Süddeutsche Zeitung - 27.07.2019 - 28.07.2019

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FOTO: PICTURE ALLIANCE

Als Teodor Currentzis vor zwei Jahren bei
den Salzburger Festspielen Mozarts „La
clemenza di Tito“ dirigierte, glaubte man,
ein bislang unbekanntes Werk zu hören.
Noch nie war die Musik dieser Oper so
zart und gleichzeitig so wild gespielt wor-
den; strahlender Jubel stand annähernd
unverbunden neben rhythmisch exaltier-
tem Gehämmere, alles war sexy, dunkel
grundiert, zu jeder Sekunde aufregend.
Dazukam, dassCurrentzisundder Regis-
seur Peter Sellars andere Musikstücke
von Mozart hinzunahmen, ein gerade für
Salzburg sensationell sinnstiftendes Sa-
krileg, das trefflich über dramaturgische
Probleme dieserOper hinwegtrug.Spätin
der Nacht zog Currentzis dann mit dem
Chor in die Kollegienkirche und beschwor
in einem Konzert Mozarts Geist.
WenndiesenSamstagMozarts„Idome-
neo“ Premiere in Salzburg hat, werden
Currentzisund Sellars wieder in dieParti-
tureingreifen,werdenArien,diesiegräss-
lich finden, durch andere ersetzen. Es ist
zuerwarten, dass die Aufführung einwei-
terer Höhepunkt in der an Höhepunkten
reichen Karriere Currentzis wird.
Geboren wurde er 1972 in Athen, lernte
mit fünf Jahren Klavier und mit sieben
Geige, ging mit 22 zum Studium nach
St.Petersburg zum berühmten Lehrer
Ilya Musin und wurde 2004 Chefdirigent
der Oper von Nowosibirsk. Hier nun be-
gannsein sagenhafterAufstieg,baldwur-
deauchimWestenvomsibirischenMusik-
wunder geraunt. Currentzis gründete
sein eigenes Orchester und seinen eige-
nen Chor: „Musica Aeterna“ wurde zu ei-
ner verschworenen Gemeinschaft, die
sich selbst als Bruderschaft bezeichnete
und gern auch mal in Mönchskutten auf-
trat und auftritt, die Musiker spielen da-

bei, soweit möglich, im Stehen. Das wäre
in seiner semisakralen Anmutung ein fa-
belhafter Firlefanz, wäre die musikali-
sche Qualität nicht so herausragend.
Currentzis ist ein penibler Musikfor-
scher, doch seine Dirigate haben mit an-
ämischemAkademismusnichtszutun,er
paart historische Informiertheit mit radi-
kaler Expressivität. Als er bei der Ruhrtri-
ennale 2015 Wagners „Rheingold“ diri-
gierte, konnte man ihn schön bei der Ar-
beit beobachten. Das Bühnenbild war das
Orchester selbst, Currentzis verzichtete
auf ein Podium, auch auf einen Takt-
stock,er formtedieMusikmitseinenHän-

den,tänzelte,jatanzte,inhaliertemitoffe-
nem Mund die Musik, trug ein schwarzes
Flatterhemd und schwarze Springerstie-
fel mit roten Schnürsenkeln. Auf der Pre-
mierenfeierdanach legte erselbstversun-
ken elektronische Musik auf.
Nach seinem persönlichen Wunder
von Nowosibirsk ging er nach Perm und
machtedortgenausoweiter,dirigierteim-
mermehrinWesteuropa,leitetedieaufse-
henerregende Wiederentdeckung von
Mieczysław Weinbergs Oper „Die Passa-
gierin“beidenBregenzerFestspielen, diri-
giertevielenamhafteOrchesterundüber-
nahm im Sommer vergangenen Jahres
die Leitung des SWR-Sinfonieorchesters
inStuttgart,daszuvorohneechteNotwen-
digkeit aus den zwei bis dahin bestehen-
den SWR-Orchestern zusammengespart
worden war – gegen diese Fusion hatte
Currentzis immer wieder protestiert.
NunführterdiesesneuentstandeneOr-
chester zu Ruhm, widmet sich daneben
vor allem in geradezu manischen Proben-
prozessenseinemOrchesterMusicaAeter-
na.DieLeitungderOperinPermhat erge-
rade abgegeben, aufgrund von Differen-
zen mit der örtlichen Verwaltung: „Ohne
deren völliges Unverständnis, ohne jedes
Fehlen von Ehrfurcht und Einfühlungs-
vermögen hätteichnichtdieKraftfürdie-
se Entscheidung aufgebracht, mein Him-
melreich zu verlassen.“
Currentzis ähnelt mitunter Gary Old-
man als irrem Waffenhändler in Luc Bes-
sons„DasfünfteElement“.Erselbstspiel-
te im kilometerlangen Film-Wahnsinn
„Dau“vonIlyaKhrzhanovskydensowjeti-
schen Physiker und Nobelpreisträger Lew
Landau,einegeniale,sexbesessene,mani-
sche Figur. In manchen Facetten erinnert
die wohl an ihn selbst. egbert th oll

F


air ist das nicht. Wer derzeit mit der
Bahn unterwegs ist, darf sich zwar
dem guten Gefühl hingeben, dem
Klimawandel etwas entgegenzusetzen –
läuftabergleichzeitigGefahr,dessenAus-
wirkungen (Hitzerekord!) wegen ausge-
fallener Klimaanlagen besonders ungut
zu spüren zu bekommen. Die Bahn, diese
Feststellung fehlt in keiner verkehrs-
und klimapolitischen Debatte, ist der
Schlüssel für einen klimafreundlicheren
Transport von Reisenden und Gütern.
Oder besser: Sie wäre es. Denn leider ist
die Bahn so gar nicht in Form.
Der Rolle, die ihr zugedacht ist in der
Klimadebatte, ist sie in ihrem heutigen
Zustand nicht annähernd gewachsen.
Und natürlich wird Bahnfahren auch
dann nicht wie von Zauberhand günsti-
ger und verlässlicher werden, wenn Flie-
gen teurer wird. Warum auch sollte ein
Unternehmen auf Preissteigerungen der
Konkurrenz mit Preissenkungen reagie-
ren? Dass also etwas geschehen muss,
darüber waren sich Bahn und Bund
schon lange einig. Nun sind sie es sich
auch, was den Preis angeht.
Mehr als 86 Milliarden Euro sollen in
den nächsten zehn Jahren in das Bahn-
netz investiert werden. Das ist zwar eine
gigantische Summe. Der Sanierungsstau
aber ist ebenfalls erheblich, weshalb das
kräftige Plusgerechtfertigtist. Illusionen
aber darf man sich keine machen. Neue
Strecken sind in dem Paket nicht inklusi-
ve. Und leiden werden Bahnkunden auch
in den kommenden Jahren. Dann aber
vielleicht nur noch, weil endlich gebaut
wird. Und nicht, weil wieder was kaputt
ist. henrik e roßb ach


I


ndenUSAistdieTodesstrafe–sozy-
nischdas klingenmag –Teil despo-
litischenArsenals,mitdemdieGlau-
benskriegeausgetragenwerden:Abtrei-
bung, gleichgeschlechtliche Ehe, star-
ker beziehungsweise schwacher Staat
oderebendasRechtderJustiz,einKapi-
talverbrechen mit einem Leben zu süh-
nen – hier scheidet sich das liberale
vom aufklärungsfeindlichen Amerika.
Ein Attribut des Konservativismus ist
die Todesstrafe nicht, sie ist eher Aus-
weis einer atavistischen Gesinnung, ei-
ner simplen Gut-Böse-Ideologie.
Dass die Todesstrafe nun auch auf
Bundesebene wieder vollzogen werden
soll, steht in der Denklogik der Trump-
Präsidentschaft, wenn man denn Den-
ken und Logik in einen Zusammenhang
mit Trump bringen mag. Dies ist kein
billiger Seitenhieb, sondern ein ernstes
Thema: Was für einen Gewinn ver-
spricht sich die Regierung von dieser
Entscheidung?DieZahlderHinrichtun-
gen ist rückläufig, viele Bundesstaaten
haben sie inzwischen ausgesetzt. Die
Wiederaufnahme der Tötungen auch
für Verurteilte in Bundesgefängnissen
stellt die USA auf eine Ebene mit China,
Iran und Regimen ähnlicher Qualität –
und führt sie aus dem Kreis jener Staa-
ten,dieihreRechtsstaatlichkeitvomRa-
chegedanken getrennt halten.
Dies ist der Preis, den die USA für die
EntscheidungihresJustizministerszah-
len werden: Ihre Glaubwürdigkeit und
ihreVorbildkraftalsmoralischeundbe-
nevolente Nation schmelzen dahin. Da-
bei waren sie das höchste Gut des Lan-
des. stef an kornelius

von sebastian sch oepp

S


eit dem Erfolg seiner Partei bei der
Europawahl beanspruchtderSpani-
er Pedro Sánchez die Rolle als letzte
Hoffnung der europäischen Sozialdemo-
kratie. Doch nach dem Schauspiel dieser
Woche im Madrider Parlament muss
man sagen: So wird das nichts. Zweimal
scheiterte Sánchez daran, sich zum Chef
einer Minderheitsregierung wählen zu
lassen. Vergeben ist damit vorerst die
Chance zu beweisen, dass sich auch 2019
noch ein großes europäisches Land links
von der Mitte regieren lässt. Wie aber soll
jemand Europas Linken ein Beispiel ge-
ben,wenneresnichtmalschafft,sichmit
den relativ moderaten spanischen Links-
alternativen von Podemos zu einigen?
DassdabeiSánchez Egoeinegewichti-
ge Rolle spielte, zeigte der Satz in der Re-
de vor der entscheidenden Abstimmung:
Seine Prinzipien seien ihm wichtiger als
das Amt des Ministerpräsidenten. Das
fasstdieganzehistorischeMiserederLin-
ken zusammen: Man beharrt in der Aus-
einandersetzung untereinander so lange
kleinlich auf Prinzipien, bis am Ende die
Rechte gewinnt. Das führte zu absurden
Situationen bei der Parlamentsdebatte.
Jene, die sonst auf die Rolle der Krawall-
machergebucht sind,alsodiebaskischen
und katalanischen Regionalparteien, ba-
ten Sánchez und Podemos-Chef Pablo
Iglesias geradezu inständig, ihre Egos zu
bändigen und diese einmalige Chance
nicht zu vermasseln. Vergeblich. Der
katalanische Linksrepublikaner Gabriel
Rufián brachte es auf den Punkt, als er
sagte: Das werde die Linke noch bereuen.
Klar, die Regionalpolitiker in Barcelo-
naundVitoriakämenmiteinerlinkenRe-
gierung in Madrid besser zurecht als mit
der Betonfraktion auf der Rechten, dem
Nationalistentrio aus Volkspartei, Ciuda-
danos und Vox, die, sollte es tatsächlich

im November Neuwahlen geben, Chan-
cen haben, die Mehrheit zu erringen.
Dann aber wäre in Spanien der innere
Friede in Gefahr, denn das würde bedeu-
ten: äußerste Konfrontation zwischen
Madrid und den renitenten Regionen.

Bis September hat Sánchez Zeit, viel-
leicht doch noch eine Koalition der Ge-
sprächsbereiten zu schmieden. Dass er
sich dabei so schwertut, hat historische
Gründe. Auf nationaler Ebene hat es eine
Koalitionsregierung noch nie gegeben
seitderWiedereinführung derDemokra-
tie in Spanien. Eine der beiden großen
Parteien war stets stark genug, entweder
alleinodermitderpunktuellenHilfeklei-
ner Parteien zu regieren. An diesem Mo-
dell hielten Volkspartei und Sozialisten
auch noch fest, als das Parlament längst
zersplittertwar.MitderFolge,dass Spani-
endieletztenJahrevonrachitischenMin-
derheitsregierungen geführt wurde – die
nur bis zur nächsten Haushaltsberatung
oder zum Misstrauensvotum hielten.
DieviertgrößteVolkswirtschaft derEu-
ro-ZoneaberbrauchteinKonzept,eineVi-
sion, wie sie aus der immer noch schwe-
lenden Wirtschaftskrise herauskommt.
Man hatte das Gefühl, dass Sozialisten
und Podemos diese Vision durchaus hat-
ten.Einsozialeres,aberEuropaverpflich-
tetes Spanien, das hätte ein Gegenmodell
zum marktliberalen Einheitsbrei werden
können–vorallemaberzumsichausbrei-
tenden Rechtspopulismus. Dass die bei-
denParteienprogrammatischengbeiein-
anderlagen, räumte ja sogar Sánchez ein.
Es dann an Eitelkeit und Prinzipienreite-
rei scheitern zu lassen, ist mehr als fahr-
lässig. Es ist unverantwortlich.

von r udolf neumaier

D


er bayerische Ministerpräsident
bezeichnetdieÖsterreicherweiter-
hin als Freunde. Glimmt also noch
ein Fünkchen Zuneigung zu den südli-
chen Nachbarn? Die Deutschen, vorne-
dran die Bayern, sind schlecht auf die Ös-
terreicherzusprechen,Markus Söderpro-
phezeit sogar „langfristige Verwerfun-
gen“ wegen der Verkehrspolitik der Tiro-
ler. Seine Landsleute bittet er, Urlaube
lieberinBayernzuverbringen,im„klima-
sensibleren“BerchtesgadenzumBeispiel.
Wasimmerdasheißensoll–fürdieSkileh-
rer und Kellner im Land, deren Gäste mit
Abstand am häufigsten aus Deutschland
kommen, klingt das nach Boykottaufruf
und Söders Freundschaftsbeschwörung
wie eine Warnung: „Passt auf, Freund-
chen, gleich fällt der Watschnbaum.“
So können nur bayerische Politiker mit
Österreichern umgehen. Bei allen ande-
renDeutschenistmehrDistanzzudenÖs-
terreichern gewachsen, mehr Respekt.
Peinlich sind allenfalls Niederlagen im
Fußball.Alsbesondersbitterwerdensieje-
doch im Grenzgebiet empfunden, in Bay-
ern. Denn der Bayer hegt mal offener, mal
latentereinenÜberlegenheitswahngegen-
über den Österreichern, der darauf fußt,
endlich zu einem größeren und vor allem
stärkerenLandzugehörenundsozudomi-
nieren, wie die Österreicher andersrum
über Jahrhunderte dominiert hatten.
Ressentiments wachsen genauso aus
derGeschichtehervorwiebizarreKomple-
xe und Mentalitäten. Die Rivalität zwi-
schen den Bayern und den Österreichern
wurde1156beiRegensburgurkundlichbe-
siegelt.KaiserFriedrichBarbarossamuss-
te aufbegehrende Fürsten zufriedenstel-
len, also spaltete er das Herzogtum Bay-
ern auf: Einen Teil, die Ostmark, übergab
er Heinrich Jasomirgott aus dem Ge-
schlecht der Babenberger, Bayerns Kern-

land erhielt Heinrich der Löwe. Ohne die-
se Teilung wäre Wien womöglich heute
noch bayerisch. Damit haderten die Bay-
ern jahrhundertelang. Ihr Ur-Geschichts-
schreiber Aventinus betrauerte um 1522
die Teilung als Tiefpunkt der Geschichte
und Folge von „menschlicher Blödheit“.
Im 19. Jahrhundertbeklagte Sigmundvon
Riezler, erster Ordinarius für Landesge-
schichte in München, das Schicksal von
1156:BayernunddasausseinemTerritori-
um gelöste Neuherzogtum im Osten seien
„in brudermörderischer Feindschaft ge-
geneinander getrieben worden“.

WassichzwischenBayernundÖsterrei-
chern an brudermörderischen Scharmüt-
zelnabspielte,lernendieSchulkinder hier
wie dort im Geschichtsunterricht: Der
Kampf von Ludwig dem Bayern, Wittels-
bacher, gegen den Habsburger Friedrich
den Schönen um die Kaiserkrone. Die
Schlacht bei Mühldorf 1322, Ludwig sieg-
te. Oder der Spanische Erbfolgekrieg: Ist
von der Sendlinger Blutweihnacht 1705
die Rede oder von der Schlacht bei Aiden-
bach, wo bayerische Revoluzzer gegen die
Österreicheruntergingen,rufenPatrioten
noch heute reflexartig: „Lieber bayerisch
sterben, als kaiserlich verderben!“
All das hat das Verhältnis geprägt, von
1156bishinzumStreitumdenTransitver-
kehr. Die Bayern, schreibt Riezler, „wur-
denBewohnereinesBinnenlandesmit ein-
seitigererEntwicklungundlahmeremVer-
kehr“. Wobei es nun die Österreicher sind,
die, aus Notwehr, wie sie sagen, den Ver-
kehr am Brenner mit Blockabfertigung
und Fahrverboten lähmen. Und das auch
noch an diesem ersten bayerischen Som-
merferienwochenende. Es wird hitziger.

HERAUSGEGEBEN VOM SÜDDEUTSCHEN VERLAG
VERTRETEN DURCH DEN HERAUSGEBERRAT
CHEFREDAKTEURE:
Kurt Kister, Wolfgang Krach
MITGLIED DER CHEFREDAKTION, DIGITALES:
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NACHRICHTENCHEFS: Iris Mayer, Ulrich Schäfer
AUSSENPOLITIK:Stefan Kornelius
INNENPOLITIK:Ferdos Forudastan; Detlef Esslinger
SEITE DREI:Alexander Gorkow; Karin Steinberger
INVESTIGATIVE RECHERCHE:Bastian Obermayer,
Nicolas RichterKULTUR:Andrian Kreye, Sonja Zekri
WIRTSCHAFT: Dr.MarcBeise
SPORT: Klaus Hoeltzenbein WISSEN: Dr.Patrick Illinger
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T

heresa May hatte etwas mehr
als 1100 Tage Zeit, um den
Brexit umzusetzen, das Land zu
einen und ein paar Reformen zu
erzwingen, derentwegen man
sich an sie erinnern wird. Nichts davon ist
ihrgelungen.DasErgebnisihrerGratwan-
derung: kein Brexit, keine May.
Boris Johnson hat nur noch 96 Tage,
und er will eine Entscheidung – New Deal
oder No Deal – sogar in kürzerer Zeit er-
zwingen. Dieser Herr badet plötzlich nicht
mehr gern lau. Er hat sich jahrzehntelang
als „Bumbling Boris“, als stolpernder Bo-
ris, durchgeschlagen; als einer, von dem
man nie genau wusste, ob er überhaupt
für etwas brannte, und ob das, wofür er
heute zu brennen vorgab, morgen noch
dasselbe sein würde.
Die ersten Tage im neuen Amt haben
aber gezeigt: Er setzt jetzt alles auf eine
Karte. Und er hat, schneller als mancher
schauen konnte, der für ihn gestimmt hat,
jene Wahlversprechen über Bord gewor-
fen,diezumalten,kosmopolitischen,tole-
ranten One-Nation-Tory Boris Johnson
passten. Ein Tory für die
gesamte Nation – so nen-
nen die Konservativen je-
neliberalgesinntenPoliti-
ker aus ihren Reihen, die
sich für ein einiges Groß-
britannien, gegen engli-
sche Überheblichkeit und
letztlichauchfürengeVer-
bindungen zu allen Part-
nern jenseits des Kanals
einsetzen.Alssoeinerwur-
de Johnson, der zweimal
zum Bürgermeister der
Multikultimetropole Lon-
don gewählt worden ist,
stets gehandelt. Aber vor
10 Downing Street stand
amMittwochabendein an-
derer Mann.
Er hält immer noch
flamboyante,mitÜbertrei-
bungen, Fantastereien
undSelbstüberhebungge-
spickte Reden. Man muss
sich das erst einmal trau-
en, der Welt zuzurufen,
man werde das Vereinigte Königreich in
ein „goldenes Zeitalter“ führen.
Aber hinter dem geübten Redner, der
seineZuhörermitTemperamentundLeer-
formeln einlullt, steckt eben auch ein ge-
fährlichschlauer,zumvollenRisikoberei-
ter Kopf. Der hatte zwar behauptet, nicht
nur den Brexit umzusetzen, sondern auch
das Land einen und ein Premier für alle
Briten sein zu wollen. Was man so sagt im
Wahlkampf, wenn man siegen will. Aber
jetzt ist alles ganz anders als erhofft, an-
ders als versprochen.
Die Kabinettsumbildung war kein di-
plomatischer Akt unter Kollegen, sie war
eine Machtübernahme. Am Ruder sind
jetztdieBrexiteers,denenseit2016 vorge-
worfen wird, sie hätten dem Land eine
Suppe einbrockt, die sie sich auszulöffeln
weigerten. Sie sitzen nun an allen wichti-
gen Schalthebeln, besetzen die Stellen
von Spindoktoren,Pressechefs,Politikbe-
ratern, Kampagnenleitern. Die wichtigs-
ten Köpfe derVote-Leave-Kampagne, die
den EU-Austritt mit zynischem Kalkül
beworben haben, arbeiten direkt mit dem
Premier zusammen.
Die Fanatischen unter denen, die sich
als glühende Austrittsfans verkämpft
odervonhalbherzigenRemainernzuüber-
zeugten Brexiteers gewandelt haben, ge-
hören jetzt zum Orbit der Regierungszen-


trale. Boris Johnson hat sich entschieden:
Diese Nation heilt man nicht, indem man
jene 48 Prozent der Briten mitnimmt
(mittlerweile dürften es viel mehr sein),
die für den Verbleib in der EU gestimmt
haben. Dieses Land überwältigt man mit
einem No-Deal-Brexit, mit einem Fait
accompli, mit einem Kraftakt. So weit
reicht seine Vision: 96 Tage plus einen,
den Tag danach.
Es ist eine Dystopie, die – ungeachtet
aller Beteuerungen – keinen Raum lässt
für eine Einigung mit der EU, keinen
Raum lässt für eine Annäherung an die
empörten Schotten, die den Brexit nie
wollten und Johnson verachten. Eine, die
wenig Verständnis für die Nordiren auf-
bringt, bei denen ein harter Brexit die
Sehnsucht nach einer Wiedervereinigung
mit der Republik beschleunigen wird.
Boris Johnson will No Deal. Und sollte
ihndasParlamentmiteinemMisstrauens-
votum daran hindern und in Neuwahlen
zwingen – auch gut aus seiner Sicht, viel-
leicht sogar besser. Dann kann er sich ein
Mandat nicht nur von den Brexitfans bei
den Tories und den Wäh-
lernderneuenBrexit-Par-
ty holen, sondern auch
von Europagegnern bei
Labour. Boris kann Wah-
len gewinnen, sagen die
Tories. Auch deshalb ha-
ben sie ihn gekürt.
Wenn ihm das Parla-
ment in den Arm fällt,
wird das den Heldensta-
tus nur stärken, an dem er
arbeitet. „Proletarische
Revolutionen...schrecken
stets von neuem zurück
vor der unbestimmten
Ungeheuerlichkeit ihrer
eigenen Zwecke, bis die
Situation geschaffen ist,
die jede Umkehr unmög-
lich macht, und die Ver-
hältnisse selbst rufen: Hic
Rhodus, hic salta!“,
schrieb einst Karl Marx.
Das Zitat könnte man auf
Johnson und den Brexit
anwenden: Er will der
Mann sein, der in dieser historischen Si-
tuation die Revolution anführt, er will das
Land an den Rand des Abgrunds treiben
und von dort in ein „goldenes Zeitalter“,
das der Mühen Lohn sein wird.
Theresa May ist immer vorgeworfen
worden, dass ihre Politik der Ambiguität
undderUnterwerfungunterdieunverein-
baren Forderungen ihrer diversen Gegner
nirgendwohin geführt hat. Boris Johnson
magzwarnureinMandat voneinerwinzi-
gen Minderheit aller Briten haben, aber
ihm ist das egal. Er hat 2016, nach kurzem
Zweifeln, fürLeaveWahlkampf gemacht,
er hatjetzt erneutLeaveversprochen. Ihm
reichtdasMandatderrevolutionärenMin-
derheit, die er um sich geschart hat und
die an ihn glaubt. Vielleicht glaubt er so-
gar selbst daran. Johnson ist, so gesehen,
zwar ein Hasardeur, aber kein Populist. Er
ist jetzt Alexander Boris de Pfeffel Lenin.
Die EU wird dieser Entwicklung wenig
entgegenzusetzen haben. Wer, wie John-
son, den Backstop, die Notfalllösung für
Nordirland,alsantidemokratischbezeich-
net, will keine Kompromisse. Der will Sie-
ger sein, und sei es nur für kurze Zeit. Eu-
ropa wird die Lasten mitzutragen haben,
die Johnson den Briten mit einem No Deal
auferlegt.Dassnachden96TagendieSon-
ne über Großbritannien besonders gül-
den scheinen wird, das glaube, wer will.

Ein Blick in die Charts der
Jahrtausendwende verrät,
dass die Menschen damals
Lieder namens „Maschen-
drahtzaun“, „Anton aus Ti-
rol“ und „Es ist geil, ein Arschloch zu
sein“ hörten. Der wahre Sound der Zeit
aber war: Düpdüpdüpdüp-Fiep-Fiep-
Fiep-Fop-Fop-Fiep-Ploing-Ploing. Und
dann Rauschen. Auf vielen Schreibti-
schenstandenModems,dieakustischeSi-
gnale in die Telefonleitungen schickten,
um eine Datenverbindung herzustellen.
Ihr Klang kündigte an: Hier geht jemand
ins Internet. Modems – das Wort steht
für „Modulator-Demodulator“ – sind
heute noch verbreiteter als damals, nun
in Form kleiner Chips, die in Smart-
phones verbaut werden. Sie verbinden
die Geräte drahtlos mit dem mobilen In-
ternet. Dabei klingen sie nicht mehr, als
würde ein elektronischer Esel strangu-
liert; sie machen keinen Mucks. Nun hat
Apple eine Milliarde Dollar für einen Teil
von Intels Sparte für diese Mini-Modems
gezahlt. Sie sollen iPhones in Zukunft ins
superschnelle 5G-Netz hängen. Dahinter
steckt die Tim-Cook-Doktrin, benannt
nach dem Konzernchef: Apple soll die
Herstellung aller essenziellen Bauteile
für seine Geräte kontrollieren. Der Ein-
wähltonderaltenModemswurdemittler-
weileins„MuseumdergefährdetenKlän-
ge“ aufgenommen – das es natürlich nur
im Internet gibt. ja b

4 MEINUNG Samstag/Sonntag, 27./28. Juli 2019, Nr. 172DEFGH


DEUTSCHE BAHN

Angeschoben


TODESSTRAFE

Trumps Logik


SPANIEN

Die Linke versagt


Sánchez hates versäumt,
die Hoffnungen auf ein
sozialeres Europa zu erfüllen

BAYERN UND ÖSTERREICH

Brudermörderisch


Minister Scheuer im Stau sz-zeichnung: luismurschetz

BORIS JOHNSON


Der Revolutionär


von cathrin kahlw eit


AKTUELLES LEXIKON


Modem


PROFIL


Teodor


Currentzis


Genial-radikaler
Dirigent und
Festspiel-Star

Söders Drohungen im
Transitstreit haben ihre
Wurzeln im Jahr 1156

Dieser Premier
will keine
Kompromisse.
Er will Sieger sein,
und sei es nur für
kurze Zeit.
Europa wird die
Lasten mitzutragen
haben, die er den
Briten mit einem
No Deal auferlegt
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