Süddeutsche Zeitung - 27.07.2019 - 28.07.2019

(nextflipdebug5) #1
Auf dieser Seite
zeigen wirjede
Woche neue,
unbekannte oder
verschollene
Werke von Künst-
lern, Autoren,
Architekten,
Komponisten,
Regisseuren und
Designern. Sie
sprechen für sich
selbst, wir erzählen
die Geschichte
ihrer Entstehung.

Vor seiner mit Spannung erwarteten „Idomeneo“-Premiere


in Salzburg gibt Theatergenie Peter Sellars erstmals Einblick


in seine Partitur – mit sehr persönlichen Anmerkungen


„PrisonerInterview“hatsichRegisseurPe-
ter Sellars auf die erste Partiturseite von
Wolfgang A. Mozarts „Idomeneo“ notiert,
darunter steht „one table one chair“, alles
inGroßbuchstaben.DerKrieg,wieihnheu-
tedieWeltimIrak,inSyrien,inderUkraine
kennt,denkannteschonMozart,derhierei-
neEpisodeausdemTrojanischenKriegver-
tont, die Rückkehr des Titelhelden in sein
KönigreichKreta.Sellars,immeraufAktua-
lisierungen aus, schlägt da nur einen Bo-
gen über 200 Jahre von der Münchner Ur-
aufführung des „Idomeneo“ 1781 zur er-
sten Opernpremiere der Salzburger Fest-
spiele2019,dieandiesemSamstagstattfin-
det. Auf der Bühne steht Ilia, eine Tochter
des unterlegenen und ermordeten Königs
von Troja, und erzählt umständlich und
mit vielen Seufzern ihr Schicksal, auch,
dasssie sichdummerweise indenSohndes
Siegers Idomeneo verliebt hat. Sellars, da
sind seine spärlichen Eintragungen in die
Partitur ganz deutlich, verwandelt die Sze-
neindasoffenbarrechtunangenehmeVer-
hör einer Kriegsgefangenen, deren lange
Rechtfertigungsrede von den Streichern

mal aufgeregt, mal sehnsuchtsvoll beglei-
tet wird. Sellars, der bei aller Fantasie im-
mer penibel Textgenaue, hat sich unter
den italienischen Gesangstext die engli-
sche Übersetzung notiert. Auf der abgebil-
deten dritten und vierten Seite der Rede
wird Ilia immer leidenschaftlicher, sie
agiert immer aufgeregter, man hat den
Eindruck, dass sie sich immer stärker ver-
heddert, in Widersprüche verstrickt. Sel-
lars verschärft die AufregungderFrau.Mal
notiert er ein ganz leises Pianissimo, mal
lässt er die Wachen eingreifen. Allein aus
Partitur und den Szenenanweisungen des
Regisseurs glaubt man, die Szene schon
live mitzuerleben. Und die rosaMerkzettel,
die in der Partitur stecken, erinnern daran,
dass Mozart hemmungslos mehr als drei
Stunden Musik für den „Idomeneo“ kom-
poniert hat, die ganz auf die Bühne zu brin-
genniemanddenMuthat,auchdieMozart-
Stadt Salzburg nicht. Da ist so ein rosa Zet-
tel eine große Hilfe, wenn die Aufführung
großzügig etliche Seiten der Partitur über-
springt–damit derRegisseur mühelosden
Anschluss an die Szene behält. rj b

22 FEUILLETON GROSSFORMAT Samstag/Sonntag, 27./28. Juli 2019, Nr. 172DEFGH

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