKommission über
die Nachfolge beraten, als möglicher An-
wärter wird der französische Karriere-
funktionär Olivier Guersent gehandelt,
der der mächtigen Generaldirektion für
Finanzstabilität vorsteht. Nach Selmayrs
Abgang dürfte sich derFührungsstil in
derKommissionverändern – womöglich
auch derTonfall gegenüber Bern.
Von der LeyensTeam kann für fri-
schenWind sorgen, wird aber kaum eine
Kehrtwende vollziehen.Vielmehr bleibt
die neueKommission an dieVorgaben
derMitgliedstaaten gebunden, die mit
zunehmender Ungeduld betonen, dass
der bilateraleWeg der Schweiz ohne
Rahmenabkommen erodieren wird. An
Selmayrs Stelle werden neueAkteure
treten. Unverändert bleiben aber die
Grundlagen derPolitik, die sie durchzu-
setzen haben.

Martin Selmayr
Generalsekretär
REUTERS der EU-Kommission

SebastianKurz,der Chef der österreichischenKonservativen, gibt sichauf Wanderungenin d en Bergen volksnah. CHRISTIAN BRUNA / EPA
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