Süddeutsche Zeitung - 27.07.2019 - 28.07.2019

(nextflipdebug5) #1

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ie AfD ist eine Partei i.V., eine
Partei in Verwandlung. Sie ver-
wandelt sich seit ihrer Grün-
dung, aber jetzt nähert sie sich
mehrund mehr dem finalen Stadium.Das
finale Stadium ist – braun.
Die AfD rückt immer mehr dorthin, wo
einst, weniger erfolgreich, die NPD ihren
Platz hatte: dorthin, wo der Verfassungs-
bogen nicht mehr hinreicht. Die AfD wird
zu einem völkischen Kampfverband, der
vonBjörnHöcke,demFraktionsvorsitzen-
den in Thüringen, und von Andreas Kal-
bitz, dem Parteivorsitzenden in Branden-
burg, repräsentiert wird; beide stehen für
eine Art Radikal-Salvinisierung der AfD.
Die Macht in der Partei wird mehr und
mehr von einer ultrarechten Gruppierung
übernommen,diesich„Flügel“nenntund
dieaufHöckeundKalbitzhört.DieserFlü-
gel unterscheidet sich in seiner Tonalität
wenig von der NPD. Aus einer Rechtsau-
ßenpartei wird auf diese Weise eine
Rechtsdraußenpartei.
Hundert AfD-Funktionäre haben einen
Brandbrief gegen Höcke geschrieben, der
aber wenig ausgerichtet hat. Sowohl der
Personenkult um Höcke als auch die
BraunwerdungderParteischreitenvoran.
Der AfD-Bundesvize Kay Gottschalk be-
klagt eine „Schneise der Verwüstung“:
Der radikale Flügel zerhaut den Rechts-
konservatismusinderAfD.Auseinernati-
onalkonservativenParteiwirdsoeinenati-
onalfaschistische. In Nordrhein-Westfa-
len endete vor Kurzem der Parteitag des
bundesweit größten Landesverbandes
mit der harten Radikalisierung der Partei.
EigentlichsolltedortderEinflussdes„Flü-
gels“ eingedämmt werden. Das Gegenteil
war nach chaotischen Stunden der Fall.


Jörg Meuthen, zusammen mit Alexan-
der Gauland Parteichef, funkt intern SOS
und warnt vor einer Unterwanderung der
AfD durch Rechtsextremisten. Er spürt
schon, wie der braune Flügel ihm ins Ge-
sicht schlägt: In seinem Heimatkreisver-
band in der badischen Ortenau wollte er
kürzlich als Delegierter für den Bundes-
parteitag gewählt werden; er fiel durch.
Gewählt wurde stattdessen der Landtags-
abgeordneteStefan Räpple, gegen den ein
Ausschlussverfahren wegen rechtsextre-
mer Tendenzen läuft.
Die Partei rückt so dramatisch schnell
nach rechtsdraußen, dass sich die Extre-
misten von gestern auf einmal in der Mit-
tederAfDwiederfindenund,wieinSchles-
wig-Holstein, zur Landeschefin gewählt
werden.AlexanderGaulandglaubt,erkön-
ne die Flügel-Kräfte, die noch viel radika-
ler sind als er,so einsetzen, dasssie imOs-
tennutzenundimWesten,beidenkonser-
vativ-bürgerlichen Wählern, nicht scha-
den; er glaubt, er könne den Laden im
Griff behalten. Das hatten auch schon die
Vorsitzenden und die Führungsfiguren
vor ihm geglaubt – so lange, bis sie abser-
viert wurden.
DieAfDwurdealsbürgerliche,rechtsli-
berale Anti-Euro-Partei von Euro-Kriti-
kern wie Bernd Lucke, Hans-Olaf Henkel
und Joachim Starbatty gegründet. Das
war Phase eins. Aber die AfD fraß alsbald
ihreGründer.LuckeundCo.tratengefrus-
tetmit2000 AnhängernausderParteiaus
und gründeten erfolglos eine neue. Die
AfD rückte nach rechts, ihr neues Gesicht
wurde Frauke Petry. Die AfD entwickelte
sich von der Anti-Euro-Partei zur Anti-
Flüchtlings- und Anti-Islam-Partei. Die
vonThiloSarrazinseit demJahr2010frei-
gesetzte Menschenfeindlichkeit fand in
der AfD ihr Zuhause. Aber auch Frauke


Petrywarden Radikalrechtennichtrechts
genug; sie wurde daher von Jörg Meuthen
und Alexander Gauland ersetzt. Es erging
ihr ähnlich wie zuvor Lucke und Co. Sie
wurde vom Extremismus zerbissen und
ausgespuckt. Die Partei wurde noch rech-
ter. Meuthen und Gauland, die das Ruder
übernahmen, könnte es jetzt so ergehen,
wieeszuvorschon Lucke undPetryergan-
gen ist.

Die AfD als nationalbürgerliche Küm-
mererpartei, in der auch Aufwallung,
Zorn und kleinbürgerlicher Aufstand
Platz fanden, diese AfD der Phase zwei,
verkümmert. In ihrer Phase drei wird die
AfD nun zu einer völkischen Partei, die
deutscheStaatsbürgermitMigrationshin-
tergrund aus Deutschland vertreiben will.
Höcke und Co. geben der Partei eine ge-
wandelte, gefährliche Identität. Es ist die
Identität der sogenannten Identitären;
das ist eine Bewegung, die in der Nachfol-
ge derNSDAP steht, die eine Ausgrenzung
von angeblich fremden Kulturen predigt
und eine geschlossene, ethnisch homoge-
ne europäische Kultur propagiert. Höcke
hatinseinerberüchtigtenRedevomJanu-
ar 2017 im Dresdner Ballhaus das Holo-
caust-Mahnmal in Berlin geschmäht und
dieKulturderErinnerungals„miesundlä-
cherlich“beschimpft.DieIdentitärenwer-
den vom Verfassungsschutz als klar
rechtsextremistisch eingestuft.
Was passiert, wenn sie und der soge-
nannteFlügelzumWirkungszentrumwer-
den, das die AfD dirigiert? Der Takt, der
dort geschlagen wird, ist neonazistisch.
Es ist dort vom Großdeutschen Reich die
Rede und von der Umvolkung, die man
verhindern müsse. Das ist die Braunwer-
dung der AfD. Braune Sprenkel gab es
dortschon immer; eineneue Partei ist im-
mer auch ein Sammelbecken. Aber wenn
aus den braunen Flecken die Grundfarbe
wird, ist das demokratisch Tolerable ver-
lassen. Die AfD druckt ein schmeicheln-
des Blau auf ihre Plakate, wird aber im In-
neren immer brauner.
Wenn die AfD in ihre nazistische Ver-
wandlung eingetreten ist, dann ist
Deutschland in der Situation 2 BvB 1/13.
Jener Situation, die das Bundesverfas-
sungsgericht unter diesem Aktenzeichen
in seinem Urteil vom 17. Januar 2017 be-
schrieben hat: Hier stellte Karlsruhe die
Verfassungsfeindlichkeit der NPD glas-
klar fest. Das höchste deutsche Gericht
hat die NPD nur deshalb nicht ausdrück-
lichverboten,weilmansiefürzuunbedeu-
tendhielt. Sie war dem Gericht nicht groß,
nicht einflussreich, nicht gefährlich ge-
nug. Ihr fehle die notwendige „Potentiali-
tät“, also die politische Potenz, die Kraft
zu prägender Einflussnahme.
Von der AfD kann man das nicht sagen.
Sie sitzt in allen deutschen Parlamenten.
Wenn Neonazis sich nun das Fell der AfD
überziehen und so deren parlamentari-
sches Gewicht für sich nutzen, dann ist es
an der Zeit, die Waffen des Grundgesetzes
zu schärfen. Besser wäre es freilich, wenn
es gelänge, eine gefährliche Potentialität
dieser AfD bei und mit den Wahlen zu ver-
hindern. Die deutschen Farben sind
Schwarz-Rot-Gold. Daraus darf nicht
Schwarz-Rot-Braun werden.

Es war eine ungewöhnliche Parlaments-
wahl in der Ukraine, weshalb es derartige
Folgen auch noch nie gab. So viele uner-
fahrene Abgeordnete ziehen für die neue
Regierungspartei „Diener des Volkes“
mitabsoluterMehrheitindieObersteRa-
da ein, dass die jungen Volksvertreter
erst einmal für eine Woche in die Schule
müssen. DieKyiv Postberichtet, dass die
Partei ihre Abgeordneten auf die Kiewer
SchoolofEconomicsschickt–ineinenIn-
tensivkurs Wirtschaft.

Zeit darf nach Ansicht der ukraini-
schen Medien nicht verloren gehen. Die
Ukrainska Pravdameint, dass der Erfolg
des neuen Parlaments davon abhängt, ob
eszügigundeffizientjeneGesetzentwür-
fe verabschiedet, die das Land „systema-
tisch mit der Europäischen Union inte-
grieren und die Justiz reformieren“. Dazu
gehörten „moderne Mechanismen für
elektronischeUnterschriftenundAuswei-
se wie auch ein Gesetz über ein Antikor-
ruptionsgericht“.
DerpolitischeKorrespondentdesSen-
ders Hromadske-TV, Maxim Kamenew,
schreibt in einem Beitrag für dieKyiv
Post, dass das Parlament „nicht nur in
der Quantität erneuert wird, sondern
auch besser“ sein werde. „Es wird jene
Mehrheit von Abgeordneten fehlen, die
überJahrehinwegEinflussgruppengebil-
det haben, die sie dann ausgebeutet ha-
ben, um ihre eigenen Geschäfte zu ma-
chen.“ Der Autor nennt dies den „größten
Austausch der politischen Eliten, den es
seit 1991 in der Ukraine gegeben hat“.

Viel Beifall also für den jungen Präsi-
denten Wolodimir Selenskij, der nun
auch auf eine Hausmacht im Parlament
setzen kann. In derKyiv Postvergleicht
Michael Yurkovich vom Atlantic Council
den früheren Fernsehschauspieler Se-
lenskijmitdemehemaligenUS-Präsiden-
ten und Hollywood-Schauspieler Ronald
Reagan.Erempfiehltihm,vondemRepu-
blikaner zu lernen: Der sei nicht wegen
seiner einstigen Schauspielerei erfolg-
reich gewesen. Selenskij müsse wie Rea-
gan die Wirtschaft schnell voranbringen
und dazu unter anderem abgewandertes
Kapital in die Ukraine zurückbringen, et-
wa „mit einer einmaligen Steueramnes-
tie“. Wichtig sei auch, dass nicht länger
„Geld aus dem Westen durch populisti-
sche Politiker verschwendet wird“.

Die russische ZeitungNesawissimaja
Gasetaschreibt, in der Ukraine seien
neue Parteien deshalb aufgetaucht, „weil
die Menschen müde sind vom Krieg, von
wirtschaftlicher Instabilität und dem al-
ten Establishment“. Sowohl für die russi-
sche als auch für die ukrainische Elite sei
„die wichtigste Aufgabe in den nächsten
Jahren die Wirtschaft, das Einkommen
der Bürger, ihr Wohlstand“. Den Konflikt
zwischen Moskau und Kiew zu beenden,
scheine nicht möglich, meint die NG.
„Aber einige vergiftete Schlüsselpunkte
zu lösen, ist möglich. Und nötig.“

Heribert Prantl
ist Kolumnist und Autor der
Süddeutschen Zeitung.

Frank Nienhuysen ist
Redakteur imRessort
Außenpolitik.

M


ein Beruf ist Arzt. Ich bin es aus
Leidenschaft. Als Arzt kümmere
ich mich um Kranke und begleite
Sterbende auf ihrem letzten Weg. Dies ist
die Krankengeschichte unseres Gesund-
heitswesens, wie ich sie tagtäglich erlebe
und erleide.
Vor 25 Jahren gab es die Arztschwem-
me, jetzt ist der Mangel angekommen –
kein Wunder, denn Ärzte werden müde
und krank. Die Gründe dafür sind vielfäl-
tig:Überbürokratisierung,Arbeitsüberlas-
tung, keine Zeit für genuine ärztliche Tä-
tigkeit,ÜberalterungderÄrzteschaft,Gän-
gelungdurchGesetzgeber,öffentlicheVer-
unglimpfungdurchArztbewertungsporta-
le, unangemessene Erwartungshaltung
derGesellschaftandieMedizin.Dasärztli-
cheGelöbnisverpflichtetunsaberzurAch-
tung der eigenen Gesundheit!
Auch Schwestern, Pfleger und Pflege-
rinnen, das Assistenzpersonal in Praxen
steigen aus dem System aus. Mehr als
50000 Pflegekräfte fehlen bundesweit. In
Ballungszentren sind durchgängig mehr

als 500 Stellen in Praxen unbesetzt. Beim
Versuch, Personal zu gewinnen, ist das
Lohngefüge aus dem Ruder gelaufen und
gefährdet den Bestand der Praxen.
63 Milliarden Euro Honorar ist der Ärz-
teschaft in den letzten zehn Jahren durch
Budgetierung entgangen. Auch dieser Ho-
norarverlust gefährdet viele Praxen. Das
Terminservicegesetz fordert Mehrarbeit
ohne Entlohnung. Verständlich, dass jun-
geÄrztedieArbeitineigenerPraxisscheu-
en.DieZahlangestellterÄrztein derambu-
lantenVersorgungistvon9000auf
in zehn Jahren gestiegen.
Ein weithin geleugnetes Symptom ist
diegewachseneAnspruchshaltungderPa-
tienten. Ihnen wird der uneingeschränkte
Zugang zu ärztlicher Versorgung verspro-
chen, ohne ihnen die Folgen vor Augen zu
halten. Unser Gesundheitswesen ist mit
3800 Euro Kosten pro Kopf neben den
USA das teuerste der westlichen Welt.
Doch an der Lebenserwartung gemessen,
rangiert es auf den hinteren Plätzen.
Die Arzt-Patienten-Kontaktaufnahme
ist in Deutschland die höchste in Europa,
90 Prozent der Bevölkerung haben min-
destenseinmalimJahrKontaktmiteinem
Arzt. Befindlichkeitsstörungen und psy-
chosomatische Erkrankungen sind auf
dem Vormarsch. Mehr als 20 Millionen
PersoneninDeutschlandleidenan funkti-
onellen Magen- und Darmbeschwerden
wie Blähungen, Wechsel der Stuhlform
und Stuhlkonsistenz. Nahrungsmittelun-
verträglichkeiten sind, befeuert durch In-
ternetforen und alternative Ratgeber, zu
einem Modethema geworden. Mit diesen
Befindlichkeiten stürmen die Patienten
die Facharztpraxen. Ist es verwunderlich,
dass Wartezeiten von Wochen entstehen?
NurzweiMillionenMenschenhabenei-
ne genetische Grundlage für Nahrungs-
mittelunverträglichkeiten. Doch Stress
undfehlgeleitetesKörperbewusstseinfüh-
ren zu einem Krankheitsgefühl, das keine
organpathologische Erklärung hat. Ein
Zeichen,dassetwasnichtstimmtmitunse-
rer Gesellschaft. Doch die Medizin kann
die Gesellschaft nicht heilen. Entfrem-
dungzwischenArztundPatientistdieFol-

ge:EsherrschteineGeringschätzungde-
rer, die Dienst an Kranken leisten. Man
wird für diesen Dienst angegriffen und
in Bewertungsportalen beleidigt.
Die Ökonomisierung der Medizin ist
dasSymptom,dasderDominanzderKos-
tenträger im Gesundheitssystem ge-
schuldet ist. Budgetierung, Honorar-
deckelung, nach Durchschnittsgrößen
berechnete stationäre Leistungen und
Fallpauschalen haben zum ökonomisch
dominiertenVersorgenderPatientenge-
führt.NichtderArztentscheidetüber die
Patientenversorgung – der Controller
des Krankenhauses bestimmt Verweil-
dauer und Behandlung der Kranken. In
derambulantenVersorgungwirdderme-
dizinische Fortschritt schlicht wegge-
spart.Das Honorar für Ärzte berücksich-
tigtkeineInvestitionsleistungen,umme-
dizinischen Fortschritt zu garantieren.

Unser Gesundheitssystem ist das äl-
teste der westlichen Welt. Es wird nach
mehr als 140 Jahren zugrunde gehen,
wenn nicht schnell etwas geschieht. Ärz-
te und die Kräfte, die mit ihnen die Ver-
sorgung aufrechterhalten, müssen wie-
der Achtung und Ansehen erhalten. Ihre
Bezahlung – nicht allein die der Pflege-
kräfte – muss dem Leistungsniveau und
denExistenznotwendigkeiten angepasst
werden. Der Zugang zur fachärztlichen
VersorgungmussdurcheineIndikations-
prüfung reguliert werden. Die Steue-
rungsfunktion der Hausärzte muss aus-
gebaut werden. Bagatellerkrankungen
und Befindlichkeitsstörungen müssen
aus dem Leistungskatalog der Kranken-
kassen gestrichen werden.
Damit muss man jetzt beginnen.
Sonst lässt sich das Sterben des Gesund-
heitssystems nicht mehr aufhalten.

Berndt Birkner, 70, ist Gastroenterologe in Mün-
chen.

DEFGH Nr. 172, Samstag/Sonntag, 27./28. Juli 2019 MEINUNG 5


HURZLMEIER-RUDI.DE

Was Ärzte


krank macht


Gegängelt, beleidigt,
vom Patienten überfordert:
Viele Mediziner stehen
vor dem Kollaps. Wie das
gesamte Gesundheitssystem

VON
BERNDTBIRKNER

Rechtsdraußen


DieGeschichte der AfD ist die Geschichte einer
fortschreitenden Radikalisierung. Wird sie nun zur
neuen NPD, droht ihr das Parteiverbot

VON HERIBERT PRANTL


Wochenend-Ausflug

MEINE PRESSESCHAU


Selenskij – ein neuer


Ronald Reagan?


HURZLMEIERMALEREI


Die Extremisten von gestern


befindensich auf einmal


in der Mitte der Partei


Wenn Neonazis das Fell der
AfD überziehen, ist es Zeit für
die Waffen des Grundgesetzes

Wenn nicht schnell etwas
geschieht, wird das System
zugrunde gehen

Richtig gut leben – Die große Nachhaltigkeitsserie


der Süddeutschen Zeitung. Ab Dienstag, 30. Juli 2019.

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