Süddeutsche Zeitung - 27.07.2019 - 28.07.2019

(nextflipdebug5) #1
von steff en martus

I

rgendwannerkannteichmichnicht
mehr wieder. Meiner Hand fehlte
beimSchreibenderselbstverständ-
licheSchwung.InsbesonderedieSi-
gnatur, mit der ich mich auswies
und Dokumente beglaubigte, war mir
fremd geworden. Die Buchstaben fielen
ungelenkausundverschliffen,meineKör-
per vollzog nicht mehr jene jahrzehnte-
lang gewohnten Bewegungen, die mich als
Individuumausweisenundvonallenande-
ren unterscheiden sollten. Ich fühlte mich
wieGregorSamsa,dereinesmorgensüber-
raschtalsUngezieferaufwacht.Derperma-
nente Umgang mit der Tastatur digitaler
Medien hatte etwas mit mir angestellt. Ich
erzählte Freunden von der unheimlichen
Verwandlung. Sie berichteten mir Ähnli-
ches.Ichwaralsonichtallein.Wasaberge-
schah gerade mit uns?
SoungefährwürdemeineRezensionbe-
ginnen,wenndieLiteraturagentenderKo-
gnitionswissenschaftlerin Maryanne Wolf
oder des Komparatisten Martin Puchner
denTonvorgegebenhätten,derenStudien
über die Bedeutung der guten alten analo-
genSchrift nunübersetzt vorliegen. Popu-
läres Sachbuch goes TV-History-Doku.
NachdemdramatischenAufschlagwür-
de ich dann erzählen, welche Erlebnisse
mich auf die Idee zu meinem Text ge-
brachthaben,dassichUnmengenvonFor-
schungsbeiträgen durchgearbeitet und
auf der ganzen Welt mit Experten gespro-
chenhabe.SchließlichwürdeichauchMa-
ryanne Wolf an ihrerUniversität in Massa-
chusettsbesuchenundsofortfahren:Mas-
sachusetts – ich mochte den gleichnami-
gen Song (natürlich nicht dieBee Gees-
Schnulze,sonderndenKlassikerinderVer-
sion von Maxine Sullivan).


Wolf, die „selbsternannte Kriegerin des
Lesens“, eine leidenschaftliche Wissen-
schaftlerin mit einer Vorliebe für große,
bunteBrillengestelle,untersuchteseitLan-
gemdieEffektederDigitalisierungaufun-
ser Gehirn. Sie machte mir klar, dass die
Entfremdung von meiner Handschrift nur
ein kleines Symptom dafür war, wie sich
unsere Motorik ebenso wie unser gesam-
ter kognitiver Apparat gerade in atembe-
raubender Geschwindigkeit umorgani-
siert: „Gemeinsam stehen wir am Beginn
galaktischer Veränderungen, die sich im
Verlauf der nächsten paar Generationen
Bahn brechen werden.“Dieselbstgemach-
tenKatastrophendesAnthropozänsbetra-
fen nicht länger nur die Umwelt, sondern
auch unsere essenziellen Eigenschaften


als denkende Lebewesen. Die digitale Welt
machte Jagd auf uns. Das Schicksal der
Menschheit stand auf dem Spiel.
Man kann es im populären Sachbuch
mitderRanschmeißeandieLeserwirklich
übertreiben. Spannungsfragen,pädagogi-
sche Vergleiche und ermogelter Authenti-
zitätsgewinn durch permanenten Ich-Be-
zug lenken dann von der eigentliche Sache
eherab,alsdasssiedieseerhellen.DieThe-
men von Martin Puchner und Maryanne
Wolf aber sind so wichtig, dass sie auf die-
se rhetorischen Tricks leicht hätten ver-
zichten können. Aufschlussreich nämlich
werden ihre Gedanken zu Vergangenheit,
Gegenwart und Zukunft der „alten Medi-
en“ immer dann, wenn sie die Leser nicht
wie Helikopter-Autoren betüdeln.

WolfsPlädoyerfürdiebesondereQuali-
tät der Buchlektüre setzt an der „Plastizi-
tät“unsererkognitivenFähigkeitan.Spre-
chen ist genetisch vorgesehen, Lesen
nicht.WeilwirnichtalsLesergeborenwer-
den und zum Lesen Gehirnareale benut-
zen, die für andere Zwecke entstanden
sind, müssen Bereiche umfunktioniert
und neu verschaltet werden. Lesen prägt
damit „unsere Art zu denken“: Wie wir
schlussfolgern, Informationen einsortie-
ren oder unser Vorwissen zur Unterschei-
dung von Facts und Fakes nutzen.
Wenn wir nicht mehr analog, sondern
digitallesen,verändernsichdieseintellek-
tuellenGewohnheiten.Unskommtdie„ko-
gnitive Geduld“ abhanden, bei der Lektü-
re längerer Texten andere Perspektiven
einzunehmen,dieseGelegenheitzurÜber-
prüfungvonVorurteilen zunutzen unddie
Assoziationsfähigkeiten auf einer soliden
gedanklichen Grundlage zu erweitern.
MaryanneWolfgehörtzudenMitunter-
zeichnern der „Stavanger-Erklärung“, in
der in diesem Frühjahr mehr als hundert
Leseforscher aus ganz unterschiedlichen
DisziplinendieVor-und NachteilederLek-
türe von Papierdokumenten und digitalen
Angeboten abgewogen haben und zu ei-
nem klaren Ergebnis gekommen sind: Der
Bildschirm ist dem Papier unterlegen,
wenn es um das Verständnis umfangrei-
cher Texte geht, insbesondere wenn der
Zeitdruck steigt; in der Schule sollte der
UmgangmitBücherngezielteingeübtwer-
den.
Wolf will die intellektuellen Chancen
der digitalen Kommunikation nicht ver-
passen, aber die Fähigkeiten zum „tiefen“
Lesen bewahren. Die entscheidende Frage
ist daher, ob „ein einzelner Leser sich be-
wusst verschiedene Schaltkreise aneig-
nen“kann. Wolf plädiert nach dem Muster

zweisprachiger Erziehung für die Ausbil-
dung „medialer Zweisprachigkeit“ und
macht konkrete Vorschläge für die Ausbil-
dung„eineswahrhaftzweigleisigarbeiten-
den Gehirns“. Die Bildungspolitik müsste
dafür die Erkenntnisse der Leseforschung
allerdings nicht nur finanzieren, sondern
auchzurKenntnisnehmen.Wirftmanein-
fach einen Sack mit Tablets und PCs über
einem Kindergarten oder einer Schule ab,
ist die Wahrscheinlichkeit von Kollateral-
schäden sehr hoch.
Wolf hat ein Manifest in Form von Brie-
fen verfasst. Martin Puchner unterstützt
dieses Plädoyer auf ganz andere Weise, in-
dem er mit globalgeschichtlichem Weit-
blick von der „Macht der Schrift“ erzählt.
ErbeginntseineRecherche,dieeinenZeit-
raum von 4000 Jahren umfasst, mit der
Aufforderung der Bodenkontrolle an die
Besatzung derApollo 8, die Mondoberflä-
che genau zu erfassen – und zwar münd-
lich, weil die Kameratechnik nicht genug
hergab: „Wenn möglich“, so wünschte
man sich in Houston, „hätten wir das alles
gernesodetailliertgeschildert,wieihrPoe-
ten es nur könnt.“
DieKampfpilotenimCockpitdesRaum-
schiffs,diedenkbarweitentferntvonCrea-
tive-Writing-Seminaren ausgebildet wor-
den waren, machten ihre Sache gut: Der
erste besang den Mond „in der großen
poetischen Tradition des amerikanischen
Imagismus“, der zweite griff auf das Re-
servoir der Poesie des Erhabenen zurück,
und der Kommandant selbst gab sich als
existenzialistischer „Weltraumpoet“ und

schwärmte von der „Expansion des
Nichts“.
Dann ging es auf die dunkle Seite des
Mondes. Der Funkkontakt brach ab. Als
die Kapsel wieder auftauchte, hatte die
Crew vonApollo 8„eine Botschaft für alle
Menschen auf Erden“: Sie rezitierte in der
bis dahin populärsten Live-Übertragung
derGeschichtevor rund 500MillionenZu-
hörern den biblischen Schöpfungsbericht.
Die USA hatten denSputnik-Schock
überwunden und legten nun ideologisch
gegen jenen Gegner nach, dessen „Grund-
lagentext“ das Kommunistische Manifest
war. Im Weltraum tobte eine Bücher-
schlacht.
IndiesergroßartigenAnfangsszenelau-
fen vielen Fäden von Puchners Geschichte
zusammen:DasAlphabetderBibel,diedie
Apollo-Besatzung mit sich führte, wurde
in Griechenland erfunden, das Buchfor-
mat in Rom, das Papier in China, woher es
über die arabischen Länder nach Europa
gekommen war. Die Astronauten nutzten
also sehr alte Techniken für ihre Botschaft

an die Menschheit. Bis zur Umlaufbahn
des Mondes hatten sie es allerdings nur
mithilfe von Computern geschafft, die für
die „jüngste schreibtechnische Revoluti-
on“ verantwortlich sind. Von der „Kunst
des Erzählens“, so zeigt diese Episode,
lässtsichnichtohneRücksichtaufdieEvo-
lution von Codierungen, Medien und Ver-
breitungstechniken berichten.
MartinPuchnererzähltmeisterlich–so-
lange er seine eigenen Erlebnisse nicht so
wichtig nimmt, wie dies laut Danksagung
seine Literaturagentin fordert. So aber
kommt es zu Passagen mit extremer Fall-
höhe, etwa beim Vergleich mit Alexander
dem Großen, der sich auf seinen Feldzü-
gen in die Welt Homers fantasierte: „Wie
ich hatte auch er von dem Epos geträumt,
seit er als Kind zum ersten Mal von der ho-
merischen Welt erfahren hatte.“
Nunja,zwischendenTräumenvonAlex-
ander und Puchner liegen dann doch Wel-
ten. Dass Alexander ein Held aus dem
Geist der „Ilias“ zu sein versuchte, ist den-
noch eine grandiose Geschichte, um die
WirkkraftderPoesiezuillustrieren.Durch
die konsequente Verbreitung der griechi-
schen Sprache und des Alphabets führte
Alexander immer auch einen „linguisti-
schen Eroberungszug“ und installierte die
kulturelle, bürokratische und wirtschaft-

liche Infrastruktur, durch die Homers Epos
als Grundlagentext überlebte. Die Biblio-
thek von Alexandria war das grandiose
Zeugnis dieser Schriftpolitik.
Puchner hebt beim Gilgamesch-Epos ab
undlandetinderHarry-Potter-Welt.Dazwi-
schen geht es kreuz und quer über den Glo-
bus: „Lehrmeisterliteratur“ (Buddha, Kon-
fuzius, Sokrates, Jesus), der erste chinesi-
sche Roman, der verzweifelte Kulturkampf
der Maya gegen die spanischen Konquista-
doren, das „Kommunistische Manifest“
und das westafrikanische Epos von Sound-
jata – er erzählt keine lineare Geschichte,
sondern interessiert sich für Verzweigun-
gen, Wiederholungen und Rückschritte.
Weltliteratur lebt in komplexen Medien-
verbünden. Puchner und Wolf schärfen das
Bewusstsein für die Gleichzeitigkeit und die
jeeigene Bedeutung von mündlicher, hand-
unddruckschriftlichersowiedigitalerKom-
munikation. Mit literaturhistorischer Tie-
fenschärfe und den empirischen Befunden
der Kognitionswissenschaften zeigen sie,
dass wir sind, was und wie wir lesen.

Maryanne Wolf:
Schnelles Lesen,
langsames Lesen.
Warum wir das Bücher-
lesen nicht verlernen
dürfen. Aus dem Engli-
schen von Susanne
Kuhlmann–Krieg. Penguin
Verlag, München 2019.
304 Seiten, 22 Euro.

Die Protagonistin Silke und ihr Sidekick
Willy-Martin lernen sich bei einer Selbst-
hilfegruppe mit sperrigem Namen ken-
nen: „Für durch Eigenverschulden in Not
Geratene“. Ob es für solche Menschen tat-
sächlich eine Selbsthilfegruppe gibt, wie
in Giulia Beckers Roman „Das Leben ist
eins der Härtesten“, ist nicht bekannt. Sil-
ke jedenfalls hat vor fast 30 Jahren wäh-
rend eines Panikanfalls die Notbremse in
einem Regionalzug gezogen. Unfallkos-
ten,Geldstrafe,Schmerzensgeld–eigenes
Verschulden und große Not. Die Schulden
konnte sie zum Teil in Sozialstunden um-
wandeln. Seitdem arbeitet sie bei der
Bahnhofsmission in Borken, einer kleinen
Ortschaft im Münsterland.


Willy-Martin hat den Hund eines Förs-
terserschossen,weilihnderbedrohlichan-
bellteundinseinenSchuhbiss.Willy-Mar-
tins Mutter hatte nämlich schon in seiner
Kindheit scharenweise Hunde zu Hause,
die ihre komplette Aufmerksamkeit bean-
spruchten, sodass sich eine Mischung aus
Hundehass und -phobie tief in seine Psy-
che eingebrannt hat. Seine Tat kostet ihn
viel Geld und viele Jahre Schuldgefühle.
Und jetzt fährt er mit Silke, ihrer Freundin
Renate und der Nachbarin Frau Goebel in
den Freizeitpark „Tropical Islands“ in
Brandenburg, wo er von einem Fettnäpf-
chen ins nächste stapft.
WenneseinemandieserStelleschonzu
viel der Verrücktheit, oder auch der
menschlichen Belanglosigkeit ist, wird
man mit Beckers Buch nicht mehr glück-
lich. Die Geschichten von Silke und Willy-
Martin sind nämlich nur zwei winzige epi-


sodenhafte Anekdoten in einem ganzen
Witzuniversum, das die Autorin zu einem
Roman gemacht hat. Jede Anekdote für
sich würde über all die Seiten nicht tragen,
zusammen sind sie eine amüsante Unter-
haltung. „Das Leben ist eins der Härtes-
ten“ ist also vor allem denjenigen zu
empfehlen, die sich gern berieseln lassen.
Es ist quasi buchgewordene Doku-Soap,
ein bisschen was zum Lachen, ein biss-
chen was zum Seufzen, wie feinste Privat-
fernsehunterhaltung. Besondere Auf-
merksamkeit bekommt das Pech der
Protagonisten, oder, wie Willy-Martins
Mutter es an einer Stelle selbst formuliert:
„Wie das so ist, kommt man von einer
Scheiße in die nächste.“
Dastelltsich aberein merkwürdigerEf-
fekt ein beim Lesen. Silke, Willy-Martin,
die megapeinliche Renate und die ärmli-
che Frau Goebel sind auf ihre je eigene Art
undWeiseHeldender Geschichte. Alltags-
menschen, denen ihre Probleme über den
Kopf gewachsen sind, einsame, tollpat-
schige, kränkliche Menschen. Eine bunt
zusammengewürfelte Runde, die den
Wert der Freundschaft trotz schwelender
Konflikte erkennt. Das erinnert im ersten
Augenblick an Anna Gavaldas „Zusam-
men ist man weniger allein“ und weckt
wohlig-warme Empathie.
Manfreutsich,dassauchsolcheKleinst-
verdiener, kranke Rentner und klobige
Pechvögel zu Hauptfiguren gemacht wer-
den. Der Leser lernt sie gut kennen, ver-
steht sie, fiebert mit ihnen. Aber Becker
schreibt so über sie, dass man sich nicht
nur mit ihnen, sondern vor allem auch
über sie lustig machen kann, nach Her-
zenslust. Und das ist einfach nur gemein.
Renate, zum Beispiel, verliert ihren
Hund (Name: Mandarine Schatzi), weil er
im Flaschenhals einer Punica-Flasche er-
stickt. Sie ist darüber so traurig, dass sie

impulsivesTeleshoppingaufdemSofabe-
treibt. Becker beschreibt das so, dass man
sich nur noch an den Kopf fassen und
gleichzeitig nicht aufhören kann, sich die
Szene reinzuziehen. Willy-Martin muss
immer niesen und sich drehen, wenn ihm
etwas peinlich ist. Becker wirft ein: „Ein-
mal, als ihm sein Wechselgeld auf den Bo-
den gefallen war und er sich danach bück-
te, riss ihm die Hose, und man sah seine
Unterwäsche, er wurde purpurrot und
musste so oft niesen und sich drehen, dass
ihm danach schwindelig und kotzübel
war. Er erbrach seinen Amarena-Becher
mit extra Sahne in eine von Silkes Ein-
kaufstüten, und Silke musste ihre neu ge-
kaufte Seidenbluse ungetragen entsor-
gen.“ An anderer Stelle erinnert sich Silke
daran, wie ihr in der siebten Klasse von ei-
nem Apfelsaft so übel wurde, dass sie sich
im Religionsunterricht im „harten Strahl“
übergeben musste.
Abgesehendavon,dassBeckeroffenbar
ein Faible für kotzende Loser hat, tragen
diese Episoden nichts anderes zur Ge-
schichte oder zur Charakterisierung bei,
alsdieDemütigung.DasmagbeiScripted-
Reality-Shows gängige Praxis sein, um die
Gier des Zuschauers auf das Scheitern an-
derer zu bedienen. Im Roman kommt das
dem Verrat an seinen Protagonisten
gleich. Die Autorin erschafft sie ja selbst.
Wozu sie also derart dissen?
Giulia Becker ist 28 Jahre alt und Mit-
glied im Autorenteam der Sendung „Neo
Magazin Royal“. Dort gibt es bekanntlich
Diss zuhauf. Becker ist aber zunächst im
textenden Hintergrund geblieben, auch
als „Schwester Ewald“ konnte sie lange
quasi anonym über alles twittern, was sie
aufregt, Sexismus im Alltag zum Beispiel.
Die Veröffentlichung des Songs „Ver-
dammte Schei*e“, der innerhalb weniger
Tage via Youtube als „Scheidensong“ das

Prädikat frech-feministisch inder Popkul-
tur erhielt, hat die junge Becker als Sänge-
rin und Netzprominenz ins Rampenlicht
katapultiert. Ein Jahr später folgte der
nächste Song: „Monstertruck“, in dem sie
Übergrößen-Mode parodiert. Erst ihre
Scheide, dann ihr Übergewicht – Becker
geht die Sachen gern direkt an. So auch in
ihremBuch,das jüngstaufdeminternatio-
nalen Literaturfestival Lit.Cologne in Köln
mitdemDebütpreisausgezeichnetwurde.

Die Sprache des Romans ist auffallend
einfach, der Leser wird mit sehr vielen Ad-
jektiven versorgt. Die Probleme werden
unmittelbaraufdenTischgepackt:Derob-
dachlose Zippo hat Hodenkrebs und kein
Geld für eine Behandlung. Silke stürzt aus
maximalerNächstenliebeineineDepressi-
on, die in der Organisation eines grandios
gescheiterten Spendenlaufs gipfelt. Dass
das Geld erst verschwindet und dann auf
den letzten Seiten mirakulöserweise doch
wieder auftaucht, ist so vorhersehbar wie
verkitscht und gibt dem Roman, der trotz
unsympathischem Gedisse einen starken
erzählerischen Sog hat, den sonderbaren
Beigeschmack eines Märchens.
Kurz vor Beginn von Beckers Lesereise
hat die Feministin und Kolumnistin Mar-
garete Stokowski das Buch bei Twitter ge-
lobt und ihren Followern als Mittel gegen
schlechte Laune empfohlen. „Es hat keine
Nebenwirkungen“, schrieb sie. Eben.
ekaterin a kel

Giulia Becker:Das Leben ist eins der Härtesten. Ro-
man. Rowohlt, Hamburg 2019. 221 Seiten, 20 Euro.

Martin Puchner:
Die Machtder Schrift.
Wie Literatur die
Geschichte der Mensch-
heit formte. Aus
dem Amerikanischen
von Yvonne Badal.
Blessing Verlag,
München 2019.
448 Seiten, 26 Euro.

Keiner wird als Leser
geboren, der Umgang
mit Büchern muss gelernt
werden. FOTO: IMAGO

Fettnäpfchen, Amarena-Becher und andere Gefahren


Der Unterschied zwischen lustig sein und lächerlich machen wäre entscheidend: Giulia Beckers preisgekröntes Debüt „Das Leben ist eins der Härtesten“


Alexander wollte ein Held aus
dem Geist der „Ilias“ sein
und sicherte deren Bedeutung

Wir brauchen „mediale


Zweisprachigkeit“, ein wirklich


zweigleisig arbeitendes Gehirn


Was zum Lachen, was zum


Seufzen, wie feinste


Privatfernsehunterhaltung


Dass am Ende mirakulöserweise
alles gut geht, gibt dem Buch
den Beigeschmack eines Märchens

Wir sind,


wie wir lesen


Der Komparatist Martin Puchner und die


Kognitionswissenschaftlerin Maryanne Wolf


verteidigen die analoge Schrift


Giulia Becker gehört zu den Autoren der Fernsehsendung von Jan Böhmermann.
Für ihren Roman bekam sie den Debütpreis der Lit.Cologne. FOTO: IMAGO/MIGGLESWORTH

18 FEUILLETON LITERATUR Samstag/Sonntag, 27./28. Juli 2019, Nr. 172DEFGH

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