Süddeutsche Zeitung - 27.07.2019 - 28.07.2019

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Die fünfte Hand am dünnen Ast


Wennes um Spiralformen in der Tierwelt
geht, kommen wohl zuerst Muscheln, Aus-
ternschalen oder das gewundene Haus
einer Weinbergschnecke in den Sinn. Tat-
sächlich aber sind Spiralen in der Fauna
viel verbreiteter, zum Beispiel der zusam-
mengekugelte Tausendfüßer, der einge-
rollte Saugrüssel eines Schmetterlings
oder der Schwanz eines Chamäleons. Je
nach Tierart erfüllt die spiralförmige
Struktur unterschiedliche Funktionen:
Der Tausendfüßer rollt sich bei Gefahr zu-
sammen, um seinen empfindlichen Bauch
zuschützen.MancheArtenbildeneineper-
fekt geschlossene Kugel, die unweigerlich
an ein Schneckenhaus erinnert.
Bei Schmetterlingen hingegen ist der
Saugrüssel spiralförmig gebogen. Dieser
dient der Nahrungsaufnahme und erreicht


im ausgestreckten Zustand eine beachtli-
che Länge. Wird er nicht benötigt, rollt der
Schmetterling den Rüssel platzsparend
und eben spiralförmig unter dem Kopf zu-
sammen.
Das Chamäleon wiederum weist am
Schwanzende eine wohlgeformte Spirale
auf, die allerdings nur dann zu sehen ist,
wenn es schläft oder träge auf einem Ast
ruht. Sobald sich das Chamäleon bewegt,
rollt es den Schwanz aus und gewinnt da-
mit eine „fünfte Hand“. Zusammen mit
seinenanderenvierGliedmaßen,dieGreif-
zangen ähneln, wird die Echse so zur ge-
schickten Kletterin. Dass man ein Chamä-
leon manchmal trotzdem von einem Baum
stürzen sieht, hat einen anderen Grund:
Bei Gefahr lassen sich die Tiere fallen und
stellen sich tot. to bias herrmann

Treppe zum Himmel


Das Spiralminarett von Samarra zählt zu
deneindrücklichstenBeispielenderArchi-
tekturgeschichte. Der abbasidische Kalif
al-Mutawakkil ließ es im 9. Jahrhundert
auf die einst größte Moschee in der islami-
schen Welt nördlich von Bagdad bauen.
Heute stehen zwar nur noch die Außen-
mauern der Moschee, dafür führt die spi-
ralförmige Außentreppe immer noch über
50 Meter nach oben. Von hier aus hatte der
Muezzin einen großzügigen Überblick.
Doch war es auch der ideale Platz, um die
Gläubigen zum Gebet zu rufen? Vermut-
lich nicht, denn als der Abbasidenkalif
Ahmad ibn Tulun einige Jahre später ein
Spiralminarett auf die Ibn-Tulun-Mo-
schee in der ägyptischen Hauptstadt Kairo
bauen ließ, begnügte er sich mit weniger
Höhe, was übrigens bis heute zu sehen ist.
Das Spiralminarett, auf Arabisch „Mal-
wiyya“, ist damit ein gutes Beispiel, wie
früh Wendeltreppen in der Architektur zu
finden sind. Im Christentum assoziierte
man den Spiralbau lange Zeit mit dem
Turm zu Babel, im Alten Testament waren
sie Sinnbild für den Übermut der Men-
schen, die einen Turm zum Himmel bauen
wollten. Doch das ehrgeizige Bauprojekt
scheiterte, denn eine von Gott initiierte
Sprachverwirrung machte eine Verständi-
gung zwischen den Arbeitern unmöglich.
Heutestehtderwohlbekanntestezeitge-
nössische Spiralbau an der Upper East Si-
de in New York, das Solomon R. Guggen-
heim Museum, entworfen vom berühmten
Architekten Frank Lloyd Wright. Bereits
der Entwurf rief Kritik hervor. So würde
die Architektur des Museums den Bildern
im Museum die Schau stehlen. Ähnlich ar-
gumentierenmitunterauchultrakonserva-
tive Wahhabiten. Extravagante Kuppeln
oder Minarette würden vom reinen Glau-
ben nur ablenken. dunja ramad an

Kringelzungen und Ohrenschnecken


Auch der menschliche Körper, bekannt für
allerleisonderbareFormen,nutztdieSpira-
le als Form, und das gleich mehrfach. So ist
die sogenanntelingua geographica,auch
Landkartenzunge genannt, eine schmerz-
lose Veränderung der Zungenoberfläche,
die an das Relief einer Landkarte erinnert.
Diese Formen können mitunter auch spi-
ralförmig auftreten, wie auf dem Bild zu
sehen ist.
Die genaue Ursache ist unbekannt, ver-
mutlich löst ein Entzündungsprozess die
Abstoßung des Epithels aus. Das Phäno-
men tritt etwas häufiger bei Frauen und
Kindern auf. Eine Therapie gibt es nicht –
außer die klassischen Ratschläge, die im-
mer gelten, wenn sich der Körper mit einer
Entzündung meldet: Ruhe, Schlaf, gute
Ernährung mit weniger Zucker, Fett und


scharfen Gewürzen, wenig Stress. All das
kann helfen.
Dochnicht nurkrankhafteVeränderun-
gen im Körper treten in Form von Spiralen
auf, auch die normale Anatomie des Men-
schen kennt diese Form: Die Hörschnecke
im Innenohrist wohl das besteBeispielda-
für. Mit ihren zweieinhalb Windungen ist
sie essenziell für die Übertragung von
Schallwellen in einen Nervenimpuls. Das
passiert über Haarzellen in den Gängen
der Schnecke, die den Schall aufnehmen
und in elektrische Signale übersetzen. Wie
wichtig die spiralförmige Struktur für das
Hörenist,lässtsichanderMondini-Dyspla-
sie studieren: Diesen Patienten fehlt oft
eine ganze Windung der Hörschnecke –
dieFolgesindSchwerhörigkeitbiszurvoll-
ständigen Taubheit. felix hütten

Turbulenzen durch Schwergewichte


Wie gefährlich eine Spirale werden kann,
zeigt sich immer wieder am Himmel. Zum
Beispiel im Frühjahr 2017, als ein deut-
scher Privatjet des ModellsChallenger 604
nach etwa zwei Stunden Reisezeit in die
Nachbarschaft eines Riesenfliegers kam –
eines AirbusA380.
Diese Großraummaschine wiegt etwa
500Tonnen und ist damit fast 25-mal so
schwer wie das Kleinflugzeug. Beide Flug-
zeuge hielten sogar den Mindestabstand
von etwa 300 Meter ein, doch der kleine
Privatflieger wird kurz nach der Begeg-
nungheftigdurchdieLuftgewirbelt,diePi-
loten verlieren für kurze Zeit die Kontrolle
über ihr Flugzeug. Schuld hierfür waren
wahrscheinlich die spiralförmigen, soge-
nannten Wirbelschleppen. Sie wären den
Insassen der Kleinmaschine beinahe zum

tödlichen Verhängnis geworden, ein Ab-
sturz stand kurz bevor. Was war passiert?
Luftfahrtexperten untersuchten den
Fall und kamen zu dem Schluss: Der Air-
bus,miteinerFlügelspannweitevon80Me-
tern immerhin das größte zivile Flugzeug
der Welt, hat für jene extreme Luftverwir-
belungen gesorgt, die den Privatjet unver-
mittelt getroffen haben.
Diese spiralförmigen Verwirbelungen
der Luftmassen hinterlässt im Prinzip je-
des Flugzeug. Die Tragflächen eines Flie-
gers erzeugen Auftrieb. An den Flügelspit-
zen passiert das nicht. Sie drehen die Luft
zu einem Kreisel, ähnlich wie ein Rührstab
im Kuchenteig. Fliegt ein vergleichsweise
leichtes Flugzeug zu nahe an eine schwere
Maschine heran, kann es also passieren,
dassdieWirbelschleppeneswieeineFeder

durch die Luft pusten. Man kann sich die-
ses Phänomen wie einen Wasserstrudel
vorstellen. Heuteweiß man,welche Gefahr
von Wirbelschleppen im Luftraum ausge-
hen. Zahlreiche Beinaheabstürze sind ver-
mutlich auf diese Form der Spiralen zu-
rückzuführen.
Was hilft, sind üppige Sicherheitsab-
stände, denn die Schleppen verlieren nach
und nach an Kraft, so wie ein Wirbelsturm,
der über Land zieht. Diese Lösung klingt
trivial, doch ist sie in einer boomenden
Luftverkehrsbranche ein großes Ärgernis.
Enge Taktungen bei Starts und Landun-
gensindnötig,umdiegroßeZahlanPassa-
gieren zu bewältigen. Jede Minute, die ein
Flieger am Boden wartet, ist für Airlines
verlorenes Geld. Wirbelschleppe hin oder
her. felix hütten

Das Geheimnis der Goldenen Spirale


Mathematisch ist eine Spirale eine Kurve,
die sich um einen zentralen Punkt windet,
während sich der Radius stetig vergrößert
(oder verkleinert). Logarithmisch nennt
man jene Spiralen, bei denen sich der Ab-
stand zum Mittelpunkt mit jeder Umdre-
hung um den gleichen Faktor ändert.
Grafisch dargestellt wirken logarithmi-
sche Spiralen besonders elegant. Ein faszi-
nierender Spezialfall der logarithmischen
Spirale ist die Goldene Spirale, bei der sich
die Bogenabschnitte in Harmonie mit den
ProportionendesGoldenenSchnittsverän-
dern. Leider jedoch lässt sich eine Goldene

Spirale nicht ohne Weiteres mit Zirkel und
Lineal konstruieren, daher nähert man
sich anhand einer berühmten Zahlenreihe
an – den Fibonacci-Zahlen, bei denen sich
die jeweils nächste Zahl aus der Summe
derbeiden Vorgängerinnen ergibt: 1, 1, 2, 3,
5, 8, 13, 21... Verwendet man diese Zahlen,
so lassen sich Quadrate mit den entspre-
chenden Seitenlängen elegant ineinander
schachteln.ZeichnetmaninjedesderQua-
drate einen Viertelkreis, dessen Radius der
Seitenlänge der Quadrate entspricht, er-
hältmaneineSpirale,diesichwieeineNau-
tilusschnecke windet (siehe Grafik).

In der Natur gibt es viele Formen, die
sichandasKonstruktionsprinzipderFibo-
nacci-Spirale anlehnen. Das liegt oft dar-
an,dasseinePflanzeodereinTier imLaufe
des Wachstums neue Elemente – Blätter,
SchuppenoderPanzerung –dembestehen-
denOrganismus hinzufügt,undzwarnicht
linear, sondern spiralförmig. Ein schönes
Beispiel ist die Sonnenblume, über deren
Kerne im Blütenkorb sich nicht nur Vögel
undandereKnabbererfreuen.Mathemati-
ker sind fasziniert, denn in der Geometrie
der Kerne finden sie Dutzende Fibonacci-
Spiralen. patrick illinger

DEFGH Nr. 172, Samstag/Sonntag, 27./28. Juli 2019 WISSEN 35

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