Süddeutsche Zeitung - 27.07.2019 - 28.07.2019

(nextflipdebug5) #1

 Fortsetzung von Seite 11


Der Firmensitzvon Tinder befindet sich
auf dem Sunset Boulevard in West Holly-
wood, von der Terrasse aus im vierten
Stock kann man hinübersehen zu den le-
gendären Rockkneipen dieser Stadt, in de-
nen die Leute einst nicht nur Bands wie
zum BeispielThe Doorshörten, sondern
auch flirteten, knutschen und, glaubt man
all den Anekdoten, auf der Toilette mitein-
ander Sex hatten. Diese Zeiten sind vorbei,
einer aktuellen Studie im Auftrag von Tin-
der zufolge haben Dating-Apps die Old-
School-Varianten Bar, Freunde und Ar-
beitsplatz als wichtigsten Kennenlern-Ort
abgehängt. Auch in Deutschland.
„Das Stigma des Singledaseins gibt es
nicht mehr, und gerade bei jungen Leuten
auch keine Vorbehalte gegen Digitalisie-
rung“, sagt Tinder-Chef Elie Seidman, der
seine Ehefrau im Übrigen ganz klassisch
über einen gemeinsamen Freund kennen-
gelernt hat. Seidman ist ein mittelalter
Mann mit hoher Stirn, Julia würde ihn
wohl eher als „Weißbrot“ bezeichnen.
Er weiß, dass Tinder die Sucht danach
befriedigt, anderen zu gefallen: „Das ist
ein Grundbedürfnis des Menschen, das
manineinemkleinenDorfder1980ermög-
licherweise nicht bekommen hat.“ Sein
Geld verdient Tinder vor allem mit Wer-
bung, die zwischen den Profilen auftaucht


–undmit kostenpflichtigen Premium-An-
geboten. Mittlerweile zahlen nach Anga-
ben des Unternehmens4,7 Millionen Men-
schen auf der Welt für solche Extras. Etwa
dafür,dasssiesichansehenkönnen,werih-
nen schon ein Herz gegeben hat (bevor sie
der Person selbst ein Herz gegeben haben).
Ältere bezahlen mehr als Jüngere.
Detailszum Algorithmusverrätman bei
Tinder wie bei jeder anderen Tech-Firma
nicht, nur so viel: Berichte, dass Tinder ei-
ne Rangliste erstelle und dann Nutzer mit
ähnlicher Erfolgsquote verbinde, bezeich-
nete das Unternehmen als „alten Hut“.
Aber, ist es nicht schlecht fürs Geschäft,
wenn sich Leute verlieben und als Vertrau-
ensbeweis sämtliche Apps löschen? „Ich
nenne das ‚erfolgreiches Löschen‘, es kann
keine bessere Werbung geben“, sagt Seid-
man. Ein Problem wäre eher, wenn Leute
die App frustriert löschten, weil es nicht
gleich klappe. Tatsächlich installierten
manche die App später wieder, wenn es


dann doch nicht funktioniert hat: „Es geht
bei dieser Reise nicht mehr unbedingt um
das Ziel, sondern um Erlebnisse auf dem
Weg.“
Auch wenn manche Männer noch im-
mer in ihrem Profil stehen haben: „Deiner
Mutter sagen wir dann, wir haben uns im
Supermarkt kennengelernt“, wird heute in
Firmenkantinen oder auf Familienfeiern
ganz selbstverständlich von Tinder-Dates
erzählt. Es ist schon lange nicht mehr un-
cool, bei Tinder zu sein. Aber es ist auch
nicht mehr richtig cool. Tinder hat damit
angefangen,WerbungindeutschenInnen-
städten zu machen, und das war schon bei
Facebook das Zeichen, dass der Hype vor-
bei ist. Trotzdem kommen noch immer
neueAppsaufdenMarkt,undmanchenut-
zen gezielt die Schwächen von Tinder. Bei
Once bekommt man nur einen Vorschlag
proTag.BeiOkcupidwerdenInteressen ab-
geglichen.
Bei Bumble ist es den Frauen vorbehal-
ten, den ersten Kontakt mit den Männern
ihrer Wahl zu suchen, eine der Gründerin-
nen von Tinder hat die App mitentwickelt.
WersichregelmäßigdurchBumblewischt,
erkennt zum einen, dass weniger Men-
schen unterwegs sind als bei Tinder, zum
anderen aber auch, dass es von Woche zu
Woche mehr werden. Wie viele Menschen
BumbleinDeutschlandnutzen,willdieFir-
ma nicht preisgeben. Mathias hat sich die
App bislang noch nicht heruntergeladen –
und Julia hatte sie zwar kurz, nutzte sie
aber doch nicht. „Die Crowd da ist eine an-
dere.“ Auch bei Okcupid war sie mal. „Da
wurdenmirLeutemitdengleichenInteres-
sen vorgeschlagen, dabei will ich, dass mir
jemand Neues zeigt.“ Vielleicht ist es wie
mit allen Süchten. Hat man eine Droge,
bleibt man dabei. Julia blieb bei Tinder.
Sie hat Kommunikation studiert, arbei-
tet gerade auf einer Alm, am Wochenende
steht sie hinter der Theke eines Nacht-
klubs. Eigentlich ein perfekter Ort, um je-
manden kennenzulernen. Doch spricht sie
inderrealenWeltjemandan,istihrdasun-
heimlich. Sie fühlt sich gestresst, weil sie
direkt reagieren muss. Mathias vermutete
einmal, eine Frau, der er auf Tinder schon
geschrieben hatte, in der Bahn gesehen zu
haben. Er fragte sie im Chat danach – und
die Konversation war beendet. „Die fand
das richtig creepy“, sagt er.
Statt also an der Bar mit jemandem ein
Date auszumachen, klickt sich Julia auf
Tinder durch die Profile. „Zu viel Text“,
sagt sie und schiebt einen Mann weg, der
unterseinemFotoaufelfZeilenseinePhilo-
sophie des Lebens erklärt. Noch schlim-
meralszuvielistallerdingszuwenigInfor-

mation. Julia ist suspekt, wer sein Tinder-
profil nicht mit Instagram verknüpft, oder
auf der Plattform kaum Bilder hochgela-
den hat. Von Mathias gibt es auf Instagram
nur etwa 30 Fotos, von einem See im Wald,
einem Wochenende in Berlin. Julia würde
alleinspizieren, bevor siesicheventuellfür
einHerzentscheidenwürde.Diesen„Back-
groundCheck“machtsie,bevorsieInteres-
se signalisiert: Erst das Instagram-Profil,
dann googeln. Je mehr sie weiß, desto ef-
fektiver das Kennenlernen, bei einem Date
könnte sie Mathias fragen, warum er neu-
lich in Berlin war.„Ist dochlangweilig, die-
ses: Woher kommst du, was machst du?“

AberdieRechercheistauchAusdruckei-
nes neuen Misstrauens. Wie viele ihrer
Freundinnen trifft Julia sich mit einem
Mann erst einmal in einem Restaurant,
undbissieaufeinDatezu zweitanweniger
belebte Orte geht, dauert es Wochen. In die
Wohnung lässt sie selten jemanden. „Das
Schlimmste, was einem Mann bei einem
Tinderdate passieren kann, ist, dass die
Frau nicht so aussieht wie auf ihren Profil-
fotos“, sagt Julia. „Das Schlimmste, was ei-
ner Frau passieren kann, ist, dass sie am
nächsten Morgen ohne Kopf in der Isar
schwimmt.“
Mathias lässt keines seiner Dates durch
Suchmaschinen laufen. Selbst die Frau in
Brasilien, die er im August für drei Wochen
besuchen wird, hat er erst ein einziges Mal
gegoogelt. Er fand nur ein Profil in dem
Karrierenetzwerk Linked-in. Manche sei-
ner Freunde finden das naiv. Ob er sich si-
cher sei, dass ihn auf der anderen Seite der
Welt nicht jemand abziehen wolle? Mathi-
as aber hat den Urlaub mit seinen Freun-
den abgesagt und mit der Projektmanage-
rin in Brasilien vereinbart, dass sie beide
bis zu ihrem Treffen mit anderen nichts
Ernstes beginnen werden. Er sagt: „Ich ha-
beschon ein ziemlich gutesGefühl.“ Wobei
ihndasauch stresst, weiler nurnochweni-
ge Wochen vor sich hat, in denen er sich
mit anderen Frauen treffen kann. Seinen
Verabredungen sagt er zwar immer, dass
ernichtsErnstesanstrebt–aberdannspre-
chen sie doch über vergangene Beziehun-
gen, Familie oder heilende Wunden. „Das
ist emotional schon alles extrem anstren-
gend. Irgendwie bin ich auch froh, wenn
dasganzeDatenwiedervorbeiist.“Einefes-
te Partnerschaft würde ihn befreien vom
Tinder-Druck.

Als er die App an diesem Abend öffnet,
wirdihmdasBildeinerblondenFrauange-
zeigt. Seine „Tinder Power“ allerdings ist
aufgebraucht. Mathias nutzt die kostenlo-
se Version der App und hat heute schon so
vieleMenschen nach links und nach rechts
sortiert, dass er bezahlen müsste, um wei-
teren Frauen Interesse zu bekunden. Das
ist auch nicht nötig, er hat bereits genug
Kontakte gesammelt. Öffnet er Whatsapp,
stehtdorteinFrauennamenach demande-
ren und dahinter jeweils „Tinder“. Alle
FrauenhabenfürihndengleichenNachna-
men. Auch das ist eine Nebenwirkung der
Dating-Apps: Während sich die Menschen
auf ihren Profilen die größte Mühe geben,
einzigartigzuwirken,werdensiefürihrGe-
genüber austauschbarer. Das ist ein relativ
neues Phänomen, auch wenn das Geschäft
mit der Liebessuche im Netz fast so alt ist
wie das Internet selbst.
Die Website Match.com ging bereits im
Jahr 1995 online, dort stellten Agenturen
sich und die Profile ihrer Kunden vor. Bald
gabesPlattformen,aufdenendieLiebessu-
chenden selbst ihre Profile anlegten. Auf
der Vermittlungsseite Parship, die am Va-
lentinstag 2001 online ging, konnte man
einander erstmals Nachrichten schicken.
Und während sich die Geschäftsmodelle
weiterentwickelten,verändertesichmitih-
nen auch das Verständnis von Liebe: Das
wichtigste aller Gefühle wird gesteuert
vom Kapitalismus, die Soziologin Eva
Illouz schreibt vom Liebesmarkt. Das Pro-
blem nur ist, dass, wie auf manchen Märk-
ten, Angebot und Nachfrage nicht zusam-
menpassen. Studien zufolge sind Frauen
imInternet öfter anernsthaftenBeziehun-
gen interessiert als Männer, die suchten
eherdasAbenteuer.DashateinfacheGrün-
de: Frauen haben schlicht weniger Zeit,
denrichtigenPartnerzufinden, weilesmit
steigendem Alter schwieriger wird, Kinder
zu kriegen. Vielleicht wirken ihre Profile
auch deshalb teils überlegter. Julia sagt:
„Frauen machen Hochglanzbilder, Män-
ner posten Selfies aus dem Bierkönig auf
Malle.“

Sie hat gelernt, ganz genau hinzuschau-
en. „Isst der Running Sushi?“, fragt Julia
und sieht sich das Bild eines Kandidaten
noch einmal an. „Männer essen nicht mit
anderen Männern Running Sushi“, sagt sie.
Und folgert: Entweder stammt das Bild von
einem Date. Oder der Typ hat eine Freun-
din und schaut sich trotzdem online um.
Weit mehr als jeder dritte Nutzer von
Tinder soll in einer Beziehung sein. Sie zu
überführen ist amumfassendsten möglich
mit dem kostenpflichtigen Premiumsta-
tus. Julia und ihre Freundinnen haben sich
denzugelegt,umnachzusehen, obderPart-
nereinerFreundinwährendseinerBarcelo-
nareisetindert–undhabenihntatsächlich
ertappt.FrüherhättemanfürsolcheAnlie-
gen eine Detektei beauftragt. Man kann
heute viele selbst machen, wofür es früher
Profis gebraucht hat.
Gibt es heute überhaupt noch Partner-
vermittler? Was sollen die leisten, was der
Algorithmus nicht kann?
München, Brienner Straße. Der Name
Appelt auf dem Klingelschild ist einer un-
ter vielen, ohne weitere Erläuterung. Den
Menschen, die hier läuten, ist ihr Anliegen
oft unangenehm: Sie suchen Hilfe auf der
Suche nach Liebe, ganz klassisch und ana-
log.
Vor 27 Jahren hat Christa Appelt begon-
nen, Partnervermittlung zu ihrem Ge-
schäft zu machen. Einmal in ihrem Büro,
wird es auf der cremefarbenen Couch
schnell privat für die Kunden: Wie war das
Verhältnis zu den Eltern, wovor hat man
Angst, wünscht man sich Kinder, wohin
will man beruflich? Christa Appelt hört
sich die Antworten an und früher hat sie
dann in einem Schuhkarton nach einem
passenden Partner gesucht. Die handge-
schriebenen Karteikarten, für jeden Su-
chenden eine, waren ihr Kapital.
Heute führt sie ihre Kundendatei digi-
tal, aber nicht nur das ist anders als früher.
Ihre Kundschaft hat sich verändert. Als im
Jahr 2001 Parship online ging, kamen erst
mal weniger Suchende zu ihr. „Der Arzt
aus der Klinik hat es zunächst dort ver-
sucht.“ Nach ein paar Jahren aber hatte
sich dasGeschäft ihrzufolgewieder erholt,
mit einem Unterschied zur internetfreien
Zeit: Viele Menschen kommen immer spä-
ter im Leben zu ihr. „Wer bei mir klingelt,
hatschonallesprobiert“,sagtAppelt.Nicht
selten sitzen Frauen mit 38 Jahren auf der
Couch und hoffen, in wenigen Monaten ei-
nen Mann zu finden, um Kinder zu haben.
Dafürsindsiebereitvielzuzahlen:DasEin-
steigerpaket kostet mit seinen 4500 Euro
rund 164-mal so viel wie die teuerste Mit-
gliedschaft bei Tinder.
InihrerKarteifiltertAppeltnurnachAl-
ter, der Rest ist Intuition. Aber heute seien
die Menschen Masse und Tempo gewohnt,
und vor allem hätten sie weniger Lust, sich
auf das Gegenüber einzulassen. Manch-
mal muss sie Frauen überreden, sich mit
Männernzutreffen,diekleinersind,alssie
es sich wünschen.
Bei Tinder sind die Männer so groß, wie
sieessichselberwünschen–Studienzufol-
ge übertreiben die Männer gern, wenn es
umdieAngabe ihrerKörpergrößeimProfil
geht. „Ich hab noch nie nen Typen über
Tinder getroffen, bei dem die Größe ge-
stimmt hat“, sagt Julia. Mathias hat seine
Größe in seinem Profil erst gar nicht ange-
geben.
In einer Woche wird er nach Brasilien
fliegen. Zu der Frau, die er schon seit März
kennt und doch auch wieder nicht. Sie ha-
benausgemacht,dasssiesichihreStadtan-
sehen werden: Brasilia. Später wollen sie
weiter an die Küste.Bis zum Abflug wird er
Tinder nicht löschen. „Obwohl ich jetzt
schon auch richtig Bock habe auf was Ern-
stes.“ An diesem Abend trifft er erst einmal
noch die Frau mit dem Eis.

Once
setzt auf Entschleuni-
gung: Pro Tag bekommt
man nur einen einzigen
Vorschlag. Bei der Aus-
wahl hilft nicht nur
ein Algorithmus, sondern
auch ein sogenannter
Matchmaker, der die
Menschen anhand ihrer
Bilder zusammenführt.

Tinder
ist dieerfolgreichste
Dating-App in Deutsch-
land. Gefällt einem je-
mand, wischt man sein
Bild nach rechts – an-
sonsten nach links und
damit weg. Mittlerweile
hat sich ein eigenes Voka-
bular etabliert: tindern,
matchen, swipen.

Grindr
ist so etwas wie der Vor-
läufer von Tinder. Die
App richtet sich vor al-
lem an Homosexuelle
und funktioniert eben-
falls über Fotos. Grindr
gibt es schon seit 2009,
der Name setzt sich
zusammen aus „Guy“
und „Finder“.

Okcupid
will Menschen mit glei-
chen Interessen zusam-
menbringen und stellt
seinen Nutzern deshalb
einen Katalog an Fragen,
zum Beispiel zur Lieb-
lingsmusik, zum Essen
oder zum Reisen – aber
auch zum Klimawandel
oder zu Feminismus.

Bumble
versteht sich selbst als
die Feministin unter den
Dating-Apps. Nur Frau-
en dürfen die Konversati-
on eröffnen, nach einem
Match haben sie begrenzt
Zeit zur Kontaktauf-
nahme – schreiben sie
dem Mann nicht, fliegt er
wieder aus der Liste.

Das Problem: Wie auf den meisten
Märkten passen Angebot und
Nachfrage nicht zusammen

Die Frau, mit der er sich treffen
will, hat er erst ein einziges
Mal gegoogelt. Ist er naiv?

Candidate
setzt noch mehr als
andere Apps auf
den Spieltrieb:
Man erstellt ein Quiz
mit bis zu fünf Fragen –
und erst nachdem man
die beste Antwort
ausgewählt hat,
sieht man, wer sich
dahinter verbirgt.

Spricht sie in der


realen Welt jemand an,


ist ihr das unheimlich


12 BUCH ZWEI Samstag/Sonntag, 27./28. Juli 2019, Nr. 172DEFGH

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