Neue Zürcher Zeitung - 22.07.2019

(Greg DeLong) #1

8 MEINUNG & DEBATTE Montag, 22. Juli 2019


senangelsächsischenWeg besserals die heutige
Londoner Skyline. Sie wurde durchFinanzspekula-
tionmodelliert, durch die Hebelwirkung eines stän-
dig steigenden Bodenwertsund durch dasLaisser-
faire des privatenWettbewerbs. Heute darf man
durchaus inFrage stellen, ob dies zumWohle der
Allgemeinheit geschehen sei, und ob die Bürger
vomWandel ihrer eigenen Stadt besonders profi-
tiert hätten.Während also die Nachkriegszeit unter
den ehrgeizigenVisionenvonPlanern und Archi-
tekten litt, steht die jüngere Entwicklung in London
für denVerlust eines gemeinsamen Interesses und
der Idee von Urbanität.
Alle Städte stehen heute vor der schwierigen
Aufgabe, die immensen Kräfte der Kapitalanlagen
in Immobilien zu zügeln und die Entwicklung der
Stadtalskollektiven Ort des Lebens,Arbeitens und
Geniessens zu bewahren. Dieser Kampf nimmt in
jeder Stadt unterschiedlicheFormen an. Gemein-
sam ist diesen Städten aber, dass politische Ein-
griffeunausweichlich sind.Und esist offensichtlich,
dass dieseKontrolle nicht in der alleinigenVerant-
wortung von Stadtplanern liegendarf.Verlangt ist
vielmehr ein politisches Engagement für die Idee
von Stadt, in der wir leben wollen; der Markt allein
nimmt daraufkeineRücksicht.

Overtourism


Ganz anders als London ist die Situation in Berlin.
Berlin ist einzigartig im Umgang mit seiner eigenen
Geschichte und Identität. Die Berlinerinnen und
Berliner halten mit sehr viel Idealismus an ihrer
Idee von Stadt fest. Berlin gilt zwar als eine «arme»
St adt, für eine jüngere Generation ist sie aber ge-
rade deshalb eine besonders attraktive Stadt. Sie
bietet neben der hohen Lebensqualität und dem
Gefühl, hier seine individuellen Ziele verwirklichen
zukönnen, nicht zuletzt auchWohnraum mit nied-
rigen Mieten und immer auch noch ansehnliche
Brachflächen. Die Gentrifizierung spitzt sich zwar
zu und wird für viele existenziell bedrohlich, aber
politisch gibt es bereitsVersuche, Investitionen zu
begrenzen und etwa die Mieten einzufrieren – was
in London kaum vorstellbar wäre. Darüber hinaus
engagiert sich die Stadt Berlin auch stark im ge-
meinnützigenWohnungsbau.
Es sind drei zentrale Punkte, die heute beim
Thema Stadtentwicklung zu beachten sind: Der
erste ist das erwähnte, starkeWachstum der Boden-
preise samt den unerwünschtenAuswirkungen auf
denWohnungsbau.Wohnungen machen eine Stadt
aus, und wir müssen Strategien finden, denWoh-
nungsbau nicht als eine kaum erfüllbareVerpflich-
tung zu sehen, sondern als ein vorausschauendes
Element der Stadtplanung. Der zweite Punkt ist
derTourismus oder besser gesagt der «Übertou-
rismus», von dem einige Städte besonders stark
betroffen sind. InVenedig, Florenz, Berlin,Rom

oder Lissabon sind bereits Bürgerproteste gegen
dieAuswirkungendes überbordenden Tourismus
aufgeflammt.In Spanien wurde diese wachsende
Bürgerwut medial gar schon als«Tourismuspho-
bie» betitelt.
Tatsächlich wird beispielsweiseBarcelona– eine
Stadt der Urbanität undLebensqualität – heute
vomTourismus geradezu überrannt. Im vergan-
genenJa hr kamen 32 Millionen Besucher in diese
Stadt, das entspricht etwa dem 20-Fachen ihrer
Wohnbevölkerung. Der Ansturm lässtMieten stei-
gen, verdrängt Bewohner aus ihren angestamm-
ten Quartieren, führt zu einerÜberbelastung des
öffentlichenRaums und desVerkehrs und mündet
schliesslich in der Zerstörung des Ortsgefühls.
DerTourismus führt inKombination mit Inves-
titionen und Bodenspekulation zu einer Art urba-
nemVakuum in den Zentren unserer Städte,ver-
bunden mit all den bekanntenKonsumexzessen.
Dies zerstört aber genau diejenigen Qualitäten,wel-
che die Städte eigentlich attraktiv machten.Barce-
lona hat politischreagiert und versucht jetzt, die
Stadt für ihre Bürger zurückzugewinnen.
Damitkomme ich zum dritten Punkt:Wir alle
setzen uns schon lange für den Schutz von Denk-
mälern und historisch-kulturell bedeutenden Ge-
bäudenein. Schwieriger wirdesaber,wenn es um
den Schutz von scheinbar weniger bedeutenden
Gebäuden geht – von Gebäuden, die aber wesent-
lich zum historischen Charakter und zur Identi-
tät einer Stadt beitragen.Auch hier müssen wir
uns überlegen, wie wir solche Gebäude schützen
können – nicht im Sinne nostalgischerRomanti-
sierung oder derVerhinderung moderner Stadt-
entwicklung.Esgeht vielmehrdarum, Bewahrung
undWeiterentwicklung in sinnvollerWeise zukom-
binieren.Wir müssen zu einer rücksichtsvolleren
Form der Gebäudenutzungzurückfinden und den
rein nachRenditen ausgerichtetenWohnungsbau
zurückbinden. Es braucht hier eine nachhaltigere
Politik und vernünftigere Entscheidungen.
Wie eingangs erwähnt, liegt dieseVerantwor-
tung nicht in den Händen von Architekten und
Planern, sondern in derVerantwortung derPoli-
tik. DiePolitik muss die Kriterien festlegen, denen
unsere Städte heute genügen sollen: Es geht um
saubereLuft, um nachhaltigeTr ansportmöglich-
keiten, um angepasste Prioritäten imVerkehr, um
guten und erschwinglichenWohnraum in der gan-
zen Stadt, um den Erhalt undAusbau von Grün-
flächen, um die kreative Umnutzung bestehender
Gebäude und insgesamt um den Erhalt von Urba-
nität– um eine wahrhaft städtischen Atmosphäre
mit hoher Lebensqualität.

David Chipperfieldist ein international renommierter Archi-
tekt. Derzeit baut er den Erweite rungsb au f ür das Kunst-
haus Zürich.Dieser Text basier t auf seinem Referat am NZZ
Europa Clubvom 3. 7. 19 im Zürcher «Kosmos» zum Thema
«Die St adt»; Übersetzung aus dem Englischen: Martin Senti.

Wir müssen zu einer


rücksichtsvolleren Form


der Gebäudenutzung


zurückfinden und


den rein nach Renditen


ausgerichteten


Wohnungsbau zurückbinden.


Wandert man durch Zürichs Strassen, fällt einem
sofort auf, welches die Qualitäten sind, die uns in
die Städte locken – und warum wir die Idee der
Stadt so faszinierend finden. Die Stadt verdeut-
licht unsereVorstellungen von Siedlung und Zu-
sammenleben; sie ist Zeugnis dafür, wie sich indivi-
duelle Bemühungen zu einemkollektiven Ganzen
verdichten. Als Ansammlung von Einzelgebäuden,
die ganz verschiedeneFunktionen erfüllen, lässt
sich die Stadt technisch, visuell, aber auch sehr ge-
fühlsmässig erleben. DerVersuch, Gebäude und
Räume zu errichten, die denkollektivenWunsch
nach Gemeinschaft – um nicht zu sagen nach «Zivi-
lisation» – erfüllen, ist somit immer einVersuch der
Vermittlung zwischen Individuum und Gesellschaft.
Meine Sicht auf die Stadt ist die eines Architek-
ten. Ich hatte die Möglichkeit, in vielen europäi-
schen Städten zu arbeiten. Dabei wurde ich immer
wieder Zeuge all der Herausforderungen, denen
sich Städte heute stellen müssen, und wie unter-
schiedlich sie wahrgenommen werden. Es ist nicht
alleindiePerspektive desDesigns,die zählt.Viel-
mehr müssen wir heute gemeinsam mitPolitikern
über dieRolle der Stadt imKontext der ganz gros-
senThemen unserer Zeit diskutieren: Klimawandel
und wachsendeProbleme sozialer und finanzieller
Ungleichheit.


Komfort und Gemeinschaft


Mit all ihren Gebäuden verschiedener Epochen,
Regime und Stile ist die Stadt immer auchAus -
druck von Geschichte undKontinuität.Wir genies-
sen die Stadt dabei als ein gewachsenesErgebnis
ständigerKompromisse zwischen dem Praktischen
und dem Idealen. Und alle haben wir unseresen-
timentalenVorstellungen davon, was eine Stadt
denn eigentlich sein sollte, und wie wir individuel-
lenKomfort sozusagen in der Umarmung von Ge-
meinschaft auslebenkönnen.
Natürlich entspricht nicht jede Stadt diesem
romantischen Bild, das wir uns von ihr machen.
Wenn wir etwaLagos,SãoPaulo oder Schanghai
betrachten, so sind diese Städte mit ganz anderen
Problemenkonfrontiert als europäische Städte.
Überhaupt lebt ein grosserTeil der städtischen
Weltbevölkerung mittlerweileunter sehr proviso-
rischen Bedingungen – sei das in Flüchtlingssied-
lungen im Nahen Osten, in Slums auf dem indi-
schen Subkontinent oder in denBarackensied-
lungen undFavelas in Südamerika. Die Probleme,
die sich europäischen Städten stellen, sind imVer-
gleich dazu fast schon marginal. Die Idee der Stadt
kann also nicht ohne weiteres verallgemeinert wer-
den, aber dennoch: Ich denke, dass dieImpulseder
Urbanität wieauch unser Streben nach einerkom-
fortablen Umgebung, die individuellenKomfort
mit der Idee der Gemeinschaft in Einklang bringt,
ein universelles Bedürfnis sind.
ImVerlauf meines Berufslebens habensich die
Diskussionen rund um dasThema Stadt immer wie-
der stark verändert.Als ich Student war, ging es in
Europa vor allem um dieForm der Stadt: Ange-
sichts der negativenFolgen stadtplanerischerFehl-
entwicklungen in der Nachkriegszeit setzte sozu-
sagen eine Neubewertung der gewünschten physi-
schen Beschaffenheit von Stadt ein. ZuRecht kriti-
sierte man die Arbeit übereifrigerVerkehrsplaner,
ideologischer Architekten und sturer Stadtent-
wickler. Man sehnte sich nach den traditionellen
urbanen Qualitäten der Stadt des achtzehnten und
neunzehntenJahrhunderts zurück.DerVertrauens-
verlust gegenüber der Moderne betraf dabei nicht
allein die Architektur, sondern ganz generell unsere
Einstellungzu«Planung».Aufkommunaler Ebene
wurden grosse Planungsvisionen als gefährlich kri-
tisiert und der öffentlicheSektorinsgesamt als in-
effizient und unbrauchbar für die Umsetzung krea-
tiver Lösungen.
Besonders in Grossbritannien setzte sich da-
mals der Glaubedurch,dass der Privatsektor weit
effektiver, natürlicher und effizienter die Bedürf-
nisse der Gesellschaft erfüllenkönne als eine ver-
staubte staatliche Bürokratie. Nichts illustriert die-


Die faszinierende


Idee Stadt


Es ist die Anziehungskraft der Städte, die genau diejenigen


Qualitäten zerstört, die sie eigentlich so attraktiv machen.


Es droht das urbane Vakuumin den Zentren unsererStädte.


Gastkommentar von David Chipperfield

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