Süddeutsche Zeitung - 27.07.2019 - 28.07.2019

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DEFGH Nr. 172, Samstag/Sonntag, 27./28. Juli 2019 11


BUCH ZWEI


E

s ist 20 Uhr, und vielleicht hat
Mathias heute Abend noch ein
Date. Er blickt aufs Handy, eine
neue Nachricht. Wieder einmal.
Eine Frau fragt, ob er Lust auf
ein Eis habe. Getroffen haben sie sich noch
nie. Nur ein paarmal geschrieben. Wo
wohnst du? Was arbeitest du, was machst
du am Wochenende? Die üblichen Sätze
zum Kennenlernen. Nur fielen sie nicht am
TreseneinerBar,sondern übersHandy.Ne-
benbei. Auf dem Weg ins Büro oder
abends, wenn Mathias am Küchentisch in
seiner WGsaß. EinStrom ausNachrichten,
der neben seinem Leben herläuft wie die
Untertitel eines Films. Er klickt die Nach-
richt weg und sagt: „Vielleicht später.“ Er
weiß ja bereits, wen er will, und das ist
nicht dieFrau mit dem Eis. Und doch hater
Tinder nicht gelöscht. Vor ein paar Jahren
hat er sich bei der App angemeldet, kurz
nach seiner letzten Trennung. Heute war-
ten in seinem Handy mehr als 300 mögli-
che Dates. Begegnet man Mathias, 31, auf
Tinder, sieht man einen jungen Mann in
weißemShirt, darüber einJeanshemd. Der
Ansatz seiner blonden Haare schaut unter
einer Wollmütze hervor.
Julia, 25, würde den Datenanalytiker
vielleicht als „Weißbrot“ bezeichnen. So
nennt sie Männer, die sie nicht aufregend
findet. Sie sitzt in einem Restaurant im
Münchner Stadtteil Haidhausen. Die Pizza
sah auf Instagram so gut aus, dass sie hier-
her wollte – und so wie sie ihr Essen aus-
wählt, sucht sie auch ihre Männer aus. Die
eine Hand an der Gabel (sie hat dann doch
einen Salat bestellt), die andere am Smart-
phone,wischtsiesichdurch Tinder.„Weiß-
brot“, sagt sie und schiebt das Foto eines
Mannes mit Sonnenbrille nach links. Er
kommt weg. Das nächste Bild wird ange-
zeigt. „Weißbrot“. Wieder ein Bild. Alle
paar Sekunden entscheidet sie, ob ihr ein
Mensch gefällt. In der nächsten Viertel-
stunde sind das nur zwei.
„Mathias, 31“ ist unter den Dutzenden
Männern, die Julia angezeigt werden, an
diesemTagnichtdabei.Obwohlsiediema-
ximal möglichen Einstellungen gewählt
hat: Männer, Frauen. Von 18 Jahren bis
55+. Umkreis 100 Kilometer. Entweder hat
sie Mathias schon vor Wochen nach links,
also weggewischt. Oder er wird ihr erst
noch begegnen. Wer Julia auf Tinder trifft,
sieht eine junge Frau mit kurzem Top, ei-
ner engen Jeans und Chucks.
Fünf Stunden verbringt sie täglich am
Handy, davon viel Zeit bei Tinder. Eine
ernsthafte Beziehung aber hat sie noch nie
über die App gefunden: „Nach zwei Mona-
tendortverlierstdudenGlaubenansande-
re Geschlecht.“ Während sie sich durch die
Stadt swipet, also Bild um Bild wegwischt,
schreibt ihr jemand, den sie doch kontak-
tiert hatte: „Abenteuer oder Ernsthaftig-
keit?“ Er scheint für beides offen zu sein.
Sie geht nicht darauf ein. „Ich will nieman-
den,derbeideswill.“Denneigentlichsucht
sie, auch bei Tinder, die wahre Liebe.
Was das ist? „Ich weiß es nicht“, sagt sie.
„Ich glaube, ich habe es noch nicht erlebt.“
Es war noch nie so einfach wie heute, je-
manden kennenzulernen. Dank Tinder,
Grindr, Bumble, Once. Die Apps verspre-
chen alle das Gleiche: Schnelle Hilfe gegen
die Einsamkeit. Sie legen einem Akten von
Hunderten möglicher Partnerinnen und
Partner vor. Die letzten Urlaubsfotos, die
liebsten Lieder. Innerhalb von Sekunden
wird über die andere oder den anderen ge-
richtet: Hört Phil Collins? Geht gar nicht.
ArbeitetamTheater?Ohno.WarinIndone-
sien?BekommteinHerz.Nur,wennderan-
dere auch ein Herz vergeben hat, kann
man einander Nachrichten schicken. Sind
die vielversprechend, ist die nächste Stufe
im Assessment-Center der Liebe manch-
mal ein Telefonat, um noch einmal auszu-

sortieren, bevor man sich dann in eine Bar
wagt.
Das ist das Paradoxe: Viele wollen auf
Tinder mehr als nur schnellen Sex. Aber
auf der Suche nach Romantik gehen die
Leute so kühl vor wie eine Personalabtei-
lung bei der Auswahl des besten Kandida-
ten. Deshalb war es zwar noch nie so ein-
fach wie heute, jemanden kennenzulernen
–aberbeimSichtenvonHundertenKandi-
datenwirdeinesimmerschwerer:sichein-
fach zu verlieben.
Mehrals50Millionen Menschen aufder
Welt sollen Tinder auf ihrem Handy instal-
lierthaben,teiltdasUnternehmenaus Kali-
fornien mit. Zehn Millionen davon öffnen
die App täglich. Tinder kam im Jahr 2012
auf den Markt, und schon kurz danach lud
Julia die App herunter. Sie war für ein Stu-
diumindenUSA,dieNeugierwargroß.„Es
war irre – ein Campus mit 6000 Studenten
–undplötzlichhastduviele,diedugutfan-
dest, dort gesehen und konntest diskret
rausfinden, ob sie dich auch mögen.“ An-
fangs war Julia vorsichtig, zeigte wenige
Bilder und signalisierte selten Interesse.
„Da wusste man ja noch nicht, was pas-
siert, wenn es ein Match ist.“ Wenn also
zwei Menschen aneinander Interesse si-
gnalisieren. Ihr erstes Date hatte sie nach
wenigen Wochen, und seitdem verabredet
sie sich, wenn sie Single ist, alle zwei bis
drei Monate über Tinder. Meist für ein Es-
sen. Selten für mehr.
Wenn Mathias nur kurz mit Frauen hin-
undherschreibtundsiesichschnellverab-
reden, läuft es meist auf Sex hinaus. In den
Chatswirdhäufigschonklar,wasderande-
re will. „Lust auf Kuscheln?“, fragte ihn
zumBeispieleine Frau,mitderersichzuei-
nem „typischen Netflix-and-Chill-Abend“
verabredete. Die zeitgenössische Bezeich-
nung für den Klassiker des Datings, den
Filmabend. Mathias trifft noch immer

Frauen, knutscht, oder geht mit ihnen
nach Hause. Aber seit einer Weile macht er
ihnen keine Hoffnungen mehr, dass mehr
daraus werden könnte. Wegen der einen
Begegnung Ende März. Auf Tinder.
ErlagnachderArbeitimBettundwisch-
te sich durch die Stadt. Ein Abend wie viele
andere. Links, links, rechts. Rechts, links.
Sein eingestellter Radius reichte anschei-
nend noch bis zum Flughafen. Dort warte-
teeineFrauaufihrenHeimflugnachBrasi-
lien. Auf den Handys der beiden erschien
der Schriftzug: „It s a match“. Sie schrie-
ben, was arbeitest du, wo wohnst du? Nach
einer Woche wechselten sie zu Whatsapp.
InderWeltderInternetflirtsistdasderers-
te Vertrauensbeweis – die Handynummer
auszutauschen.
Wenn Mathias heute noch mal den An-
fang des Whatsapp-Chats sucht, muss er
nacheinpaarMinutendieHandzumScrol-
len wechseln und ist noch immer nicht im
April angekommen. Auf seinem Profilbild
trägt er ein Superman-Kostüm. Dann end-
lich, der Beginn:
Sie: „Mathias (Herz) I need a superman
in my life“
Er: „Amanda (Kuss-Smiley). WellI could
fly over to brazil with my superman po-
wers.“
Erschicktihramhäufigstendenlachen-
den Smiley mit dem Wassertropfen rechts
neben dem Gesicht. Sie schickt ihm am
häufigstendenSmileymitdenausgebreite-
ten Armen.
Getroffen haben sie sich noch nie. Im
Sommer wird Mathias tatsächlich nach
Brasilien fliegen. Ist er verliebt? „Ja.“
Beim Verlieben ging es seit jeher ums
Auswählen. Um den guten Geruch, Fält-
chen um die Augen oder einen witzigen
Spruch. DochderRahmen,indemmanauf-
regende Menschen treffen konnte, war vor
der Zeit des Internets kleiner: Sieht man
sich beim Tanzabend? Geht man in die sel-
be Schule? Julias 90 Jahre alte Großtante
hat ihren Mann im Schwimmbad kennen-
gelernt. „Ich konnte mir gar nicht vorstel-
len, wie die sich wieder getroffen haben“,
sagtJulia.„AberderhatdanachanihrFens-
ter geklopft. Mind-blowing.“
Heutegibt es allein aufTinder jedenTag
26 Millionen Matches. 26 Millionen Male
bekunden zwei Menschen gegenseitig In-
teresse – wobei das nicht heißen muss,
dass sie sich auch schreiben, geschweige
denn, dass sie sich jemals treffen werden.
Ein Match hat keine Bedeutung, weil es im
Zweifelsfall eines von Hunderten ist. Ma-
thias zum Beispiel hat nur mit einem
BruchteilderFrauenhin-undhergeschrie-
ben.VieleNachrichtenbliebenvonihmun-
beantwortet: „Wenn ich nicht sofort zu-
rückschreibe, dann gar nicht mehr.“ Viele
Menschen bleiben ein Foto in einer Galerie
der Möglichkeiten. Immer neue Matches
verdrängen die alten.
Letztendlich ist es mit Tinder wie mit
einem großen Supermarkt: Je mehr
Joghurts im Regal stehen, desto schwerer
wird es, sich für einen zu entscheiden und
der Marke treu zu bleiben. Während man
die eine Person noch trifft, ist das nächste
Date in der Hosentasche schon mit dabei.
Deshalb hört Mathias auch nicht auf, sich
mit anderen Frauen zu verabreden, ob-
wohl das Flugticket in seinem Mailpost-
fach liegt.
Wissenschaftler vergleichen Apps wie
Tinder mit einem Spielautomaten: Wenn
man einmal in der App drin ist, weiß man
nie, wanndernächste,vielleichtattraktive-
re Vorschlag kommt. Und die Unterneh-
men verdienen an dieser Sucht. Allein im
vergangenenJahrhatdieMatch-Group,zu
derTindergehört,umgerechnet1,6Milliar-
den Euro Umsatz gemacht.

 Fortsetzung nächste Seite

Mathias, 31,
verabredet sich mehrmals im
Monat über Tinder. Der Datenana-
lytiker sucht vor allem nach neuen
Bekanntschaften, nach
gutem Sex – und auch nach guten
Gesprächen.FOTO: SCREENSHOT/TINDER

Julia, 25,
sucht im Internet nach der
einen, wahren Liebe – und
verabredet sich alle paar Monate
über Tinder. Bisher blieb es
aber meistens bei einem Abend-
essen.FOTO: SCREENSHOT/TINDER

Verwischte


Liebe


Werein Date sucht, hatte es noch nie so leicht wie heute.


Wer einen Partner sucht, hatte es vielleicht noch nie so schwer.


Über das Verlieben in Zeiten des Tinder-Wahnsinns


von lea hampel, pia ra tzesberger und jür gen schmi eder
ill ustr at ionen: stef an dimitro v
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