Süddeutsche Zeitung - 27.07.2019 - 28.07.2019

(nextflipdebug5) #1
von jan str emmel

D

er Retter erscheint an diesem
Morgen um kurz nach halb
neun. Er stoppt seinen Ab-
schleppwagen auf dem über-
füllten Rastplatz vor einem
grauen Ford-Minivan. „Zieht nicht mehr,
stinkt nur noch“, brummt der Mann dane-
ben, Funktionsshirt, Sandalen, die
schweißnassen Schläfen glitzern in der
Sonne. Neben ihm stehen seine Frau und
zwei kleine Kinder mit zerknitterten Ge-
sichtern. Man sieht ihnen die acht Stun-
den im Auto an.
Sie kommen aus Celle, Niedersachsen,
und wollen nach Bibione. Italien, Pizza,
Strandurlaub. Aber jetzt stecken sie hier,
zweieinhalbStundenvordemZiel. Irgend-
wo in Kärnten, auf dem Rastplatz Eisen-
tratten. „Wenn’s das jetzt war, brechen wir
halt ab“, seufzt der Familienvater. Auftritt
Hans Gasser, der Retter in der Not, ein
stämmiger Mann mit weißem Schnäuzer
und lustigen Augen: Er lacht, tätschelt das
Autodach und ruft: „Abbrechen? Na! Du
kriegst ein Mietauto von mir und fährst
nach Bibione!“
Ein Wochenende mit Gasser im Führer-
haus seines Abschleppwagens ist ein Ein-
blick indenMaschinenraumderSommer-
ferien. Wer wie geplant am Urlaubsziel an-
kommt, kriegt kaum etwas mit von all den
wütenden Männern, brüllenden Frauen
und heulenden Kindern, die am Straßen-
rand hängen bleiben. Genau das ist Gas-
sers Welt.
An der Raststation Eisentratten haben
MütterPicknickdeckenaufdemGrasstrei-
fen ausgebreitet und reichen autowarme
Wurstsemmeln in Kinderhände, Männer
mit Wadentattoos pinkeln durch den
Zaun. Ein Samstagmorgen am Anfang der
großen Ferien. An Tagen wie diesen muss
Gasser fast stündlich hierher, immer
dann, wenn sich Autos wie der graue Ford-
Minivan mit letzter Kraft zur Raststation
gerettethaben.Weithateresnicht:50Me-
ter Luftlinie, senkrecht nach oben. Die
A10, genannt Tauernautobahn, schlängelt
sich hier auf einer 50 Meter hohen Beton-
brücke durch die Berge. Direkt darunter
liegt Gassers Werkstatt mit Abschlepp-
dienst.


Sie liegtim Schatten einer der wichtigs-
ten Nord-Süd-Verbindungen Österreichs.
Während derzeit viele auf den Brenner gu-
cken, die wichtigste Achse auf dem Weg
nach Italien, wo man angesichts des Ver-
kehrsinfarkts gerade die Landstraßen für
Stauumfahrergesperrthat, spielt sich hier
inKärntenweiter derganznormaleWahn-
sinn ab. Ganz Deutschland urlaubt, von
diesem Wochenende an auch die Bayern.
Und wer, wie die meisten, nach Süden will,
Italien, Kroatien, Griechenland, muss ent-
weder dort oder hier vorbei. Kärnten ist
ein Urlaubsziel, das schon auch, in Eisen-
tratten ist es aber vor allem Transitland.
Und Gasser ist der Mann, der die Sache in
diesen Tagen am Laufen hält. 45 Kilome-
ter Tauernautobahn und die Straßen
drumherum sind sein Revier. Wer hier den
ADAC oder das österreichische Pendant,
denÖAMTC, ruft,demwirdGasserzur Hil-
fe geschickt.
Man merkt hier bald: Unwägbarkeiten
auf Reisen, das ist für den Durchschnitts-
urlauber im Jahr 2019 fast ein Relikt aus
dem Mittelalter. Wer vor Abreise nicht auf
Google und Tripadvisor die Qualität der
Matratze und die Größe des Pools im Ziel-
hotel gecheckt hat, ist selbst schuld. Auch
deshalb prallen Vorfreude und Enttäu-
schung selten so frontal und ungebremst
aufeinander wie bei Pannen auf dem Weg
in die Ferien: Überarbeitete Menschen mit
seit Wochen präzise ausgefeilten Ferien-
plänen scheitern an so profanen Dingen
wie einem geplatzten Kühlerschlauch.
Und hinten quengeln die Kinder.


Gasser ist sich dessen natürlich be-
wusst. Er weiß: Die Urlauber leben in einer
Parallelzeit.EineMinute aufdem Pannen-
streifen fühlt sich für diese Leute an wie
eine Stunde. Und im Zweifel ist es ihnen
egal, wie lange die Lieferung eines Klima-
kompressors nach Eisentratten, Gemein-
de Krems in Kärnten, 1663 Einwohner,
braucht. Wenn sie nur endlich, endlich,
verdammt noch mal, ans Meer kommen.
Er hat sich darauf eingestellt.
Mittlerweile besitzt er deshalb nicht
nur zwei Abschleppwagen – einen klei-
nen, für normale Pkw, und einen großen,
für Wohnmobile. Er besitzt auch fünf Au-
tos, die er spontan an gestrandete Urlau-
ber verleiht, wenn die Reparatur mal län-
ger dauert. Mit den geräumigen Kombis
fahren seine Kunden bis in die Türkei. So
einen bekommt heute auch die Familie
aus Celle.
Auf dem Parkplatz neben seiner Werk-
stattstehen derweil dieAutos, die denWeg
in die Ferien nicht gepackt haben, und de-
ren Besitzer sie auch nicht mehr abholen
werden. Lohnt sich die Reparatur nicht,
kauft Gasser den Leuten ihren alten Wa-
gen schon mal für 700 Euro ab. Vielleicht
will ihn ja ein Bulgare.

Natürlich hat der 59-Jährige immer die
großenbeidenParameterdes Ferienwahn-
sinns im Blick und verrechnet sie im Kopf:
die aktuelle Verkehrslage und das Wetter.
An diesem Wochenende hat auch Salzburg
seine Straßen für Touristen gesperrt, die
den Stau umfahren wollen, also kommen
noch mehr Urlauber über den Katschberg
runter. „Gehtaufdie Bremsen.“Außerdem
wird es heiß, bis zu 34 Grad: „Kühlsyste-
me und Schläuche erwischt s da ganz
schnell.“ Dazu rechnet er noch mit erheb-
lichmehrReifenpannen.Dennnichtweni-
ge der bis ins Kleinste vorbereiteten Ur-
laubsdeutschen fahren mit Winterreifen
in den Sommerurlaub – und bleiben mit
Plattfuß hängen.
Unter seiner Brücke spürt Gasser nahe-
zu alle Moden und Trends der Mobilität.
Seit einigen Jahren, sagt er, merke er zum

Beispiel den Trend zum Leasing. Statt
dass wie früher eine alte Kiste bis zur Ver-
schrottung gefahren würde, gäbe es heute
lauter Neuwagen auf der Straße: eher
schlecht fürs Pannengeschäft. Genau wie
die immer ausgefuchsteren Brems- und
Spurhalteassistenten. Was aber, wie Gas-
ser betont, natürlich ganz sachlich ge-
meintsei. Er wünschtja niemandem einen
Unfall.
Und nicht nur der Individualverkehr
spielt ihm ins Geschäft. Als vor wenigen
Jahren Terroranschläge den Tourismus in
der Türkei und Ägypten zusammenbre-
chen ließen, hätte er seine Werkstatt fast
doppelt auslasten können: „Da ist wieder
jedermitdemAuto nachItalienundKroati-
en.“ Nun, in Zeiten, in denen auch solche
Länder wieder als Urlaubsziele infrage
kämen und Flugtickets günstiger als eine
AutofahrtnachItalienseien,seiwieder we-
nigerlos. SeingrößterKonkurrentsinddie
Billigflieger.
Die A10 ist legendär. Sie schlängelt sich
vomKnotenSalzburgsüdlichbiszumKno-
ten Villach, über spektakuläre Hangbrü-
cken und einige der höchsten Berge Öster-
reichs.Die Autobahnwar Schauplatzdiver-
ser Großdramen: des Megastaus von 2011
etwa, als sich die Urlauber nach Öffnung
des Tauerntunnels 60 Kilometer zurück-
stauten, weil es Richtung Italien und Slo-
wenien eng wurde. Beim Bau der Brücke
1975 kam es zu einem der dramatischsten
Unglücke der Straßenbaugeschichte: elf
Arbeiter stürzten mit einem Schalwagen
50 Meter in die Tiefe. Keine zehn Minuten
von Gassers heutiger Werkstatt entfernt.
Er wuchs genau unterhalb der neu ge-
bauten Hangbrücke auf. Die Familie hatte
einen Bauernhof. Seine Werkstatt baute er
Jahre später genau gegenüber, noch spä-
terstellteersichein eigenesWohnhaus da-
neben.Es ist,vielleicht mal abgesehen von
den Betonpfeilern, schön hier im Tal. Vor
allem: überraschend ruhig. Den Verkehrs-
lärm hören sie nur oben an den Hängen.
Viele Bewohner hatte die Gegend schon
damals nicht. Die ansässigen Werkstätten
hätten Wohnmobile oft abgelehnt, sagt
Gasser – zu groß, schwer abzuschleppen,
komplizierte Ersatzteile. Und dann noch
die hysterischen Insassen, die am liebsten
sofort in Grado am Strand sein wollen. Da
sah der junge Gasser seine Chance. Er spe-

zialisierte sich auf die Kundschaft, die ihm
die Brücke über seinem Dach ohnehin frei
Haus lieferte: Urlauber.
Gasserüberquert seinenHof.Heuteste-
hen da: ein handbemaltes Wohnmobil aus
Holland, ein Wohnwagen aus Deutsch-
land,einFiatDucatoausBremen,einMer-
cedes Vito aus Berlin, ein VW-Bus aus
Tschechien. Die Familie darin hat Gasser
gerade mit ihrem Wohnwagen zum Cam-
pingplatz in den Nachbarort gebracht. Ein
Ersatzteil braucht zwei Tage. „Eltern, drei
Kinder und zwei Schäferhunde“, da habe
er direkt handeln müssen. „Für manche
ist eine Autopanne wie ein Herzinfarkt.“

Deshalb hat Gasser ein paar spezielle
NummernimTelefon gespeichert,fürNot-
fälle. Neulich erst hat er sie gebraucht, „ei-
ne polnische Familie auf dem Weg nach
Rom zum Papst, Reifenpanne.“ Keiner
sprach ein Wort Englisch, weder die Polen
noch Gasser. „Die Frau hat nur noch ge-
heult, der Mann war komplett fertig.“ In
solchen Momenten greift er zum Handy
und ruft eine der Nummern an: „Du, Ute,
ichbrauchdich.“Utekann einpaarFremd-
sprachen und hilft gerne aus.
So ist der Abschleppunternehmer Gas-
ser nicht nur der Helfer in der Not, der un-
verhofft unter der Brücke emporschwebt.
Er ist oft auch der erste Vertreter Öster-
reichs, dem die Gestrandeten gegenüber-
stehen. Man merkt, dass ihm die Bedeu-
tung dieser Rolle, sozusagen als Concierge
für die unfreiwilligen Gäste, ein bisschen
wichtig ist: Er begrüßt, er beruhigt, er be-
rät. Er ahnt, welche Kunden ihre Wartezeit
auf eine Reparatur lieber im Hotel in Vil-
lach oder in der gemütlichen Pension im
Nachbardorf verbringen. Er bucht oft für
sie ein freies Zimmer. Auf den Fall eines
Pärchens aus Deutschland ist er beson-
ders stolz: Die zwei blieben auf dem Weg
zum Mountainbike-Urlaub nach Italien
hängen. Ein kaputter Turbo. Die Repara-
tur dauerte vier, fünf Tage. Eigentlich ein
Albtraum. Aber am Ende fanden sie es so
schön, dass sie seither jeden Sommerur-
laub in Eisentratten verbringen.

In der DDR gehörte sie zum Alltag,
nun kommt die Gemeindeschwester
zurück  Seite 55

Die Fußballer von Sands United FC
eint ihrSchicksal: Sie alle haben
Kinder verloren  Seite 52 Thomas Derksen ist einer der bekanntesten Deutschen
in China.Als Kulturvermittler erklärt er in Videoclips
den Eurotunnel, Shampoo und Mettigel  Seite 51 Gewinn
FOTO: AKG/PA

Er begrüßt, er beruhigt, er berät.
Die Rolleals Concierge der
Gestrandeten ist ihm wichtig

DEFGH Nr. 172, Samstag/Sonntag, 27./28. Juli 2019 49


GESELLSCHAFT


Unternehmer Hans
Gasserin Eisentratten
an der Tauernautobahn
ist nicht nur Helfer
in der Not – er weiß
Rat, wenn frustrierte
Urlauber gar nicht
mehr weiterwissen.
Neben zwei
Abschleppwagen besitzt
er auch Autos,
die er verleiht,
wenn die Reparatur
mal länger dauert.
FOTOS: NATALIE NEOMI ISSER

Sein größter
Konkurrent sind
die Billigflieger

Eine Minute auf dem


Pannenstreifen fühlt sich für


Urlauber an wie eine Stunde


Verlust
FOTO: SANDS UNITED

Ausgleich


Der britische Modedesigner Paul Smith
über Glück,Geld und gute Manieren –
im großen Interview  Seite 56

Bodenhaftung


Mit Hans


ins Glück


Wütende Männer, brüllende


Frauen und heulende Kinder –


ein Wochenende im Führerhaus


eines Abschleppwagens


auf der Ferienautobahn Richtung


Italien

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