Süddeutsche Zeitung - 27.07.2019 - 28.07.2019

(nextflipdebug5) #1
von johannes knuth

Tignes– Manchmal, wenn eine Etappe
nicht gerade vom Schlamm hinfortgespült
wird, geschieht bei dieser 106. Tour de
France etwas Ungewöhnliches. Da scheint
in dem fiebrigen Gewusel, in dem sich die
Favoriten gerade um den Gesamtsieg bal-
gen,einroterFarbtupferauf.EsistdasTri-
kot von Lennard Kämna, am vergangenen
Sonntag zum Beispiel: Da klemmt er sich
auf der schweren Etappe in den Pyrenäen
in die Gruppe der Ausreißer, Sechster wird
er am Ende. Und am Donnerstag, auf der
höllischen Prüfung über 5000 Höhenme-
ter nach Valloire, schiebt er sich sogar als
Vierter ins Ziel. Er lässt Nairo Quintana,
den Tagessieger, zwar entwischen, „aber
ich denke, das war die richtige Entschei-
dung – auf mein Gefühl zu hören“, sagt er
später. Er genießt sogar das Meer der Zu-
schauer,diesichseitStundenamColduGa-
libier an dem Rennen berauschen und an
sich selbst. „Das war immer das, auf was
ich gehofft habe“, sagt Kämna.
Dann fügt er an: „Das macht natürlich
auch Vorfreude auf die Zukunft.“
Die Zukunft, die liegt gerade vor ihm
wie ein Feld, auf dem ein paar sehr hüb-
sche Szenarien blühen: Heute die schwe-
ren Pässe bei der Tour hinauf, irgendwann
vielleicht im Gesamtklassement, wie sein
Landsmann Emanuel Buchmann bei die-
ser Tour. Auch wenn Kämna das ungern
hört. Dass er es kann, bezweifelt niemand
in der Szene. Der deutsche Radsport, der
nach den unrühmlichen Jan-Ullrich-Jah-
ren lange nur mit Sprintern und Zeitfah-
rern bei der Tour auffiel, entdeckt allmäh-
lich den Kletterpfad wieder. Aber es ist ein


zähes Gewerbe, erst vor zwei Jahren hat es
eine deutsche Hoffnung aus dem Sport ge-
spült: Dominik Nerz beendete mit 27 Jah-
ren seine Karriere, der Journalist Michael
Ostermann hat zuletzt ein beachtliches
Buchdazuvorgelegt.Essindzweispannen-
de Biografien, die da zusammensurren:
Kämna, der die Rundfahrten gerade ent-
deckt, und Nerz, der daran zerbrochen ist.
Lennard Kämna sitzt vor ein paar Tagen
im Hinterhof des Teamhotels in Albi, die
blonden Haare keck in der Vormittagsson-
ne,dieWiesewarfrischgemäht.EristinFi-
scherhude bei Bremen aufgewachsen, er
sagt oft „kann sein“, aber er musste ja nie
selbst viel reden. Das tun schon die Ergeb-
nisse.Erwar17,alser WM-GoldimZeitfah-
ren der Junioren gewann, über die Berge

kam er auch erstaunlich gut. Genau was es
braucht, um bei einer dreiwöchigen Rund-
fahrt vorne mitzumischen. Aber wenn
man ihn darauf anspricht, auf Träume
vom Gelben Trikot, nimmt er sogar den
Fantasien die Kraft: „Ich kann Träume
nicht formulieren“, sagt Kämna, „wenn die
zuweit wegsind.“Er hatsich immer gedul-
dig nach oben getastet, Nachwuchs-WM,
erster Profivertrag beim deutschen Team
Sunweb, die erste Tour in diesem Jahr, bei
der er einfach ankommen will. Er hat „echt
Bammel“ vor der Hektik und den Stürzen
in der ersten Woche, davor, wie im Peloton
schon 80 Kilometer vor dem Ziel an der
Spitze gerangelt wird. Aber bis zum Frei-

tag kommt er unversehrt durch, und egal
wie seine Tour endet: Er hat sein Ziel schon
übertroffen, mit Platz vier am Galibier.
Auch Dominik Nerz träumt als Kind
nicht vom Gelben Trikot, er mag die Frei-
heit des Radfahrens, mit dem er bald die
Welt erkundet. Aber sein erstes Rennen, in
der U13, versinkt erst mal im Chaos. Er
stürzt, dasKnieblutet, dieHautistabgezo-
gen. Nerz heult. Der Trainer schnauzt ihn
an: „Willst du mich verarschen? Das sind
doch nur ein paar Kratzer!“ Ein Radfahrer,
lernt Nerz, steigt sofort wieder aufs Rad.
Und weil er ehrgeizig ist, macht er immer
soweiter.Egal,obMilram,seinerstes Profi-
team, chaotisch organisiert ist und sogar
den schon damals schlecht beleumunde-
ten Mark Schmidt einstellt, der vor Kur-
zem als Dopingarzt aufflog. Oder wenn
Teamkollegen positiv getestet werden. Er
habe nie gedopt, beteuert Nerz, nie etwas
angeboten bekommen. Aber er nimmt zu-
mindesteinmaldasSchmerzmittelTrama-
dol,das seit 2019 im Radsport verbannt ist.
Ermachtweiter,bei aller Skepsis,ermacht
auch weiter, als er 2012 bei seiner ersten
Tour mit Liquigas fünfmal auf den Asphalt
knallt. Tagsüber betäubt das Adrenalin die
Schmerzen,nachtsschläfterkaum, weilso
viel Haut offen ist. Aber er kommt in Paris
an,undweilerseinenKapitänVincenzoNi-
bali gut in die Berge zieht, meldet sich das
Team BMC bei ihm. Die Equipe ahnt nicht,
dass Nerz längst in Problemen steckt.
Kämna hätte eigentlich schon 2018 die
Tour fahren sollen, aber im Juni merkt er,
dass irgendetwas mit ihm nicht stimmt. Es
ist, als lade ein Akku nicht mehr richtig
auf, und bei Sunweb, das die Fahrer so
streng überwacht wie kaum eine Equipe

im Radsport, bleibt das auch nicht verbor-
gen. Im Juni 2018 teilen sie mit, dass Käm-
na sich eine „temporäre Auszeit“ nehme.
„Ich war gesundheitlich und mental ein
bisschen am Limit“, sagt er in Albi, er sucht
sich eine Sportpsychologin. Sechs Wochen
löst er sich komplett vom Sport, er fährt
fünfMonatekeineRennen.„Gute Sommer-

ferien“, sagt er heute, „ich bin jetzt frischer
und besser als je zuvor.“ Manchmal, lernt
er, ist es besser, nicht gleich wieder aufs
Rad zu steigen. Nicht viele Kollegen neh-
men sich diese Freiheit.
Nerz kommt an seiner Karriere oft an
die gleiche Gabelung. Aber er schafft es
nicht,sichausdemStrudelzubefreien,der
ihn schon 2010 gepackt hat. Der Teamarzt
bei Liquigas setzt immer wieder die Fett-
zange an, dann schüttelt er den Kopf. Nerz
glaubt,ermüsseunbedingtGewichtverlie-
ren,sowiealleFahreranderSpitze.Erhun-
gertsich binnensechsJahren von70 auf56
Kilo herunter, bei 1,80 Meter. Irgendwann
ist er so dünn, dass ihm die Kraft im Ren-
nen fehlt, und weil die Erfolge ausbleiben,
denkt er, er müsse noch schlanker werden.
Bei Bora-18, wie die oberbayerische Equi-
pe damals noch heißt, wissen sie davon
nichts, als sie ihn verpflichten – sie sehen
seinen 14. Platz bei der Spanien-Rund-
fahrt, mit so einem, sagt Teamchef Ralph
Denk, wolle man bei der Tour 2015 unter
die besten Zehn. Nerz sagt später, das sei
so nicht abgesprochen gewesen. Aber er
trägt seine Probleme auch nicht richtig an
sein Umfeld heran.
Kurz vor der Tour 2015, bei der Dauphi-
né, stürzt Nerz in einem Tunnel so schwer,
dass er wohl eine Gehirnerschütterung er-
leidet. Aber er erzählt niemanden, wie
schlimm es in seinem Kopf hämmert, die
Tour wäre sonst futsch. Dort fällt er noch
zweimalaufdenKopf,steigtvölligentkräf-
tet aus. Ein Jahr später sagen ihm die Ärz-
te, dassNerz seinenKörper in eine tiefe Er-
schöpfung getrieben hat, er müsse drin-
gend mit dem Hochleistungssport aufhö-
ren. Es dauert ein Jahr, bis er das einsieht.

Wenn man Ralph Denk beim diesjähri-
gen Grand Départ in Brüssel fragt, äußert
er sich durchaus selbstkritisch. Sein Team
wuchs damals noch, Denk war Sportlicher
LeiterundschraubtegleichzeitigamMate-
rial. Kein ideales Umfeld für einen Fahrer,
der sich schwer mit sich selbst verirrt hat-
te, und das in einem Sport, der Fahrer
rasch ausspuckt, die nicht mitschwim-
men. Denk besuchte Nerz damals oft,
„aber oft erkennt man nicht“, sagt er, „wie
eseinemMenschenwirklich geht“.Mittler-
weile ist Bora-hansgrohe eines der stärks-
ten Teams. Heute, sagt Denk, würden bei
einem wie Nerz die Warnlampen wohl eher
anspringen. Sie beschäftigen bei dieser
TouralleinzweiTrainer,andiesichdieAth-
letenjedenAbendwendenkönnen,mitPro-
blemen oder einfach so. Buchmann, 60 Ki-
lo,1,81Meter,der2015NerzalsHelferdien-
te,sagt:„Ichhabedamalsschonmitbekom-
men, dass man da etwas aufpassen muss.“
Wenn mansichmit Kämna heuteunter-
hält,wirkterselbst anderOberfläche nicht
so verbissen, wie es Nerz damals war.
„Man muss irgendwie versuchen, sich rea-
listisch einzuschätzen und damit zufrie-
den sein“, sagt er: „Man kann nicht ständig
indieSpitzefahren.“Und: „DiesesDrei-Wo-
chen-Rundfahrerbusiness ist schon knüp-
pelhart. Im Moment ist das für mich noch
so weit weg.“ Er ist damit bislang ja sehr
gut gefahren: auf sein Gefühl zu hören, das
bei Nerz irgendwann betäubt war.
Nerz arbeitet heute übrigens in einem
Restaurant, mit dem Radsport hater abge-
schlossen. Er sei noch immer ein Suchen-
der, gesteht er in Ostermanns Buch, aber
er verspüre wieder ein Gefühl, das lange
verschüttet war: Freiheit.

Hockenheim– Und nun zu Boris Johnson.
Was er so denke über den neuen britischen
Premierminister?
Lewis Hamilton blickt auf. Verwundert,
überrascht? Er guckt wie immer, überlegt
auch nicht lange. Er hatte die Frage nach
Johnson ja provoziert. Tags zuvor hatte er
Theresa May, Johnsons zum Rücktritt ge-
zwungene Vorgängerin, für ihren Anmut
in Zeiten der Brexit-Wirrungen gelobt und
ihr „balls of steel“ unterstellt, womit er of-
fenbar Wertschätzung ausdrücken wollte.
Ach, England, sagt Hamilton nun. Er
sitzt am Donnerstag in seiner persönli-
chen Pressekonferenz an der Rennstrecke
inHockenheim.Englandseieinsokraftvol-
ler, spezieller Ort. Mit so vielen intelligen-
ten Menschen. Klugen Leuten, die Sachen
designen, die woanders nicht designed
werden. „Ich hoffe, dass es besser wird
und Johnson der Mann ist, der es schafft.“
Brexit. May. Johnson. Womit sich ein
fünfmaliger Formel-1-Weltmeister halt so
befasstin einer Saison, in der sich nach der
ersten Saisonhälfte die Frage nicht mehr
stellt,oberzumsechstenMaldenTitelein-
sammeln wird, sondern nur noch wann.
Gut, Hamilton hat schon auch über andere
Themen gesprochen. Über seinen Vater,
der als Drummer sehr viel Reggae mit
nach Hause gebracht habe, dazu Stevie
Wonder, Marvin Gaye. Er selbst habe als
Teenager eher Hip Hop gehört. Derzeit sei
er ganz angetan von einer dänischen Rap-
perin, obwohl er deren Songtexte gar nicht
versteht. Und Arnold Schwarzenegger! Su-
per Typ. Schwarzenegger spiele ja mit in
„TheGameChangers“,einerDokumentati-


on über Veganismus im Sport. Hamilton
ist Co-Produzent des Films.
Und Sebastian Vettel? Ob Hamilton fin-
de, dass Vettels Karriere vor genau einem
Jahr beim Rennen am Hockenheimring ei-
nen Bruch erfahren habe, von dem er sich
noch nicht erholt habe? Als er, als Führen-
der im WM-Klassement, die Nase seines
Ferraris nach einem Ausritt in der Sachs-
Kurve in eine Werbebande gebohrt hatte?

Och, sagt Hamilton: „Generell denke ich
nicht sehr oft über Sebastian nach.“ Ge-
wiss, er und Ferrari haben Mühe. Und Vet-
tel habe auch noch einen jungen Teamkol-
legen, der einen sehr guten Job mache: „Es
sind keine einfachen Zeiten für Sebastian.“
Einige hundert Meter entfernt sitzt Vet-
tel in der großen Pressekonferenz, in die
die Organisatoren jene Piloten laden, von
denen sie glauben, dass sie gerade Thema

sind. Und Vettels Geschichte ist nun diese:
Erhatseit333TagenkeinRennenmehrge-
wonnen, er hat 100 Punkte Rückstand auf
Hamilton. Sein Teamkollege Charles Le-
clerc ist in Frankreich, Österreich und Sil-
verstone aufs Podest gefahren. Vettel wur-
dederweilFünfter,VierterundSechzehnt-
er. Leclerc hat in England begeistert mit
seiner mutigen Fahrweise gegen Max Ver-
stappen. Vettel ist aufgefallen, indem er
Verstappen ins Heck rauschte, nachdem er
sich verbremst hatte. Zu Vettels Geschich-
te gehört auch, dass er in seinem fünften
Jahr bei der Scuderia endlich den Welt-
meistertitel gewinnen wollte. Doch nach-
demerundseinTeamsichindenvergange-
nen zwei Jahren verbessert hatten, ging es
in diesem Jahr gehörig abwärts. Hinzu
kommt:Vettel hatsich inKanada über eine
fragwürdige Bestrafung durch die Kom-
missare so fürchterlich geärgert, dass er
nun das ganze Regelwerk der Formel 1 in-
frage stellt. Die 2014 eingeführten Hybrid-
MotorennervenihnsowiesoschonseitJah-
ren, er findet, sie sind zu leise und haben
zu wenig Zylinder. Allmählich schwindet
seine Hoffnung, dass die Formel 1 sich von
diesem–ausseinerSicht– Irrwegnochab-
bringen lässt. Viel Freude wird ihm auch
die Zeitungslektüre nicht mehr bereiten,
bei der ihm in mannigfaltigen Publikatio-
nen eine wiederkehrende Rubrik auffallen
dürfte: die Auflistung aller Vettel-Fehler,
zeitlich beschränkt auf diese Saison, oder
ausgeweitet auf die vergangenen zwei.
InAnbetrachtdieserschwindelerregen-
den Sammlung an Ärgernissen kann ein
32 Jahre alter Rennfahrer schon mal mit

dem Karriereende konfrontiert werden.
Sacht, nur angedeutet: Ob er sich vorstel-
len könne, wie Kimi Räikkönen noch mit
40 Jahren zu fahren? Vettel ist viel zu lang
im Geschäft, um in eine derart ungetarnte
Bärenfalle zu treten, die jemand am hell-
lichten Tag mitten auf den Wanderweg ge-
legt hat. Im Ferrari zu sitzen, sagt er, sei
„keine Belastung, sondern ein Privileg“. Es
bereite ihm unglaublich viel Spaß, diese
Autos zu fahren. Die Motivation, seinen

Job bei Ferrari zu Ende zu bringen, sei
nach wie vor hoch. Vettel sagt aber auch:
„Eshängtdavonab,ob2021dergroßeRich-
tungswechsel in der Formel 1 erfolgt oder
eben nicht.“ Und überhaupt: 40 Jahre alt
werde er erst 2027!
Vettels Problem ist sein Auto, sein zer-
rüttetes Verhältnis zum Ferrari SF90H.
Mit Rennfahrern und ihren Autos verhält
es sich nicht anders als mit der Beziehung

zwischen Menschen. Entweder man
kommt klar, oder man kommt nicht klar.
Und wenn man nicht klarkommt, dann
muss sich entweder mindestens einer von
beiden ändern, oder es gibt halt keine Har-
monie. Ausgerechnet in dem beim Renn-
fahrenmaßgeblichenMoment,demAnfah-
ren einer Kurve, das hat Vettel erzählt,
traut er seinem Wagen nicht, den er in die-
sem Jahr „Lina“ getauft hat. Im ersten Teil
der Kurve fügt sich Lina nicht so in die
Spur, wie es Vettel gerne hätte. Er spürt ihr
Heck nicht, dieses bricht aus, der Wagen
untersteuert, was Vettel nicht so gerne hat.
ErmussgegensteuernundverliertZeit.An-
dersalsseinTeamkollege,derseitdreiRen-
nen weit besser zurecht kommt mit Linas
Zwilling.BeimRennen inFrankreichhater
erstmals einen Strategiewechsel vollzo-
gen. Vorher, sagt Leclerc, habe er versucht,
„meinen Fahrstil dem Auto anzupassen,
seit dem Rennen in Paul Ricard passe ich
das Auto mehr meinem Fahrstil an“.
21 Jahre alt ist Leclerc, er erlebt seine
zweite Saison in der Formel 1 und die erste
in einem potenziellen Siegerfahrzeug. In
den ersten Monaten bei der Scuderia sei er
noch etwas schüchtern gewesen, hat er er-
zählt. „Ich wollte nicht sagen: Ich will das,
dasunddas.“SeitdemRenneninLeCastel-
let sagterseinenIngenieurenaberdas,das
unddas–undhatVettelindreiQualifikati-
onen, drei Rennen und im zweiten Trai-
ning in Hockenheim besiegt. Drei Punkte
Vorsprung hat Vettel noch vor Leclerc.
Nach dem Rennen am Sonntag könnte sei-
ne Sammlung an Ärgernissen einen neuen
Eintrag erhalten. philipp schnei der

Dominik Nerz
FOTO: MARIOSTIEHL/ IMAGO

Lennard Kämna
FOTO: YORICK JANSENS/ IMAGO

Und dann, nachdem Frankreich wochen-
lang bei 40 Grad gefiebert hatte, wirkte es
amFreitagplötzlich so,alsbrechederWin-
ter über die Alpen herein – als wolle das
Wetter auch noch mitmischen bei der 106.
Tour de France, die einem zuletzt schon
beim Zuschauen die Sinne benebelt hatte.
SchwererHagelgingnieder,Baggerräum-
ten Schlamm hinfort, der sich in einer 50
Zentimeter hohen Lawine über die Ab-
fahrt vom Col de lIseran gewälzt hatte.
Die ersten Fahrer stürmten da gerade
vomGipfelherunter,abereshalfjanichts:
DerAbbruch warsokurioswieunvermeid-
lich, wie alle Beteiligten bald zugaben.
Die19.Etappe gingdennochindieWer-
tung ein: Sie wurde am 2770 Meter hohen
Iseran beendet, 30 Kilometer vor dem ur-
sprünglichenZieldes126,5Kilometerlan-
gen Tagesabschnitts. Das reichte, um ei-
nen Wechsel im Klassement herbeizufüh-
ren, der erwartet worden war: Julian Ala-
philippe, der Experte für die explosiven
Eintagesrennen, verlor im Anstieg zum
Dach dieser Tour den Kontakt zu den Bes-
ten und sein Gelbes Trikot an Egan Ber-
nal: Der Kolumbianer war am Iseran allen
Mitbewerbern enteilt wie schon am Vor-
tag am Galibier. Am Freitag gewann er
zwei Minuten auf Alaphilippe, eine halbe
Minute auf die übrigen Favoriten, die das

improvisierte Ziel gemeinsam erreichten:
Vorjahressieger Geraint Thomas, Steven
Kruijswijk, auch die deutsche Hoffnung
Emanuel Buchmann. Aber nicht Thibaut
Pinot. Der Franzose, der zuletzt so formi-
dabel durch die Pyrenäen gestürmt war,
stieg am Freitag nach 30 Kilometern vom
Rad, tränenerfüllt: Er leide unter einer
Muskelverletzung, teilte sein FDJ-Team
mit, die Spätfolge eines Sturzes. Wieder
ein Rückschlag in Pinots Biografie, die
Pech für drei Sportlerleben bereithält.
Frankreichs Hoffnungen auf den ers-
ten Gesamtsieg seit 34 Jahren kippten so-
mitsotiefinsNegativewiedasWetter:Ber-
nal liegt im Klassement nun 45 Sekunden
vor Alaphilippe, gefolgt von Thomas (1:03
Minuten), Kruijswijk (1:15), Buchmann
(1:42).UndAlaphilippedürfteesamSams-
tag noch weiter zurückwerfen, spätestens
am 33 Kilometer langen Anstieg hinauf
nach Val Thorens. Buchmann („Ich habe
noch nie so viel Hagel gesehen“) darf also
weiter hoffen, in Paris das Podium zu be-
steigen, er werde am Samstag zumindest
alle Reserven heben, versprach er.
Für den Samstag sind in den Alpen er-
neutUnwetterangekündigt,beiTempera-
turen von teils 10 Grad. Die Etappe wurde
auf 59 Kilometer verkürzt, weil weitere
Schlammlawinen abgegangen sind. jkn

Zerrüttetes Verhältnis zu Lina


Seit 333 Tagen kein Rennen gewonnen, 100 Punkte Rückstand auf Lewis Hamilton: Sebastian Vettel liegt der Ferrari SF90H nicht so gut wie seinem Teamkollegen Charles Leclerc


Vettels Problem ist das Auto:
Ausgerechnet im wichtigsten
Moment traut er ihm nicht

Bernal an der Spitze


19.Tour-Etappe nach Hagel und Schlammlawine abgebrochen


Alle Räder stehen still: Tour-Chef Christian Prudhomme (im Auto) informiert Egan Bernal (Mitte) und Simon Yates über den Abbruch der Etappe. FOTO: MARCO BERTORELLO / AFP


„Ich kann keine Träume
formulieren, wenn die zu weit
weg sind“, sagt Kämna

Auf dem Kletterpfad


Lennard Kämna tastet sich behutsam an seine erste Tour de France heran, Dominik Nerz ist an den schwersten Rundfahrten der Welt fast zerbrochen:


Die Biografien zweier deutscher Klassement-Hoffnungen erzählen viel über die Chancen und Risiken ihres Sports


DEFGH Nr. 172, Samstag/Sonntag, 27./28. Juli 2019 HMG SPORT 39


Was steht denn da? Ferrari-Pilot Sebastian Vettel ist zwar nicht planlos in Hocken-
heim,wirktaber doch ein wenig ratlos. FOTO: JERRY ANDRE / IMAGO
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