Süddeutsche Zeitung - 27.07.2019 - 28.07.2019

(nextflipdebug5) #1
von evelyn vogel

W

enn das Tageslicht er-
lischt,nahtdieBlaueStun-
de. Das Licht wird weich,
der Herzschlag der Stadt
verlangsamt sich. Es ist
die Stunde, die die Menschen lieben, wenn
der Tag seine Härte verliert und die Nacht
lustvoll lockt. Und sei es nur mit einem
Sundowner,wie derzeitauf derTreppeder
Bayerischen Staatsoper. Doch die Nacht
war immer auch voller Geheimnisse und
voller Schrecken. Man fürchtete sie ganz
realundließsichvomNachtwächterbehü-
ten. Und glitt man dann im Schutz der
Nacht in den Schlaf, brachten Albträume
neueÄngsteüber dieMenschen.DieNacht
war immer schon ein Faszinosum – ganz
besonders für Künstler. Das belegte ein-
drucksvoll die legendäre Ausstellung „Die
Nacht“, die Christoph Vitali 1998 im Haus
der Kunst zeigte.

DurchalleEpochenundinallenkünstle-
rischen Gattungen hat man die Nacht ver-
ehrt, die Nacht beschworen, die Nacht ver-
teufelt. Letzteres vor allen Dingen im Mit-
telalter. Zahlreiche künstlerische Darstel-
lungen verbinden mit der Nacht das Böse
schlechthin. Die Aufklärung brachte auch
hierLichtinsDunkel.Mozartsetzteimaus-
gehenden 18. Jahrhundert der „Königin
derNacht“einDenkmalinseiner„Zauber-
flöte“, für die Schinkel ihm phänomenale
Bühnenbilder voller Sterne schuf, van
Gogh huldigte Ende des 19. Jahrhunderts
dem Himmel – und seiner wirren Befind-
lichkeit – in seiner irrsinnigen „Sternen-
nacht“. Mit den Romantikern war aus der
Schwärze der Nacht ein leuchtendes Blau
geworden, Novalis beschwor die „Hymnen
an die Nacht“, in München ritt der „Blaue
Reiter“. Die Nacht hatte vielleicht ihre
Schrecken verloren, doch die Symbolisten
feierten mit Wollust ihre Geheimnisse und
Schrecken, auch Traum, Ekstase und Lei-
denschaft. Und der Münchner Malerfürst
Franz vonStuckschufinseinerVillahimm-
lische Räume und den „Altar der Sünde“.

Mit der Moderne kam endgültig Licht
ins Dunkel und Künstler aller Art zeigten,
wie die Nacht zum Tage wurde. Gustav
Gründgens gab mit dem Schlager „Die
Nacht ist nicht allein zum Schlafen da“
1938dasThemavor.LiteraturundFilmfei-
erten die Großstadt bei Nacht, Maler zeig-
ten die Stadt an der Schnittstelle zwischen
Tag und Nacht, Traum und Wirklichkeit.
Natürlich spielten London, Paris und Ber-
lin hier die Hauptrollen. Das eher klein-
städtischeMünchenmitseinenbeschauli-
chen Straßen und Plätzen und seinen Na-
turidyllen wie den Biergärten und dem
Englischen Garten stellten die Künstler
vorrangig bei Tag dar.
So tauchten auch in der großen Nacht-
Ausstellung im Haus der Kunst beispiels-
weise nur wenige Bilder vom nächtlichen
München auf, darunter aber solche von
Aleksander Gierymski, einem polnischen
Maler, der in München studierte hatte.
1890 malte er den „Wittelsbacherplatz in
München bei Nacht“ und den „Max-Jo-
seph-Platz in München bei Nacht“. Mehr
und mehr ließ er die Architektur in seinen
Bildern zugunsten von Licht und Stim-
mung in den Hintergrund treten. Mächti-
geSchattenundhellereBereicheverliehen
seinen Bildern eine oft geheimnisvolle
symbolistische Atmosphäre: Kalt-bläuli-
ches, von Wolkenschleiern verwischtes
Mondlicht am Himmel, gelb-warmes
Licht von Straßenlaternen am Boden, das
einzelne Bereiche des Stadtraums erhellte
und hervorhob. So entstanden traum-, ja
albtraumhafte Szenerien voller Dunkel-
heit und Geheimnisse.
Ein Zeitgenosse Gierymskis war
Charles Vetter. Seine zahlreichen Münch-
ner Stadtansichten zeigen vorwiegend das
geschäftige Treiben auf den Straßen und
Plätzen der Stadt, das er in atmosphäri-
schen Stimmungsbilder zu verschiedenen
Tages-undJahreszeiteneinfing.Langebe-
vor im beginnenden 20. Jahrhundert die
MalerdaspulsierendeLebeneinersichent-
wickelndenGroßstadtsuchtenundvorwie-
gend nach Berlin blickten, fand Vetter in
derbayerischenLandeshauptstadteinele-
bendigeSzeneriefür seineBilder.So malte
er 1908 den „Stachus in München bei
Nacht“. Die dahineilenden Menschen un-
ter ihren Regenschirmen, die Trambah-
nen und Pferdedroschken tauchte Vetter
inNachtlicht,schlugdabeiabereinenLich-
terbogen vom Sonnenuntergang bis zum
Sonnenaufgang. Während die rechte Seite
desBildesinwarmesLichtwiebeieinerun-
tergehenden Sonne getaucht ist, wirkt die
Bildmitte wie von kaltem Mondlicht be-
schienen. Daneben tut sich ein kühl-grü-

nerStreifenauf,der dasMorgenlichtanzu-
kündigen scheint. Und alle diese Lichter
spiegeln sich auf den nassen Straßen. Da-
hinter, im Gebäuderiegel des Karlstors,
leuchten kalt-weiße Punkte, die ebenso
(Kunst-)Lichter der Großstadt wie Mond
und Sterne symbolisieren könnten. Einen
ähnlichen Lichter-Trick wandte Vetter in
seinem Gemälde „Die Kaufingerstraße in
München bei Nacht“ von 1904 an. Mar-
kantistdasSpielvonkalten Lichtpunkten,
diemitdemSchneeaufdenDächernkorre-
spondieren, und warmen Lichtern, die
sich auf der nassen Straße widerspiegeln.

Als Maler eines großstädtischen und
bürgerlichen Lebens wurde René Reinicke
bekannt. Auch er war zum Studium nach
München gekommen und machte sich ei-
nenNamenalsMalerundIllustrator.Insei-
nem Aquarell einer „Münchner Straßen-
szene um die Jahrhundertwende“ von
1903 sind zwar viele architektonische De-
tails erkennbar, man merkt aber, dass ihm
die an den Schaufenstern vorbeiflanieren-
den Passanten – vielfach in großbürgerli-
cher Kleidung – wichtiger waren. Dazu
schufermitHilfegelberLichtmomenteei-
ne seltsam feierliche Atmosphäre.
Nicht nur die Straßen, sondern insbe-
sondere Opern-, Theater- und Varietévor-
stellungen interessierten Hans Reinhold
Lichtenberger. Der aus Berlin stammende
Maler und Zeitgenosse Klees malte viele
Ballett-undTanzszenen undliebtees,hin-
ter die Kulissen in die Garderoben zu bli-
cken. Den Auftritt der weltberühmten
Schleiertänzerin Loïe Fuller im Deutschen
Theater in München hielt er 1910 aber
nicht voyeuristisch, sondern außerge-
wöhnlich expressionistisch fest. In eine
FarbexplosioninBlauhingegentauchteJo-
hann Charles Palmié 1907 den „Marien-
platz in München bei Nacht“. Aus der im-
pressionistisch Darstellung in Blau heraus
leuchten Lichtpunkte in weiß, gelb, grün,
lila und rot, während die Mariensäule nur-
mehr schemenhaft auszumachen ist.
Einen radikalen Bruch vollzogen die
zeitgenössischen Künstler. Hier fanden
vor allem die Fotografen eine neue Bild-
sprache. Thomas Ruff ging es in seinen
Nachtbildern nicht mehr um die Erkenn-
barkeit der Orte. Ihn faszinierten in den
Neunzigerjahren die grün getönten Auf-
nahmen, die er mit Hilfe von Kamera und
Nachtsichtgeräten von Szenerien im Nir-
gendwo schoss. Die Lichtsynthesen des
Münchner Fotografen Thomas Weinber-
ger zeigen menschenleere Orte, oft Indus-
triearchitektur, in völlig unwirklichem
Licht und mit krassen Farbakzenten. Da
rammt sich der Pfeiler der Großhesselo-
herBrückeindie MittedesBildes,derIsar-
dammwirkt,als obdahinter dieLichterei-
nes Ufos leuchten würden, das Heizkraft-
werk hinter einer Anwohnerstraße mit
glutroten Blumenbeeten scheint förmlich
zu verglühen, und eine Gleisansicht des
Münchner Hauptbahnhofs wirkt derart
spielzeughaft, dass Weinberger die Auf-
nahme gleich „Märklin“ genannt hat.
Am radikalsten aber geht der Fotograf
Wolfgang Tillmans mit München um. Der
in Berlin und London lebende Turner-Pri-
ze-Träger – von ihm stammt in München
das Aids-Memorial am Sendlinger Tor –
zeigt in der Aufnahme „An der Isar II“ ei-
nen Mann, der am Rande eines Grasfeldes
schläft. Daneben steht eine Bierflasche
und eine Plastiktüte scheint mit dem hel-
len Pullover des Mannes zu verschmelzen.
Eine grob gerasterte Schwarz-Weiß-Auf-
nahme, die das nächtliche München nicht
feiert, sondern ungeschönt das Ende der
Party darstellt.
In zahlreichen Fernseh- und Krimise-
rienspieltdasnächtlicheMünchenzwarei-
ne Rolle, Filme wie „Kir Royal“ feiern un-
teranderemdasNachtlebenundin„Night-
session“ lassen sich vier Skater durch die
Münchner Nacht treiben. Dass München
für Künstler aber bis heute nicht als Nabel
des nächtlichen Lebens gelten kann, dar-
auf scheint auch der Anteil der bayeri-
schen Landeshauptstadt in der Arte-Serie
„Durch die Nacht mit“ hinzudeuten. Wäh-
rendandereStädte,allenvoranBerlin,viel-
fach auftauchen, hat es München in
142Folgen nur ein einziges Mal geschafft:
Im Oktober 2005 ging es mit der Schau-
spielerin Bai Ling und DJ Hell durch Mün-
chen bei Nacht.

Sonnenschein und Wolken wechseln sich
ab.EskommtzumTeilzuheftigenRegen-
güssen mit Blitz und Donner.  Seite R14

von anna hoben

N


ach vielen Jahren sehnsüchtigen
Wartens ist es endlich so weit: Der
weltweit bekannte Influencer Ba-
rack Obama – 107 Millionen Twitter-Fol-
lower, 24 Millionen Fans bei Instagram –
kommt nach München, im September
zum Gründerfestival Bits & Pretzels.
„Probably one of the most influential
peopleofourtime“,sowirdderGastange-
kündigt, Tickets gibt s von 400 bis 2500
Euro.
Rätselhafterweise hat der ehemalige
Präsident der Vereinigten Staaten von
Amerika es bisher ja tatsächlich ge-
schafft, einen Bogen um die bayerische
Landeshauptstadt zu machen. Er war
noch niemals in Mju-nik! Da kann Mün-
chen schon ein bisschen gekränkt sein.
Fünf Mal hat er schließlich während sei-
ner Amtszeit die Bundesrepublik be-
sucht. Präsident Obama war in Berlin
und in Baden-Baden, in Hannover und
auf Schloss Elmau. Fast wäre er immer-
hin auf dem Weg dorthin durch München
gekommen.Allein,dasvermaledeiteWet-
ter war zu schön, und so flog Obama per
Hubschrauber, in einem gar nicht so
knappen Bogen, über den Ebersberger
Forst östlich an der Stadt vorbei.
Sogar in Dresden ist Obama gewesen,
daswarimJuni2009.Einprivatersächsi-
scher Postdienstleister legte damals eine
Sondermarke auf. „Yes, we can auch eng-
lish“, stand da. Auf den Displays der Stra-
ßenbahnenblinktees:„Welcome,Mr.Pre-
sident!“.Das HotelKempinskiwurdequa-
sizumWeißenHausumfunktioniert.Lan-
ge vor Pegida munkelten manche Dresd-
ner damals vom „großen Austausch“.
Und was soll man sagen, sie hatten recht:
DasPersonalwurdeeinmalkomplettaus-
gewechselt, 24 Stunden lang betrieben
Obamas eigene Leute das Hotel, vom
Koch bis zum Zimmermädchen. In Dres-
den traf der Präsident Angela Merkel und
betete mit ihr in der Frauenkirche.
Aber zurück an die Isar. Endlich also
wird die München-Lücke im Lebenslauf
von Barack Obama und die Obama-
Lücke in der Stadtchronik von München
geschlossen. Und dann ist während des
Besuchs auch noch Oktoberfest. Hallelu-
ja!DamalsinElmauhatteergesagt,erbe-
reue, dass er noch nie die Wiesn besucht
habe. Und: „Wahrscheinlich macht es
mehr Spaß, wenn ich kein Präsident
mehr bin.“ Wahrscheinlich hat er recht.
Auch lukrativer dürfte es sein, denn ver-
mutlich wird der Ex-Präsident nicht aus
reiner Menschenliebe vor 5000 ausge-
wählten Teilnehmern über sein Leben
und Führung in der Welt sprechen. Ir-
gendwie muss Geld reinkommen, wenn
man kein Präsidentengehaltmehr hat.Es
soll aber ganz gut laufen bei den Obamas.
Michelle verdient mit ihrer Autobiografie
biszu800000DollarproAuftritt,undBa-
rack sagte 2018 in einer Rede über globa-
le Einkommensungleichheit, sein neuer
Reichtum überrasche ihn selbst.
Ein paar Fragen wirft der Besuch noch
auf.WirdObamaineinemzweckentfrem-
deten Airbnb-Loft unterkommen, und
werden diestädtischen Wohnungsdetek-
tive ihm auf die Schliche kommen? Wird
er sich, wenn er es auf die Wiesn schafft,
eineLederhoseanziehen,undwiesiehter
darin aus? Wird er, gebürtiger Hawaiia-
ner, die Eisbachwelle surfen und dabei
singen „Es gibt kein Bier auf Hawaii“?
Man darf noch sehr gespannt sein.

28
°
/17
°

IhrLokalteilaufTabletundSmart-
phone:sz.de/zeitungsapp

Anna Hoben hat Obamas
Autobiografiegelesen. Kam
viel zu wenig München vor.

NR. 172,SAMSTAG/SONNTAG, 27./28. JULI 2019 POC


Markus Söder stellt sich in Nürnberg
Vertreternder Fridays-for-Future-
Bewegung  Bayern, Seite R14

Die Beratungsstelle Amanda vermittelt
Schülerinnenungezwungen viel über
Sexualität  München, Seite R3

Zeitgenössische Fotografen
finden eine
radikale Bildsprache


TAGS
NACHTS▼

Das Programm


auf den Seiten


R16 und R17


NULL ACHT NEUN

Die Obama-Lücke


schließt sich


Junge Forscher und angehende Architekten
wollen in München mehr Verrücktes
etablieren Kultur, Seite R18

Verehrt, beschworen, verteufelt


Die Nacht ist für Künstler schon immer ein Faszinosum gewesen. In Bildern, Fotografien und Fernsehserien
zeigen sie unerwartete Seiten der Stadt und entdecken an unwirtlichen Orten Idyllisches

NACHTGESCHICHTEN


Und München leuchtet in René Reinickes „Straßenszene um die Jahrhundertwende“, die er durch gelbe Lichter akzentuiert. Im Mittelpunkt seiner Darstellung steht
aber diefeine Gesellschaft, die an den Schaufenstern der Stadt vorbeiflaniert. FOTO: PICTURE ALLIANCE / AKG-IMAGES

Süddeutsche Zeitung München, Region und Bayern
Telefon:089/2183-475,
Mail:[email protected]
Internet:www.sz.de/muenchen,
Anzeigen:089/2183-1030
Abo-Service:089/2183-8080,www.sz.de/abo

Kino & Theater


Engagiert diskutieren
FOTO: PETER ROGGENTHIN

Locker informieren
FOTO: CATHERINA HESS

Schräg denken


Weit entfernt vom Glanz, in dem die Isarmetropole sich so gerne sonnt,
fotografierte Wolfgang Tillmans den Mann „An der Isar, II” 2008.
FOTO: STÄDTISCHE GALERIE IM LENBACHHAUS UND KUNSTBAU MÜNCHEN, KICO STIFTUNG;
COURTESY GALERIE BUCHHOLZ, BERLIN/KÖLN

Den Auftritt der weltberühmten Schleiertänzerin Loie Fuller im
Deutschen Theater München 1910 malte Hans Reinhold Lichtenberger.
FOTO: KUNKEL FINE ART MÜNCHEN / WALTER BAYER

Verschlafenes München?
Vonwegen: Im Dunklen
wird es vielerorts
erst so richtig spannend
SZ-Serie · Folge 1

DAS WETTER


Sporthaus


des Südens.


MÜNCHEN, DIREKT AM MARIENPLATZ
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