Süddeutsche Zeitung - 27.07.2019 - 28.07.2019

(nextflipdebug5) #1

Die Körper unter Hochspannung


Umeinen Diskus so weit wie möglich zu
schleudern, verbiegen sich Sportler zu ei-
ner Art gespannten Spirale. Anderthalb
Malrotieren die Werfer um dieeigene Kör-
perachse, bis sie das Sportgerät vom ge-
streckten Arm aus wegschleudern – hof-
fentlich zu einem neuen Rekord. Weil der
Athlet die Abwurfzone – einen Kreis mit
2,5 Metern Durchmesser – nicht verlassen
darf, bleibt ihm zur Beschleunigung nur
die Verdrehung des Körpers. Ein Teil der
Herausforderung ist es, sich nicht selbst
mit der Wurfscheibe aus der Abwurfzone
herauszuschleudern. Jedes Übertreten
macht den Wurf ungültig.
Bereits während der Spiele in Olympia
vor mehr als 2000 Jahren sollen Athleten
eine flache Scheibe aus mehreren Drehun-
gen heraus abgeworfen haben. Gegen En-


de des 19.Jahrhunderts war die Wurftech-
nik der heutigen bereits sehr ähnlich. Die
Erfindung der Verspiralisierung des ge-
samten Körpers als Weiterentwicklung
der Wurftechnik wird dem Leichtathlet
František Janda-Suk zugeschrieben, der
damit erstmals bei den olympischen Spie-
len 1900 in Paris antrat. Er soll angeblich
beim Studieren der berühmten Skulptur
des Diskuswerfers von Myron auf die Idee
gekommen sein.
Im 20. Jahrhundert schließlich flogen
die Scheiben deutlich weiter als je zuvor.
1912 reichten noch 47,58 Meter zum Welt-
rekord, 1976 überflog erstmals ein von
einem Mann geschleuderter Zwei-Kilo-
Diskus die 70-Meter-Marke. Einer Frau
war dies übrigens bereits im Jahr zuvor
gelungen. hann o charisius

Der Sound des Universums


Ohne Spiralen wäre es schwer, eine Tuba
zublasen–dasInstrumentwäre geradege-
bogen mehr als fünf Meter lang. Spiralen
sind auch bei der Trompete, der Posaune
oder dem Horn formgebend. Für den
KlangsinddieBiegungenzwareherneben-
sächlich, nicht aber unbedingt für den
Wert eines Instruments. So lässt sich an
derspiralförmigen„Schnecke“anderSpit-
ze einer Geige ablesen, wie geschickt der
Geigenbauer gearbeitet hat.
An der Frage, ob sich eine Spirale auch
akustisch darstellen lässt, hat sich der US-
Komponist George Crumb versucht, des-
sen Stück „Spiral Galaxy“ zum Leidwesen
der Musiker in Form einer Spirale notiert
ist. Die RockbandNine Inch Nailshuldigt
der Form auf dem Konzeptalbum „The
Downward Spiral“, das die Selbstzerstö-


rung eines Mannes bis zum Suizid be-
schreibt. Auch rhythmisch und melodisch
lassen sich in einigen Stücken des Albums
Spiralen heraushören: Die Musiker führen
etwa ein Thema im Kreis, und intensivie-
ren es zugleich durch andere Geräusche
oder auch absteigende Tonhöhen, was die
zunehmende Enge der Spirale aufgreift.
Für solche akustischen Experimente
gibt es Vorbilder in der Natur, etwa die
Galaxie NGC2207. Bilder dieses 80Millio-
nen Lichtjahre entfernten Sternhaufens
zeigenSpiralen,dieAstronomenalsSchall-
wellen deuten. Der Krach wird vermutlich
von Supernovae erzeugt. Von außen nach
innen wird es in der Galaxie immer lauter,
bis ein markerschütternder Bass 56Okta-
venunterdemmittlerenCdiePlanetenwa-
ckeln lässt. christo ph von eichho r n

Hebewerk aus der Antike


Der Universalgelehrte Archimedes ver-
fasste vermutlich bereits vor mehr als
2200Jahren eine Abhandlung über Spira-
len. Darin beschrieb er die nach ihm be-
nannte „Archimedische Spirale“, die ein-
fachste unter den Schneckenlinien. Le-
bensnahe Beispiele dafür sind bis heute
Lakritzschnecken und – die Älteren erin-
nern sich vielleicht – Schallplatten.
Nichtverwechselnsolltemandie„Archi-
medische Spirale“ mit der „Archimedi-
schen Schraube“. Diese überzeugt nicht
unbedingt durch mathematische Schön-
heit, sondern eher mit praktischem Nut-


zen.SiebestehtauseinerSteigwendelin ei-
ner geneigten Röhre und einem Reservoir.
Dreht man die Spirale in diekorrekte Rich-
tung, nimmt sie am unteren Ende Wasser
auf und befördert es bei stetem Weiterdre-
hen ans obere Ende der Steigwendel.
Heute werden solche Hebeanlagen et-
was irreführend auch als Schneckenpum-
pen oder passender als Schraubenförderer
bezeichnet – und vor allem für Schüttgut
verwendet. Auch Schneefräsen nutzen das
Funktionsprinzip. Weil sie recht zuverläs-
sig funktionieren und selten verstopfen
oder blockieren, werden sie zudem gern

zurBeförderungvonAbwasseroderGranu-
lat eingesetzt.
Dass Archimedes tatsächlich den
Schraubenförderer in seiner ursprüngli-
chenGestalterfundenhat, isthöchstwahr-
scheinlich eine Legende. Vermutlich hat er
die Idee bei Ingenieuren im Ausland abge-
schaut. Auch hat er nicht die nach ihm
benannte Spirale entdeckt, denn diese war
vor seiner Abhandlung bekannt. Dass die
heutige Menschheit Archimedes all diese
Erfindungen zuschreibt, hat wohl mit den
sonstigen Leistungen des Jahrtausend-
denkers zu tun. hann o charisius

Am Anfang war die Spirale


von mar lene weiss

A


lles begann mit der Spirale. Nicht
ganz am Anfang vielleicht, davor
gab es nach aktueller Auffassung
schließlich noch den Urknall, vor etwa
13,8Milliarden Jahren. Aber schon einige
Hundert Millionen Jahre später begannen
Staub-, Gas- und Materiewolken zu ver-
klumpen – und die ersten Galaxien ent-
standen.ZunächstwareneschaotischeGe-
bilde, aber vor etwa elf Milliarden Jahren
kam der folgenreiche Moment, in dem die
Natur die Spirale erfand. Weil die inneren
Sterne von Galaxien den Mittelpunkt auf-
grundderGesetzederPhysikschnellerum-
runden als die äußeren, wird jede solche
Struktur automatisch zu einer Spirale auf-
gewickelt.

Noch nicht ganz geklärt ist, wie sich die
vielen Milliarden Sterne in den Spiralar-
men verdichten. Vermutlich handelt es
sich um Dichtewellen, die sich durch die
Galaxie bewegen wie der Stau: Vorne rasen
die Autos wieder los, während die neuen
hinten abbremsen. Jedenfalls ist der Pro-
zessuniversell,Spiralgalaxiensinddiehäu-
figsten Galaxien im Universum. Dazu ge-
hört auch die hier illustrierte Milchstraße.
Das Prinzip Spirale taucht seither im-
mer wieder auf. Im Bildband „Spirals and
Vortices“desSpringer-Verlags,ausdemei-
nige der auf dieser Doppelseite gezeigten
Bilder stammen, sind unzählige weitere
Spiralen und Wirbel zu finden. Dazu gehö-
rendiespiralförmigenGehäusederAmmo-
niten, jene Kopffüßer, die vom Devon bis
zur Kreidezeit über Hunderte Millionen

JahredieMeerebevölkertenundalsFossili-
en erhalten sind.
In ihrem Fall war nicht die Physik, son-
dern die Evolution am Werk: Spiralformen
können auch das Ergebnis eines Wachs-
tumsprozesses sein. Oder sie entstehen
durch die Corioliskraft, die Luftströme auf
der Nordhalbkugel nach rechts, auf der
Südhalbkugel nach links ablenkt und so
Tiefs, Hochs und Wirbelstürme rotieren
lässt. Und als der Mensch schließlich auf-
tauchte, produzierte auch er bald Spiralen
in seinen Kultstätten und Gebäuden.
So beginnt man bald überall Spiralen zu
sehen, wenn man sich mit dieser Form be-
schäftigt. Was sind schon die elliptischen
Bahnen der Planeten oder die eckigen For-
men unserer Häuser? Im Grunde leben wir
in einer Welt der Spiralen.

Ganz schön

verdreht

Überall in der Welt gibt es Spiralen. Sie sind eine


universelle Form im Wunderwerk der Natur – und


gehen doch oft unter im Alltag voller gerader Straßen


und rechter Winkel. Einblicke in biologische Muster


und mathematische Eleganz


34 WISSEN Samstag/Sonntag, 27./28. Juli 2019, Nr. 172DEFGH


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