Süddeutsche Zeitung - 27.07.2019 - 28.07.2019

(nextflipdebug5) #1
von sonja zekri

U

ngefähr in der Mitte des Ge-
sprächs beugt sich Jörg Hart-
mann vor, sein Kopf schwebt
jetzt über dem Mikrofon auf
dem Tisch im Café Bazar in
Salzburg. Und er hat gute Nachrichten für
alle Dortmunder. Es wird demnächst et-
was Positives in einem „Tatort“ aus Dort-
mund zu sehen sein, nicht nur Zerfall und
SuffundTrainingsanzügevorZechensied-
lungen in Einstellungen, die, das ist ja fast
dasSchlimmste,nicht malinDortmundge-
dreht wurden. Hartmann spricht ins Auf-
nahmegerät, und es klingt fast feierlich:
„Ich verspreche das jetzt: Es werden bald
andere Sachen kommen, andere Orte, die
schöner sind.“ Der Technologiepark? Viel-
leicht das Kreuzviertel, wo Dortmund aus-
sieht wie Berlin-Schöneberg, weil es nicht
so zerbombt war? „Kommt noch. Ich
schwöre es. Kommt noch.“

Andererseits haben die Dortmunder
aber auch immer was zu meckern. Dabei
wird Hartmann auf seinen suizidalen Ber-
serker-Kommissar Peter Faber sogar hier
in Salzburg von Fans angesprochen. Sein
„Tatort“ sei der einzig lohnenswerte, weil
er kraftvoll und authentisch ist, schwören
sie. Zugegeben, bisschen düster, aber das
liegt am Genre. So was wie die Spaßbolzen
aus Münster ist Gold fürs Stadtmarketing,
aber nüchtern schwer erträglich.
So ungefähr hätte Hartmann das dem

Dortmunder Oberbürgermeister Ullrich
Sierau erklärt, nachdem der sich wegen
einer Folge mit besonders abgeranzter
Optik beschwert hatte, vorausgesetzt, Sie-
rau hätte seine Einladung auf ein „lecker
Pilsken“ angenommen. Was er nicht tat.
Zweierlei ist zu diesem Zeitpunkt deut-
lich geworden: Jörg Hartmann ist ein
enormunterhaltsamer Erzähler,nicht nur,
aber besonders, wenn er über das Ruhrge-
biet spricht, seine Geburtsstadt Herdecke,
die Eltern – der Vater gelernter Dreher,
dann Hausmeister in der „Sporthalle am
Bleichstein“,dieMutterSupermarkt-Ange-
stellte –, die Kindheit an einer Frittenbude
auf einer Verkehrsinsel. Mal in Herdecke
drehen, das wär s: „Ich bin ein Kind der
Kleinstadt, das merke ich immer wieder“,
sagt Hartmann. „Herdecke hat Fachwerk,
Herdecke ist zauberhaft, jetztkann ichmal
Werbung für meine Heimat machen. Fahrt
hin!“ Heute lebt er in Potsdam.
Außerdem, dies ist das Zweite, klingt
der 50-Jährige gerade unüberhörbar nach
Ruhrgebiet, was vorher nicht so war und
sich danach wieder verliert. Sein Erzählen
hat eine so pointensichere Schnodderig-
keit, als würde sich nicht nur der Sprecher
entspannen, sondern die Sprache selbst.
Ansonsten spürt man die Konzentrati-
on des Schauspielers vor der Premiere. An
diesemSonntagistHartmannbeidenSalz-
burger Festspielen in „Jugend ohne Gott“
zu sehen, einer Inszenierung von Thomas
Ostermeier nach dem Roman von Ödön
von Horváth. Das Buch erzählt von einem
LehrerimheranwachsendenNationalsozi-
alismus. Er ist kein Held und kein Verbre-
cher, sondern „auch nur ein Mensch, der
möchte, dass seine Krawatte richtig sitzt“
(Horváth), aber es mit einer Meute gehirn-

gewaschener, gewaltbereiter Schüler zu
tun hat. Ein Bootcamp, eine Liebesaffäre,
eintoterSchüler–undplötzlichistSchwei-
gen für den Lehrer keine Option mehr.
Horváth schrieb das Werk in Henndorf,
bei Salzburg. Es erschien 1937 in Amster-
dam und wurde in Deutschland verboten.
„Jugend ohne Gott“ bedeutete Horváths
Geburt als antifaschistischer Schriftstel-
ler, begrub aber auch alle Hoffnungen auf
einen Platz im System. Horváth hatte ja
durchausKompromissegemacht,Drehbü-
cher für die NS-Kulturindustrie verfasst.

Die Gewissensnöte des Anpassungswilli-
gen kannte er gut. In „Jugend ohne Gott“
schrieb er sie sich vom Leib.
Hartmann spielt denLehrer,und weiler
ein Schauspieler ist, der das Furchterre-
gende und das Bemitleidenswerte nicht
nur in derselben Figur, sondern in einer
einzigen Geste, einem Blick, einem winzi-
gen Innehalten zusammenbringen kann,
ist diese Besetzung von höchstem Interes-
se.FürHartmannistderLehrereinOppor-

tunist, der es dann doch schafft, „zu seiner
eigenen Wahrheit vorzudringen“. Aber er
will dieser Figur auch etwas mitgeben, das
Horváth nur andeutet, wenn er den Lehrer
den Brief eines Schülers lesen, ihn in die
Welt der Jugendlichen eindringen, ihre
Liebschaften bespitzeln lässt. Hartmann
will ihn in Verbindung setzen zu dem ju-
gendlichenT.,einemeisigenMenschenex-
perimentator, einem Mörder. „Da gibt es
eine Parallele. Definitiv. Das fängt ganz
früh an, und davon kann sich der Lehrer
nicht frei machen. Wann beginnt Schuld?
Dasist die große Frage des Stücks,deshalb
habe ich überhaupt angebissen.“
Ostermeier und seinDramaturg Florian
Borchmeyerhaben„Neger“durch„Afrika-
ner“ ersetzt, aber ansonsten nicht viel ak-
tualisiert. „Jugend ohne Gott“ bleibt eine
Parabel aus der Nazizeit. Trotzdem ist sie
natürlich ungeheuer zeitgemäß, vielleicht
sogar zeitgemäß bis zum Abwinken. Gibt
es wirklich noch jemanden, der die Rech-
ten schlimm findet, aber erst im Theater
von ihrem Aufstieg erfahren würde? Wann
führt Wachrütteln ins Koma?
Hartmann gegenüber formuliert man
diese Überlegungen diplomatischer. Aber
die Frage nach der politischen Wirkung
von Theater ist eine große und ewige und
einem Schauspieler mitdemSpezialgebiet
Abgrund und Ambivalenz vertraut. „Ich
kann mit Theater nicht die Welt retten. Es
ist und bleibt eine elitäre Veranstaltung,
vor allem in Salzburg, wenn man sich die
Kartenpreise anguckt.“ Aber da die Rech-
ten auch in gehobenen Kreisen gewählt
werden, statistisch gesehen von jedem
Dritten, und von denen ein paar im Zu-
schauerraum sitzen, warum nicht versu-
chen, einen, vielleicht zwei Köpfe zu errei-

chen? „Die Mitte kippt, das ist das Span-
nende“, sagt er und schiebt sofort nach:
„Aber natürlich auch das Unheimliche.“
Die Schlimmen liegen ihm mehr als die
Lichtgestalten, die Guten werden manch-
mal flach und eckig, Katalogware. Im bes-
tenFallgibterihneneinenZuginsArrogan-
te oder eine Sturheit, die sie fehlbar und
menschlich macht wie in Arthur Schnitz-
lers „Professor Bernhardi“, den er eben-
falls für Schaubühnen-Chef Ostermeier
spielte. „Was mich immer interessiert hat,
ist eine Form von authentischem Ton. Ich
hinterfrage mich ständig: Hartmann, was
du da anschiebst, ich glaube dir kein
Wort.“

Falk Kupfer haben ihm alle geglaubt, so
sehr,dassmancheZuschauereinenechten
Hass auf ihn entwickelten. Falk Kupfer ist
ein Stasi-Offizier in der ARD-Serie „Weis-
sensee“, ein angsteinflößender, angstzer-
fressener Karrierist, der drei Staffeln lang
Leben zerstört und in der vierten nach
dem Mauerfall in den Armen seines Bru-
ders stirbt. Hartmann, der für seine Dar-
stellung den Deutschen Fernsehpreis er-
hielt, verdankt Falk Kupfer eine Menge.
DennochhaterihnleichtenHerzensabtre-
ten lassen, es war sogar sein Wunsch. „Ich
wollte das nicht zum Sankt-Nimmerleins-
Tag durchziehen: Da kommt noch etwas
auf seine Schuldliste, dann versucht er da
wieder rauszukommen. Irgendwann ist
Sense.IchwolltediePartyverlassen,solan-
ge sie noch halbwegs schön ist.“
So kam er zurück zur Schaubühne, wo
er früher schon mal war. Zehn Jahre lang
hatte er mit Ostermeier gearbeitet. Dann
kamen„Weissensee“ und der „Tatort“ und
jetzt sind sie wieder zusammen, erst für
„Bernhardi“,dann für„Jugendohne Gott“.
Es sind die letzten Tage vor der Premie-
re und die ersten, in denen Hartmann vor
lauter Technik, Ton und Licht, Gängen,
Gassen und Video überhaupt zum Spielen
kommt. Ungeheuer anspruchsvoll sei die
Inszenierung, ein steter Wechsel zwischen
Epischem und Szenischem, Erzählen und
Handlung, das Komplexeste, was er auf
der Bühne je erlebt habe, sagt Hartmann:
„Der Ablauf muss perfekt getaktet sein, es
muss etwas Magisches bekommen. Erst
wenn das stimmt, kann ich anfangen zu
fliegen.“NochhabeerdieFigur„nichthun-
dertprozentig“, sagt er. Aber das mag der
Selbstschutz des Künstlers sein.
Aber warum überhaupt wieder Thea-
ter? Und warum noch mal Schaubühne
und nicht irgendwas ganz Neues, Perfor-
matives? Weil Theater eine kollektive Ver-
senkung in den Stoff erlaubt vor der En-
sembleleistung auf der Bühne. Beim Film
gebe es bestenfalls eine Leseprobe, dann
Kamera an, „zack – und bitte“.
Und warum wieder Ostermeier? Da
wird erkurz unwirsch:Die Schaubühne sei
„im guten Sinne konventionell“. Immer
müsse man sich rechtfertigen dafür, „dass
man nicht die Volksbühne à la Castorf
macht“. Er habe gar nichts gegen Perfor-
mance, solange es gelinge, die Welt des
Autors auf die Bühne zu bringen. Aber,
und da ist wieder dieser Hartmann-
Sound: „Wenn ich da vorne an der Rampe
irgendwie Männekes mache und meinen
Arsch ins Publikum halte, ist das ja eher
nicht förderlich.“

Spiel


über dem


Abgrund


Jörg Hartmann kommt


aus Herdecke und hat ihn drauf:


den Charme und Sound des Potts.


In Salzburg spielt er nun


in Horváths „Jugend ohne Gott“


Ich hinterfrage


mich ständig:


Hartmann, was du da


anschiebst, ich


glaube dir kein Wort.“


Ein Comic im Smartphone-Format
(der Bildschirm ist gewissermaßen
quergelegt). Tatsächlich hat der
Reprodukt-Verlag als Buch heraus-
gebracht, was zunächst auf Insta-
gram erschien: Lewis Trondheim
hat vom 1.1. bis zum 31.12. 2018
täglich eine Zeichnung um seine
berühmte Figur Herr Hase auf
Instagram veröffentlich. Nun liegen
die 365 Folgen von „Das verrückte
Unkraut“ als kleiner, dicker Band
vor, der sich flott durchblättern
und lesen lässt. Wobei lesen die
Sache nicht ganz trifft, der Comic


kommt ohne Worte aus. Er ist eben
eine Parallelwelt – und in eine Paral-
lelwelt gerät auch Herr Hase, als
Paris von gruseligem Grün immer
mehr überwuchert wird. Wilde
Kreaturen, wie entsprungen aus
einem Geisterbeschwörungsritual,
verfolgen ihn und seine altbekann-
ten Slackerfreunde. Trondheim
bedankt sich im Buch bei Hayao
Miyazaki, Moebius, H.P.Lovecraft
und Massimo Mattioli für deren
„wunderbare Welten“. Bescheiden,
luftig und lustig reiht er sich mit
seiner Fantasyspielerei in die Riege
dieser Großmeister ein.knb


Ricky Martin hat den puertoricani-
schen Gouverneur Ricardo Rosselló
gestürzt. Na ja nicht ganz allein,
aber er war auf jeden Fall die Galli-
onsfigur der Bewegung gegen den
Regierungschef des größten US-Au-
ßengebiets. Auf der Karibikinsel
war es kürzlich zum Eklat gekom-
men: Ein privater Chat zwischen
Rosselló und elf Vertrauten war an
die Öffentlichkeit gelangt. In den
darin enthaltenen Nachrichten
äußerten sie sich nicht nur frauen-
und schwulenfeindlich, sondern
auch respektlos gegenüber den
Opfern des Hurrikans Maria von


  1. Pop-Superstar Martin war
    selbst unter den Prominenten, die
    in den Chats homophob beleidigt
    wurden. Auf der Straße und in den
    sozialen Medien befeuerte er die
    sich ohnehin formierenden Protes-
    te, die auch die Korruptionsvorwür-
    fe gegen Rosselló vorantrieben. Auf
    einem LKW stehend schwenkte
    Martin bei Massenprotesten eine
    Regenbogenfahne. Es war eine von
    vielen in einem bunten Meer aus
    puertoricanischen Flaggen und
    LGBT-Fahnen. Nach Protesten vor
    dem Regierungssitz in San Juan hat
    der Gouverneur Mitte dieser Woche
    seinen Rücktritt angekündigt. Nur
    noch bis zum 2. August wird er im
    Amt sein. Puerto Ricos queere Sze-
    ne feiert den Abgang frenetisch.
    Weiterhin mit in vorderster Front
    natürlich Ricky Martin. Bei Insta-
    gram schrieb er: „Puerto Rico, wir
    haben es geschafft. Und zwar fried-
    lich. Ohne Waffen, wie Gandhi. Wir


haben Respekt gefordert und
wurden erhört. Respekt für unsere
Kinder und Frauen, für die LGBT-
Community und unsere Vorfahren.
Das wird nie wieder passieren.“
Bevor Martin 2010 bekannt gab,
homosexuell zu sein, hatte er seine
sexuelle Orientierung stets geheim
gehalten. Seine Berater hatten
mantraartig behauptet, er werde
viele seiner weiblichen Fans
verlieren. Was dann gar nicht
stimmte. Nun hat er in den sozialen
Medien aufgrund seines politi-
schen Engagements viele neue
Fans bekommen. Martin rief dazu
auf, auch in Zukunft wachsam zu
bleiben, wenn es um die Verletzung
von Menschenrechten und korrup-
te Politik gehe. Seine Latino-
Hymnen dürften auf den puerto-
ricanischen Straßen zur
Zeit an jeder Ecke zu hören sein.
maximilian senff

Ohne Waffen, wie Gandhi


FOTO: REPRODUKT

Gefährden Lidschatten, lackierte
Fingernägel und Auftritte im Fum-
mel das Bündnis mit der Arbeiter-
klasse? Nach einem internationalen
Treffen homosexueller Aktivisten
in West-Berlin, 1973, stand die Fra-
ge auf der Tagesordnung. Der „Tun-
tenstreit“ erfasste die junge Eman-
zipationsbewegung in Westdeutsch-
land. Die Anhänger eines offensi-
ven Auftretens, das Anderssein
öffentlich zu machen, nannten sich
„Feministen“. Sie konnten sich
nicht durchsetzen. „Die feministi-
sche Kritik an der Geschlechterord-
nung sollte für das politische Pro-
jekt der Schwulenbewegung keine
bedeutende Rolle spielen“, heißt es
in einer neuen Ausstellung des
Berliner Schwulen Museums. „Love
at First Fight!“ dokumentiert Au-
genblicke des queeren Widerstands
in Deutschland, seit Ende Juni 1969
Gäste der New Yorker Bar Stone-
wall Inn sich gegen eine Polizeiraz-
zia gewehrt hatten.
Die Ausstellung, kuratiert von Bir-
git Bosold und Carina Klugbauer,
erzählt keine eindimensionale Er-
folgsgeschichte vom Kampf gegen
den Paragrafen 175 bis hin zur Ehe
für alle, von den ersten Schwulen-
demos bis zum Riesenspektakel der
CSD-Paraden. All das spielt selbst-
verständlich eine Rolle, aber die
Plakate, Fotos, Interviews zeigen
vor allem die große Vielfalt inner-
halb der Emanzipationsbewegun-
gen und ihre Konflikte. Man sieht:
homoerotische Zeitschriften aus
den Fünfzigerjahren, Kneipenfotos,

Transparente, T-Shirts, Flyer. Viele
haben ihren Auftritt: die Ost-Berli-
ner Gruppe „Lesben in der Kirche“,
das Netzwerk schwarzer Frauen,
Trans-Menschen, die Theatergrup-
pe „Hibaré“, die im Ost-Berlin der
Siebziger mit einem von der Stasi
argwöhnisch überwachten Kaba-
rettprogramm ein Kneipenpubli-
kum begeisterte (unsere Abb.).
Die Ausstellung ist Teil des Multi-
media-Projekts „Queer as German
Folk“, organisiert vom Schwulen
Museum und Goethe-Instituten in
Nord- und Mittelamerika. Sie kann
dank der klugen Szenografie leicht
auf Reisen gehen und ergänzt wer-
den um weitere Stonewall-Momen-
te. Die Ausstellung solle, sagt Birgit
Bosold, „das Revoltenhafte“ einfan-
gen. Sie zeigt auch die Kraft und
den Zauber, die es hat, wenn Men-
schen ihr Leben in die eigene Hand
nehmen, weil es nicht in Frage
kommt, klein beizugeben. jby

Lewis Trondheim


DieFestivals geben gerade den Ton
an, Berlin steigt später ein, zum
„Tanz im August“. Opern geschlos-
sen, Orchester in alle Winde zer-
streut – die Hauptstadt klassikmu-
sikalisch leer gefegt. Wäre da nicht
ein so strebsames Unternehmen
wie Young Euro Classic, das sich
„Festival der besten Jugendorches-
ter der Welt“ nennt und, nach eige-
nem Bekunden, ein „rauschendes
Fest der Musik, der Jugend und der
Völkerverständigung“ ist. Mehr
geht nicht, so vollmundig muss die
Intonation schon klingen. Tatsäch-
lich: Was sich da im Berliner Kon-
zerthaus am Gendarmenmarkt
jeden Abend, noch bis 6. August, im
überfüllten Saal vor verzückten
Zuhörern ereignet, stammt im Wort-
sinn nicht von schlechten Eltern.
Extrem junge Orchestermusiker,
fast noch Kinder, sitzen in Edel-
schwarz gekleidet auf dem Podium,
verdanken ihr ausgezeichnetes
Können und Musizieren einer Erzie-
hung, die schon früh mit Eltern-
strenge und künstlerischem Eifer
einherging, mit Entbehrungen,
dem beständigen Üben an Geige
oder Cello, mit Flöte, Oboe, Trompe-
te oder Posaune. „Hier spielt die
Zukunft“ verkündet die Flagge
über dem Orchesterpodium. Alle
Beethoven-Symphonien ertönen
im Wechsel mit romantischer Mu-
sik, gemischt mit etwas Modernem
aus den jeweiligen Ländern.
Und Musikeuropa hat sich hier
längst anderer Kontinente bemäch-
tigt: Die Jugendorchester aus Po-

len, Rumänien oder der Türkei
geben solchen aus China und Chile,
der Dominikanischen Republik
oder den USA die Saalklinke in die
Hand. Am übernächsten Sonntag
wird Beethovens Neunte vom Euro-
pean Union Youth Orchestra unter
Vasily Petrenko aufgeführt, bewor-
ben als „Mitsingkonzert für Alle“,

übertragen per Live-Stream auf
den Gendarmenmarkt, wo Paare
und Passanten in die „Ode an die
Freude“ miteinstimmen sollen. Für
den chorgesangstechnisch heiklen
Finalsatz zur Gänze dürften sie
kaum präpariert sein, gewünscht
ist nur das Schmettern der kurzen
Europa-Hymne. Drei Wochen spä-
ter wird Kirill (nicht verwandt mit
Vasily) Petrenko mit den Berliner
Philharmonikern seinen Einstand
als Chefdirigent geben und dabei
ebenso die Neunte, diesmal vor
dem Brandenburger Tor für alle, in
den Berliner Abendhimmel schi-
cken. wolfgang schr eiber

VIER FAVORITEN DER WOCHE


„Jugend ohne Gott“
ist eineParabel aus der Nazizeit,
ungeheuer zeitgemäß

Die libanesische BandMashrou Leilahat
weltweit Millionen Fans und gilt als eine
der erfolgreichsten der Region, aber in
ihrer Heimat steht sie unter Druck von
christlichen Eiferern. Am 9. August soll
die Band an der Küste beim Byblos Inter-
national Festival auftreten, allerdings
fordern die katholischen Maroniten von
Byblos die Veranstalter des Festivals auf,
den Auftritt abzusagen: Die Band lehne
„den christlichen Glauben, religiöse
Werte und die menschliche Moral“ ab,
erklärte die Diözese Byblos. Mashrou
Leila verbreite „Promiskuität, Korrupti-
on und verletzt alles, was heilig ist.“
Der Sänger der Band Hamed Sinno
ist offen homosexuell, was im Nahen
Osten selbst für Künstlerkreise eine
Ausnahme ist. Sinno lebt in New York,
der Rest der Band im Libanon. Ihre Lie-
der berühren viele sensible Themen:
Repression, soziale Ungerechtigkeit,
Schwulenfeindschaft. Der Auftritt werde
unter allen Umständen stattfinden, sag-
te Sinno Nachrichtenagenturen: „Das
alles ist sehr verstörend und ganz offen-
sichtlich die Folge haarsträubender
Lügen.“
Im Internet wird die Kampagne ge-
gen die Musiker von einer Gruppe na-
mens Dschunud al-Rab geführt, Armee
des Herrn. Papst Franziskus haben sie
aufgerufen, Homosexuelle zu heilen,
nicht Schwulsein zu verbreiten. zri


Drei Wochen ist es her, dass der amerika-
nische RapperAsap Rocky in Stockholm
wegen Körperverletzung angeklagt,
verhaftet und in Untersuchungshaft
genommen wurde. Vorausgegangen war
eine Auseinandersetzung auf offener
Straße, bei der, wie mittlerweile mehre-
re Videoaufnahmen zeigen, der Musiker
und sein Gefolge vermutlich zuerst beläs-
tigt wurden, dann aber selbst mit einem
Übermaß an Gewalt zuschlugen. Der Fall
entwickelte indessen schnell eine Sym-
bolkraft, die weit über die Bedeutung
einer gewöhnlichen Schlägerei hinaus-
geht – und zwar zunächst vor allem von
schwedischer Seite, als ein Musikkriti-
ker der Stockholmer TageszeitungSvens-
ka Dagbladetdas schwedische Volk der
„Peinlichkeit“ wegen beschimpfte, einen
Rapper ins Gefängnis zu werfen, gleich-
zeitig aber zu Zehntausenden zum „Af-
ter Ski“-Rock vonMetallicazu pilgern.
Dann aber engagierte sich die höchste
Prominenz der amerikanischen Populär-
kultur – Kim Kardashian, Kanye West,
Melania Trump – in der Affäre, worauf-
hin der amerikanischen Präsident bei
seinem schwedischen Kollegen anrief,
diesen um die Freilassung Asap Rockys
bat und erklärte, für den Musiker
bürgen zu wollen (Bürgschaften gibt
es aber im schwedischen Recht nicht).
Seitdem wird um diesen Fall große
Krisendiplomatie betrieben: Die
schwedische Botschafterin in Washing-
ton brach ihren Urlaub ab, führende
schwedische Politiker suchten imaginä-
ren Amerikanern sowie dem eigenen
Volk zu erläutern, was Gewaltteilung
bedeute. Zuletzt erklärte Donald Trump
am vergangenen Freitag, er sei vom
schwedischen Ministerpräsidenten
sehr enttäuscht. Dieser lasse die Afro-
amerikaner im Stich, anstatt sich um
genuin schwedische Kriminalität zu
kümmern. Die Gerichtsverhandlung
gegen Asap Rocky wird in der kommen-
den Woche geführt werden. Ein Urteil
wird für den Freitag erwartet. Dass
Asap Rocky freikommt, und sei es
auf Bewährung, ist nicht gewiss.
th omas steinf el d


Der Schauspieler Jörg Hartmann
ist vor allem für seinen
rauen, depressiven Dortmunder
„Tatort“-Kommissar
Peter Faber bekannt. Seit 2016
spielt er wieder Theater:
im Ensemble von
Thomas Ostermeier an der Berliner
Schaubühne. FOTO: STEFAN KLUETER

Der Dortmunder „Tatort“ ist
so düster, dass sich der
Oberbürgermeister beschwerte

16 FEUILLETON Samstag/Sonntag, 27./28. Juli 2019, Nr. 172DEFGH


Stonewall-Momente


FOTO: MUTESOUVENIR/KAI BIENERT

FOTO: SCHWULES MUSEUM

FOTO: INSTAGRAM

Kampagne gegen Band


Young Euro Classic


Rapper vor Gericht


KURZ GEMELDET

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