Süddeutsche Zeitung - 27.07.2019 - 28.07.2019

(nextflipdebug5) #1
von julia ber gmann

E

s gibt Dinge im Leben, die hat
man nicht in der Hand“, sagt
Christina Wechsel, 38. Da hilft
kein voller Wassertank, kein Re-
serverad und kein Check-up vor
der großen Reise. „Wir haben ja alles über-
prüft, bevor wir losgefahren sind, wir wa-
ren gut vorbereitet“, sagt sie. Was sie nicht
sagt: Was hätte das schon helfen sollen, in
dem Moment, als sich ihr Auto im australi-
schen Outback fünfmal überschlagen hat?
Was hätte es bringen sollen, als sie gespürt
hat, dass ihr bester Freund den Unfall
nicht überlebt? Als sie selbst schwer ver-
letzt mitten im Nirgendwo zwischen Ade-
laide und dem Ayers Rock um ihr Leben
kämpfen musste?
Christina Wechsel sitzt – 13 Jahre nach
dem Unfall – in einem Café, das mit seinen
bunten Sonnenschirmen undden Limos in
Weckgläsern besser an einen Sandstrand
passen würde, als an den Stadtrand. Sie
lehnt sich in ihrem Korbstuhl einStückzu-
rück, gerade so weit, dass man ihre Beine
imkurzenJumpsuitsehen kann.Dasrech-
te leicht gebräunt und ellenlang. Das linke,
ihr „kleines Bein“ trägt eine Sportprothe-
se. „Ich sage nicht Stumpf“, erklärt Wech-
sel. Kleines Bein. Das klingt wertschätzen-
der. Wechsel lächelt jetzt, wie sie es oft tut
während des Gesprächs. Lächelt selbstsi-
cher in die Welt. Überhauptlacht siegerne,
gestikuliertwährendsiespricht,tanztfast,
wenn sie geht.


Wer Christina Wechsel sieht, sieht eine
Frau, die sich in ihrem Körper wohl fühlt.
Das war nicht immer so.
„Am Anfang wollte ich mein kleines
Bein überhaupt nicht sehen“, sagt sie. Am
Anfang habe sie sich gedacht: „Warum ist
das passiert? Warum gerade mir und war-
um gerade ein Jahr nach dem Tod meiner
Mami?“ Es gibt Fragen, auf die man nie ei-
ne Antwort bekommt.
Ein Blick zurück. Etwas mehr als ein
Jahrzuvor,WechselwolltezuihrerWeltrei-
se aufbrechen, hatte schon alle Koffer ge-
packt, da klingelte das Telefon. Ihr Vater.
„Er hat gesagt, du, die Mami ist schwer
krank.“ Eine aggressive Form von Krebs.
Die Prognosen waren nicht gut. Für Wech-
sel stand fest, sie kann nicht mehr wegge-
hen.SiestornierteihreTickets,zogvon Zü-
rich zurück zu ihren Eltern. Dann ging al-
les ganz schnell. „Meine Mutter war für
michmeineSeelenverwandte,meineMen-
torin“, sagt Wechsel. Als sie gestorben ist,
„das war ein Albtraum“.
Eine ganze Weile war da nur Platz für
Schmerz und Trauer. Monatelang. Bis
Wechsel bewusst wurde: Ihre Mutter hätte
gewollt, dass sie die Reise nachholt. „Zum


Glück ist meine Familie so stark“, sagt sie.
IhrVaterhabesieinihrerEntscheidunger-
mutigt, zu fahren. Hat gesagt: „Ich bin, als
ich jung war, selbst raus in die Welt. Du
sollst das jetzt auch machen.“ Wechsel hat
damals gelernt, dass das wahre Glück im
Leben die Familie ist, die Freunde, die
auch in schweren Zeiten für einen da sind.
Ohne ihren Rückhalt hätte sie die Zeit
nichtsogutüberstanden.DiesesSelbstver-
ständnis, mit dem ihr Vater sie losschickte.
„Ich rechne ihm das hoch an“, sagt sie.
Und dann musste ihre Familie wieder
stark sein. Wenige Monate, nachdem
Wechsel nach Australien geflogen war.
NachdemUnfall.AlssiewochenlangimKo-
ma lag, ihre Organe zu versagen drohten
und ihr Unterschenkel amputiert werden
musste.Alssiewiederlernenmussteaufzu-
stehen.Zugehen.Weiterzumachen.IhrVa-
ter und ihr Bruder waren für sie da. Jeden
Tag.
An dem Tag, als sie sich zum ersten Mal
in den Rollstuhl setzte. An dem Tag, als sie
wieder versuchte, daraus aufzustehen. Als
ihr Standbein kribbelte und schmerzte, so
als würden tausend Ameisen darüber lau-
fen – und sie zu ihrer Physiotherapeutin
sagte:„Wiesolldasfunktionieren?Ichwer-
de nie wieder gehen.“
Sechs Monate hat es gedauert bis zu
dem Tag, an dem Wechsel mit ihrer ersten
Prothese zu Laufen begann. „Das war“ –
sie zögert kurz – „einfach überwältigend.“
Es ist das einzige Mal, dass Wechsel wäh-
rend des Gesprächs nach einer passenden
Beschreibung sucht.
Vielleicht gibt es einfach kein Wort, das
ausreicht,umdasGefühlvondamalszube-
schreiben.
Die ersten Schritte waren mehr als
Glück. „Ich wusste, jetzt kann mich nie-
mand mehr aufhalten.“ Früher habe sie so
vieles als selbstverständlich betrachtet.
Heute sei sie für genau diese Sachen dank-
bar. Das Aufwachen im eigenen Bett ge-
hört dazu, neben ihrem Mann. „Ich bin
schon mal an einem ganz anderen Ort wie-
der aufgewacht“, sagt sie. Mitten im
Nichts, sengende Sonne, furchtbare
Schmerzen. Seitdem ist wenig selbstver-
ständlich, sagt sie.
Für Wechsel bedeutete die Prothese
Freiheit.UndFreiheit,dasseidasWichtigs-
te für sie, die schon als Kind immer in Be-
wegung war, immer auf der Suche nach
Neuem, nach Abwechslung und Abenteu-
er. Und dann dieser Schicksalsschlag. Man
müsse sich das mal vorstellen. Die Situati-
on damals. Gerade eben sei sie noch auf
Weltreise gewesen. „Wir waren immer un-
terwegs, nie länger als zwei Tage am glei-
chen Ort.“ Im Kopf noch der Traum von ei-
nem endlosen Sommer und nur ein paar
Augenblicke später ging es ums Existenzi-
elle.„Nach denWochenim Komawar mein
Körper nur noch Haut und Knochen“, sagt
sie. In ihrer Reha in Murnau sei es dann
auch erst einmal darum gegangen,dasssie
überhaupt wieder zu Kräften kommt.
Trotzdem kamen sofort diese Fragen, die
Zweifel: „Was kann ich jetzt eigentlich
noch? Geht Autofahren? Kann ich später
wieder joggen?“
Siekann.GenausowieSkifahren,Sport-
klettern, Tauchen und Hiken. Sie probiert
noch immer gerne Neues aus. Auch beruf-
lich. Wechsel hatte vor ihrer Weltreise eine
Ausbildung zur Hotelfachfrau abgeschlos-
sen. Einige Zeit in dem Beruf gearbeitet.
Sich aber 2016 mit ihrer Praxis für Natur-
heilkunde in München selbständig ge-
macht. Für die Naturheilkunde als Beruf

hatte sie sich entschieden, nachdem sie
darin selbst Heilung gefunden hatte. Für
ihrezunächstnichtendenwollendenPhan-
tomschmerzen nach der Amputation.
„Schulmedizin und Naturheilkunde gehen
fürmichHandinHand“,sagtsie.Diepositi-
ve Erfahrung, die sie gemacht hat, möchte
sie an andere weitergeben. Auch an jene,
denen klassische schulmedizinische The-
rapien keine Linderung bringen. Helfen
will sie anderen auch mit ihrem Herzens-
projekt: „Peers im Krankenhaus“. Men-
schen, die schon seit Längerem mit einer
Amputation leben, stehen denen bei, die
kurz vor einer OP stehen oder sie gerade
erst hinter sich haben. Die Peers sind für
andere Betroffene da, hören zu, beantwor-
ten Fragen.

Auch solche: Wenn du heute aufwachst
und dir fehlt dein linker Unterschenkel,
bist du dann noch der gleiche Mensch wie
zuvor? Bist du dann immer noch die Frau
mit den ellenlangen Beinen, nach der sich
die Leute umdrehen? „Klar, es geht auch
viel um Körperbilder und Körperbewusst-
sein“, sagt Christina Wechsel. Auch für sie.
Früher hat Wechsel häufig Komplimente
für ihre schönen langen Beine bekommen.
Dann lange Zeit nicht mehr. Bis vor ein
paar Tagen. „Da hat mir das wieder je-
mandgesagt“,erzähltsieundlacht.Eintol-
les Gefühl. „Ich habe mich so darüber ge-
freut.“ Gebraucht hätte sie die Bestätigung
nicht. Heute ist Wechsel sicher: „Egal, was
kommt,nichtsundniemandkannmirmei-
ne Seele amputieren.“ Auch wenn einer ih-
rer Unterschenkel nicht mehr da ist, fühlt
sie sich heute ganz.
Es gibt zwar Dinge im Leben, die hat
man nicht in derHand. „Aber ichsage heu-
te auch, die Möglichkeiten sind grenzen-
los, wenn man wirklich an seine Träume
glaubt.“ Wechsel hat daran geglaubt, dass
sie wieder gehen, skifahren, klettern und
tauchenkann. Hatdaran geglaubt,dasssie
als Heilpraktikerin noch einmal von vorne
anfangen kann. Es war nicht immer ein-
fach. Es hat gedauert.
Es gibt noch vieles, wovon Christina
Wechsel träumt. Das Reisen gehört dazu.
„Seit dem Unfall habe ich 19 verschiedene
Länder besucht. Einige davon mehrmals“,
sagtsie. IndiesemJahrsollenzweineueda-
zu kommen, Kroatien und Slowenien. „Ir-
gendwann werde ich auch zurück zum Un-
fallort fahren.“ In die Wüste zwischen Ade-
laide und dem Ayers Rock, den sie dann
auch noch sehen will. Ein großer Schritt.
Nicht, weil sie noch nicht losgelassen hat.
Sondernum zuzeigen, dassman sichseine
eigenen Träume erfüllen kann. Vielleicht
auf Umwegen, vielleicht anders, als man
sich das einmal vorgestellt hat. Aber es
geht.

München/Wien – Eigentlich, schreibt
Marcel Heuperman, sei er schon im Ur-
laub.DenhatsichderSchauspieler,24Jah-
re, auchverdient. AmResidenztheaterwar
er seit 2015 fest im Ensemble und spielte
sich mit ungeheurer Kraft durch die Jahre
und sämtliche große Produktionen. Nun
verlässt er die Stadt, um mit seinem alten
und neuen Chef Martin Kušej zu gehen.

SZ: Was hat Ihr neuer Wohnort, was Mün-
chen nicht hat?
Marcel Heuperman: Ecken und Kanten.
Wien ist eine stark pulsierende Stadt, in
derso viele unterschiedliche Einflüsse aus
verschiedenen Ländern zusammenkom-
men.DieNähezumBalkanistspürbar,be-
ziehungsweisenichtzu übersehen.Dasfin-
de ich wirklich sexy.
Sexy – passt das nicht auch zu München?
InMünchenkomme icheinfach nichtüber
denEindruckhinweg,dasshierhauptsäch-
lich Menschen leben, die schnell viel Geld
verdienenwollen und dann wieder abhau-

en. Die Stadt definiert sich in jeder Hin-
sicht durch eine gewisse Protzigkeit. Das
ist mir bis heute sehr befremdlich. Aus-
flüchte konnte ich immer finden in der
wirklichtraumhaftenNaturrundumMün-
chen.
Welche Spuren haben Sie in München hin-
terlassen?
Hoffentlich viele! München istnatürlich in
erster Linie eine Arbeitsstation gewesen.
Also begreife ich die Frage auf das Theater
bezogen. Natürlich wünsche ich mir, dass
man sich an mich erinnert in München.
Auf der Bühne habe ich probiert, immer
Akzente zu setzen durch die Art, wie ich
spiele. Modern zu sein. Auch im Gespräch
mit dem Publikum immer herausfor-
dernd zu sein und den Menschen klarzu-
machen, wie weit, groß und vielschichtig
Theater sein kann. Tatsächlich kamen
dann Zuschauer auf mich zu und sagten,
wenn ich nicht mitgespielt hätte oder wir
vorher nicht darüber gesprochen hätten,
hätten sie sich das nicht angeschaut.

Was nehmen Sie aus München mit?
Idell: den Englischen Garten. Und das
Weißwurstfrühstück.
Drei Gründe, warum Sie froh sind, nicht
mehr in München zu leben ...
Oktoberfest. Seehofer. Teure Mieten.
Was werden Sie als erstes tun, wenn Sie
zu Besuch in München sind?
Essen gehen in der Seerose. Das Restau-
rant in Altschwabing hat eine extrem gute
Küche. Regionale Produkte, hausgemach-
te Pasta. Ein ausgezeichneter Italiener.
Am liebsten esse ich dort das Rinderfilet.
Was sind Ihre Lieblingsfotomotive von
München, die Sie sicher nicht von Ihrer
Kamera löschen werden?
Der Ausblick vom Dach der Staatsoper.
WirklicheintollerOrt. Ich wardortoftmit-
tenindenEndproben,kurzvorderPremie-
re. Wenn es „unten“ zu hektisch wurde,
konnte ich dort ganz in Ruhe wieder Kraft
tanken und kurz abschalten.
proto koll: christiane lutz
foto: peter kaad en /oh

KOMMEN & GEHEN


Die ersten Schritte
warenmehr als Glück.
„Ich wusste,
jetzt kann mich
niemand mehr aufhalten.“

Erst vor ein paar Tagen hat
sie ein Kompliment für ihre
langen Beine bekommen.
Wie früher. „Ich habe mich
so darüber gefreut.“

Marcel Heuperman

Immer


weiter


Nach einem Unfall in Australien liegt


Christina Wechsel wochenlang im Koma.


Ein Bein muss ihr abgenommen werden.


Heute geht sie wieder klettern,


tauchen und joggen. Sie weiß:


„Egal, was kommt. Nichts und niemand kann


meine Seele amputieren.“


Vor ihrem Unfall war für
Christina Wechsel vieles
selbstverständlich.
Heute freut sie sich über
Alltägliches. In ihrem
eigenen Bett aufzuwachen,
neben ihrem Mann, gehört zu
diesen Dingen.
FOTO:CORINNA GUTHKNECHT

„München definiert sich durch eine gewisse Protzigkeit“


Marcel Heuperman, Schauspieler am Residenztheater, folgt Martin Kušej ans Wiener Burgtheater


Mit jedem Menschen,
der zuzieht, verändert
sich die Stadt. Und auch mit
jedem Menschen, der
München verlässt, verliert
die Stadt ein Stück Identität

R6 LEUTE – Samstag/Sonntag, 27./28. Juli 2019, Nr. 172DEFGH


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