Süddeutsche Zeitung - 27.07.2019 - 28.07.2019

(nextflipdebug5) #1
von car olin gasteiger

F


ürdielieben,armenKinder.Aufdie-
sesmoralischeMantraverlässtsich
Amazon wohl mit seiner jüngsten
Aktion. Zum Weltkindertag am 20. Sep-
tember will der Onlinehändler zusam-
men mit der Stiftung Lesen ein kostenlo-
sesMärchenbuch eineMillion Malunters
Volk bringen. Produziertwirdes im Ama-
zon-eigenen Verlag „Tinte und Feder“,
mit elf Märchen der Brüder Grimm und
fünf neuen Geschichten. Mit dabei ist et-
wa Iny Lorentz („Die Wanderhure“).
„Wir möchten, dass Lesen einen Platz
im Alltag aller Menschen findet und be-
hält“,sagtJörgF.Maas,derGeschäftsfüh-
rer der Stiftung Lesen. Das Geschenk sol-
le Familien erreichen, bei denen Lesen
noch nicht fester Bestandteil des Alltags
sei. Ein hehres Ziel, aber wie immer bei
Amazon muss man genauer hinschauen.


Der Internetgigant stiftet zwar Bü-
cher, machtdabei aber auch Werbung für
den eigenen Verlag und übernimmt die
digitale Distribution, was gerade junge
Kunden an die eigene Plattform bindet.
Damit es nicht nach einer totalen Mono-
pol-Aktion aussieht, sollen die gedruck-
ten Exemplare in den Filialen der Buch-
handelsketten Thalia und Hugendubel
verteilt werden. Alle drei Unternehmen
sitzen bei der Stiftung Lesen im Stifterrat



  • es wirkt wie eine unheilige Allianz der
    Großbuchhändler, die alle Lorbeeren der
    Leseförderung für sich behalten wollen
    und gerade kleinere Buchhandlungen
    ausschließen, in denen Kinder vielleicht
    noch durch persönliche Beratung an das
    Märchenlesen herangeführt werden. Die
    Verteilaktion der drei Großen ohne Auf-
    sicht oder Anleitung ist außerdem ein Af-
    frontgegenalldieBibliotheken,dieversu-
    chen, Lese- und Vorleseaktionen sowie
    Thementage zu organisieren, um Kinder
    auf kreative und individuelle Weise für
    das Lesen zu begeistern.
    Klar ist vor allem, dass Aktionen für
    Kinder nicht dazu dienen sollten, von ag-
    gressivemVerhaltenimBuchmarkt abzu-
    lenken – da sind Amazon, Thalia und Hu-
    gendubel alle nicht unschuldig. Beson-
    ders Amazon hat noch viel zu tun, um die
    Arbeitsbedingungen seiner Mitarbeiter
    zu verbessern, seine Marktmacht nicht
    unfair zu nutzen und endlich mal dort
    Steuern zu zahlen, wo der Umsatz anfällt.
    Dann glaubt man auch das Engagement
    für die lieben, armen Kinder.


Carolin Gasteiger las früher
gern „Diekleine Hexe“
aus der Ortsbuchhandlung.

Wir sind, was und wie wir lesen: Warum der
Umgangmit Büchern gelernt werden muss und wir mediale
Zweisprachigkeit brauchen  Seite 18

Wagner mit einer schwarzen Dragqueen:
Die„Tannhäuser“-Premiere bei
den Bayreuther Festspielen  Seite 17

Die gute alte Schrift


von marie schmidt

A

neinerzentralenStelledesRo-
mans „Ich bin ein Schicksal“
von Rachel Kushner unterhal-
ten sich zwei Verurteilte, die
nie wieder freikommen wer-
den. Sie stecken in einem Bus und wer-
denmitteninderNachtineinanderesGe-
fängnisverlegt: „DerNormalbürger wur-
de von unserem Anblick verschont, dem
Anblick eines Trupps mit Handschellen
und Ketten gefesselter Frauen.“ Draußen
zieht schemenhaft Kalifornien vorbei,
und eine der Frauen sagt: „Ich persönlich
fühle mich hier drinnen sicherer, bei al-
lem, was da draußen abgeht. Krankes,
gruseliges, verstörendes Zeug, das man
sich gar nicht ausdenken kann.“ Eine
merkwürdig bestimmte, eigentlich un-
heimlicheBemerkung.Der Romanistge-
rade auf Deutsch erschienen, nachdem
er in den USA unter dem Titel „The Mars
Room“ vergangenes Jahrziemliches Auf-
sehen erregt hat.

Das hatte damit zu tun, dass Rachel
Kushner für die fiktive Geschichte einer
Frau,dieihrenStalkererschlägt,sichkei-
nen Anwalt leisten kann und für immer
im Knast landet, den amerikanischen
Haftalltag so genau recherchiert hat, wie
ihn die Öffentlichkeit selten zu sehen be-
kommt. Außerdem durchzieht ihr Buch
eine düster faszinierende Drift. Kushner
erzählt nämlich nicht nur die eine, son-
dern verschiedene Lebensgeschichten,
die wie schicksalsgetrieben auf das Ge-
fängnis zulaufen.
UnterdemZwangdortkommteszuBe-
ziehungen zwischen Menschen verschie-
dener Hautfarben und sozialer Schich-
ten, was „draußen“ offenbar eher nicht
passiert. Die Dinge liegen irgendwie ver-
kehrt herum in diesem Roman: Wo man
die Delinquenten versteckt, die Drop-
outs,dieAußenseiter,ist„drinnen“,sozia-
ler Innenraum mit rauen, aber begreifli-
chen Regeln, ein sicherer oder jedenfalls
reeller Bereich. In der Freiheit dagegen
ist es gefährlich, herrschen Ungewissheit
und Ausbeutung.
Dahinter steckt nicht nur die übliche
Gesellschaftskritik. Das Gefängnis in der
Literatur, als Ort, an dem oder über den

geschrieben wird, steht von Marquis de Sa-
de über Alexandre Dumas „Graf von Mon-
te Christo“ bis zu Antonio Gramscis „Ge-
fängnisheften“ in der Tradition, die soziale
Normalität vonihren verdrängtenRändern
herzusehen.Inpopulärenamerikanischen
GeschichtenspieltesheuteeineandereRol-
le. Kushners Roman ähnelt zum Beispiel
stark der Netflix-Serie „Orange Is The New
Black“, deren siebte und letzte Staffel jetzt
startet. Beide Geschichten spielen in Frau-
engefängnissen und haben auch ein paar
dramaturgische Kniffe gemein. Vor allem
ist aber in beiden eine Haftanstalt das ei-
gentliche Zentrum der Gesellschaft.
Nunkönntemansagen,dassdadieFikti-
on einfach nur die Wirklichkeit in den USA
spiegelt, wo der Anteil der Inhaftierten an
der Gesamtbevölkerung höher ist als über-
all sonst in der Welt, selbst als in autokrati-
schen Regimen. WobeiPeople of Colorin
den Gefängnissen die Mehrheit sind, ob-
wohl sonst in der Minderheit. Die Bürger-
rechtlerin Michelle Alexander hat deshalb
das im Namen eines „Kampfes gegen die
Drogen“ aufgeblähte Strafsystem als Vehi-
kel des alten Rassismus beschrieben. „The
New Jim Crow“ hieß ihr einflussreiches
Buch von 2010. Sie konnte belegen, dass
durchsozialeUnterdrückungundKrimina-
lisierung heute die gleichen Ziele erreicht
werdenwiefrüherdurchRassentrennungs-
gesetze: Bürgerrechte nichtweißer Leute
einzuschränken.
„Orange Is The New Black“ ist eine Se-
rie, die über ihre sieben Staffeln ein irres
Ensemble von Figuren mit verschiedenen
Eigenschaften vonrace, class and gender
angesammelthat.Undnichtnurausmodi-
scher Diversitäts-Verknalltheit. Man be-
kommttatsächlichaucherzählt,wieunter-
schiedlich sich das Strafsystem auf ver-
schiedene Menschen auswirkt.

Bücher wie „The new Jim Crow“ und
Schlagwörter wiemass incarcerationund
prison industrial complexhaben inzwi-
schen das Bewusstsein nicht nur der Pop-
kultur geschärft, es gab auch politische
Maßnahmen.DieZahlenbessertensichet-
was. Gleichzeitig nahm aber mit der
Trump-Regierung die Bedeutung einer
anderen Form des Freiheitsentzugs zu,der
Abschiebehaft. 396448 Menschen lan-
deten2018 in Einrichtungen des Immigra-

tion and Customs Enforcement (ICE) der
VereinigtenStaaten.Dasspielteinewichti-
ge Rolle in der letzten Staffel der Serie.
Und während Donald Trumps Wahl-
kämpfe von den Sprechchören „Lock her
up“ und „Send her back“ untermalt wer-
den, dem Ruf, politische Gegnerinnen ein-
zusperren und aus dem Land zu werfen,
entstehtderEindruck,diepolitischeImagi-
nation der mächtigsten Kultur des Kapita-
lismus sei vom Ausgrenzen und Einbun-
kern, Festsetzen und Rauswerfen total be-
sessen.
Wobei das kein amerikanisches Spezial-
problem seinwird.Malabgesehenvondem
Einfluss,denamerikanischeGeisteszustän-
deauf denRest derWelt haben,klingeneu-
ropäischeDebatten,zumBeispielüberSee-
notrettung, nicht völlig anders. All das
kann einen daran erinnern, dass schon vor
zehn Jahren eine philosophische Theorie
sehrinModewar,diegezeigthat,wiefunda-
mental gerade liberale Demokratien auf
demAus-undWegschließenvonallemStö-
renden beruhen. Der italienische Philo-
soph Giorgio Agamben und die amerikani-
sche Theoretikerin Judith Butler argumen-
tierten, mitten unter uns normalisiere sich
der Ausnahmezustand. Jetzt kann man in
Literatur und Fernsehserien die populari-
sierte Version dieses Gedankens sehen.
IneinerderneuenFolgenvon„OrangeIs
TheNewBlack“werdenzweiFraueninEin-
zelhaft gesteckt. Beide haben eine Art Mi-
grationshintergrund, und weil die eine
durch die Isolation völlig verstört wirkt, rät
die andere: „Um wieder zu werden, wer wir
davor waren, müssen wir tun, was wir vor-
her getan haben.“ Da winkt die nur ab: „Vor
was?DerIsolation?DemGefängnis?Ameri-
ka?“ In wenigen Worten kippt die zeitliche
Dimension eines Ausnahmezustands in ei-
nen räumlichen, und auf einmal steht das
LandderunbegrenztenMöglichkeiteninei-
ner Kontinuität mit der Gefängniszelle.
Dialoge und lakonische Kommentare
sind die absolute Stärke dieser Serie. Ihre
Schwäche ist ihre Hauptfigur, eine eher
langweiligeMittelstandsblondine,diewei-
ßen Zuschauern den Einstieg in die Hand-
lung erleichtern sollte. An den anderen Fi-
guren wird aber alles verhandelt, was
manchmalunterdemBegriffIdentitätspo-
litik verharmlost wird. Da geht es um
Transgender-Häftlinge, die hispanische
Community in Angst vor den Einwande-
rungsbehörden, umBlack Prideund de-
klassierte Opioidabhängige.
Von der Langeweile eines immer glei-
chen Knastalltags keine Spur. Soziale und

ökonomische Ungerechtigkeiten werden
nimmermüde in scharfe Pointen verwan-
delt. Und auch in Rachel Kushners Roman
gibt es keine Leere. Die Autorin ist offen-
kundig fasziniert von der Betriebsamkeit
des Gefängnisses, geschmuggelten Stö-
ckelschuhen und Knastalkohol, vergoren
aus Saft, Ketchup und Zucker, Brieffreun-
den, die Verbindungen nach draußen
schaffen, und der nützlichen Regel, Aufse-
herniezukorrigieren,wennsieimUnrecht
sind,weilmandannvielleichtamEndesel-
ber recht bekommt. Die Souveränität der

Insassen wirkt „drinnen“, wo sie Rassis-
musundSexismusuntergraben,indemsie
sich Sachen, Respekt und Solidarität ver-
schaffen, viel größer als in Freiheit, wo sie
beliebige Verschiebemasse sind: „Wir
mussten den Kunden gegenüber lieb und
nett tun, aber das war schon alles, das Ein-
zige, was von uns gefordert war, und nicht
mal dazu waren wir gezwungen.“
Der Ausnahmezustand der Inhaftierung
sieht in diesen Geschichten wie der „realis-
tischere“Lebensbereichaus,wodieStaats-
gewalt roh ist und die Widerstandskraft
wach,woIdeologienkörperlicheFolgenha-
ben und Beziehungen Überleben sichern.

Die Frage ist nur, ob jenseits der fatalen
Alternative von Disziplinargewalt „drin-
nen“ und zwangloser Entfremdung „drau-
ßen“etwas Dritteszuerkennenist.AmEn-
devonKushnersRoman sehenwirdieHel-
din in einem ausgehöhlten Baum Schutz
suchen, in dem ein Bienennest ist: „Im In-
neren des Stamms wurde das Summen der
Bienen zum Summen des Baums. Der
Baum selbst war stumm, also sprachen die
Bienen für ihn.“ Eine Kommunion mit der
Natur, die für die Rückkehr zu einer Un-
schuld jenseits der verwalteten, feindli-
chen Menschenwelt steht.
Gegen Ende der letzten Staffel von
„OrangeIsTheNew Black“läuft imHinter-
grund der alte Sinatra-Song „The House I
Live In“ in einer Version des Soul-Sängers
Sam Cooke. Das Original ist eine patrioti-
sche Hymne, Cookes Fassung wirkt eher
wie Kahlschlagliteratur: Das Haus, in dem
ich wohne, ein Stück Erde, eine Straße,
zählter auf, die Kirche,dieSchule, dieKin-
der, „the howdy and the handshake“, die
Gesichter, „all races all religions“, und die
Leute,dasVolk,„yes,especiallythe people,
that s America to me“. Ein Traum von Ein-
fachheit, in der es keine Ressentiments
gibt, weil man sich kennt und sich umein-
ander kümmert. So rührend diese Rück-
kehrinsÜbersichtlicheauchist,sovorpoli-
tisch wirkt es doch, wenn man für ein Ge-
meinwesen abseits des Ausnahmezu-
stands nach einer Fantasie sucht.

Beim Potsdamer Amtsgericht ist der An-
tragdesLandesBrandenburgzurFortset-
zungdesGerichtsverfahrensumEntschä-
digungsforderungen der Hohenzollern
eingegangen. Das bestätigte Matthias
Scharf, stellvertretender Gerichtsspre-
cher,amFreitag.NunmüsstendieAnwäl-
te der Hohenzollern dazu Stellung bezie-
hen. Bis zum Beginn der Verhandlungen
könne es noch Monate dauern. Das bran-
denburgische Finanzministerium hatte
am Mittwoch den Antrag bei Gericht ein-
gereicht. Bei dem 2014 gestarteten und
seit 2018 ruhenden Rechtsstreit geht es
darum, ob den Hohenzollern eine Ent-
schädigung zusteht. Nach Angaben des
Ministeriums müsse zuerst geklärt wer-
den,obdieHohenzollerndemnationalso-
zialistischen System Vorschub geleistet
haben.IndiesemFallestünde denBetrof-
fenen keine Entschädigung zu.
Die Nachkommen des letzten deut-
schen Kaisers Wilhelm II. fordern die
Rückgabe von Kunstgegenständen, ein
Wohnrecht im Schloss Cecilienhof oder
zwei anderen Liegenschaften sowie
1,2Millionen Euro Entschädigung vom
Land Brandenburg. Die Hohenzollern
wurdennachdemZweitenWeltkriegent-
eignet. dpa


DEFGH Nr. 172, Samstag/Sonntag, 27./28. Juli 2019 HF2 15


FEUILLETON


BUCHMARKT

Märchen zum


Weltkindertag


Inder Freiheit ist es gefährlich,
da herrschen
Ungewissheit und Ausbeutung

Wahlkämpfe, untermalt vom
Ruf, Gegnerinnen einzusperren
und aus dem Land zu werfen

Gibt es etwas Drittes
jenseits von Disziplinargewalt
und Entfremdung?

Hohenzollern:


Antrag bei Gericht


Einsitzen


Die letzte Staffel von „Orange Is The New Black“ geht los, und alle lesen Rachel Kushners Roman „Ich bin ein Schicksal“:


Warum wirken amerikanische Frauengefängnisse eigentlich gerade wie das Zentrum der Gesellschaft?


Die Verteilaktion der Großen


ist ein Affront gegen kleine


Buchhändler und Bibliotheken


Spezialist für das Düstere: Jörg Hart-
mann spieltin Salzburg in Horváths
„Jugend ohne Gott“  Seite 16

Über dem Abgrund


Song Contest
FOTO: ENRICO NAWRATH

DieFigurenin „Orange Is The New Black“ sind unterschiedlich, was „race, class and gender“ angeht. Aber nicht aus Vielfaltsverliebtheit. Es geht um Gerechtigkeit und um das Abbild einer Gesellschaft, in der die
Frauen durch das gemeinsame Schicksal als Außenseiter zu neuen Insidern werden. FOTO: NETFLIX

Die Kunsthalle München
i st ein Engagement der ist ein Engagement der

TÄGLICH 10–20 UHR
21.8., 18.9., 16. 10 .: 10–22 UHR

T Ä G L I C H 1 0 –2 0 U H R
2 1. 8. , 1 8. 9. , 1 6. 1 0. : 1 0 –2 2 U H R

© Sammlung Pierre Lassonde, Foto: MNBAQ, Idra Labrie

KANADA


UND DER IMPRESSIONISMUS
/
19.7. – 17.11.

K A N A D A


IN EINEM NEUEN LICHT

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