Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung - 28.07.2019

(Ann) #1

FRANKFURTER ALLGEMEINE SONNTAGSZEITUNG, 28. JULI 2019, NR. 30 leben 13


Mit solchen Aphorismen hat sich „Anja
Amaranth“ eine kleine Fangemeinde
ertwittert. Die freut sich jedes Mal,
wenn die 26-Jährige aus ihrem Alltag als

Verkäuferin beim Biobäcker berichtet,
irgendwo in Deutschland. Von Lukas Fuhr

B

esonders häufig schreibt sie ja
über Dinkel. Über Dinkel-
baguette und Dinkelbrötchen
und Dinkelbrot. Das klingt zwar
(immer noch) nach Reformhaus, aber
Anja Amaranth ist damit bekannt gewor-
den. Für ihre Fans ist „Dinkel“ längst das
Stichwort, dass es gleich lustig wird.
Mehr als 14 000 Accounts folgen ihr bei
Twitter. Anja, die in Wirklichkeit nicht
Amaranth heißt, ist Verkäuferin von
Biobackwaren, und seit drei Jahren
schreibt sie mit, was sie dabei so alles er-
lebt:
Kundin: „Ein Brot zum Essen, bitte.“
Ich: „Äh ja. Dinkel? Weizen? Vollkorn?“
Kundin: „Ich will das Brot essen!“
Ich: „Klar, aber hinter mir sind zwanzig
verschiedene.. .“
Kundin: „Zum Essen!“
Ich: „Man kann die alle essen!“
Sie: „Okay. Ein Bauernbrot, bitte.“
Knapp 2000 Menschen zum Beispiel
gefiel dieser Dialog, 56 antworteten.
Und Anja wundert sich, wie einfach sie
viele Menschen erreicht. Der Soziologe
Armin Nassehi liest mit, ein Fachanwalt
für Verwaltungsrecht folgt ihr. Der
Hochstapler Gert Postel nannte sie eine
„freche Göre“. Aber frech, das sind bei
Anja Amaranth vor allem die Kunden.
„Eine Brezel, bitte.“
Ich tue die Brezel in die Tüte.
„Noch eine Brezel.“
Ich tue die Brezel in die Tüte.
„Noch eine Brezel. Hihi.“

- „Ähm. Wie viele werden es insge-
samt?“
„Fünf! Aber es sieht so ulkig aus, wie Sie
sich immer umdrehen und immer generv-
ter werden!“


Trotzdem liebt Anja ihren Job an der
Brottheke. Dort hat sie als Studentin be-
gonnen, mittlerweile arbeitet sie beim
Fernsehen, in einer anderen Stadt. Am
Wochenende kommt sie aber immer
noch zurück, um den Menschen Brot zu
verkaufen. Seit es auf Twitter so gut läuft
mit ihren Anekdoten, arbeitet sie noch
lieber. „Wenn jemand unfreundlich ist
oder etwas Komisches passiert, weiß ich
jetzt schon, dass ich das in Likes transfe-
rieren kann.“ Und Likes mag sie. „War-
um schreibt man sonst Mist ins Internet,
wenn man keine Resonanz will?“
Wenn sie twittert, lesen das mindes-
tens Hunderte. Auch wenn sie bloß Bahn-
höfe aufzählt, an denen ihr Zug vorbei-
kommt. Das Ringen um Aufmerksam-
keit fällt ihr leicht neben all den Gieri-
gen, Lauten auf Twitter, die gelesen wer-
den wollen, die sich nach Zustimmung
oder wenigstens Ablehnung sehnen.
Doch was sie mit ihrer Resonanz an-
fangen soll, weiß Anja nicht so recht.
Eine deutsche Tageszeitung hätte von
ihr gerne ein paar Texte, auch eine Zei-
tung aus der Schweiz ist interessiert.
Aber Anja Amaranth weiß nicht, was sie
schreiben soll. „Ich bin wahrscheinlich
der einzige junge Mensch, der nichts zu

sagen hat“, sagt die 26-Jährige. Dabei hat
sie starke Überzeugungen, kauft selbst
so viel Bio wie möglich. Supermärkte,
die Eier aus Betrieben anbieten, in de-
nen keine männlichen Küken geschred-
dert werden, aber nicht das Fleisch der
Hähnchen, findet sie inkonsequent. „Das
Fleisch taugt zwar nur für Frikassee.
Aber das ist eben so.“
Seit viele immer ernster über Ernäh-
rung sprechen, ist es angenehm entspan-
nend, wenn Anja vorführt, dass wir Er-
nährungsperformer, die wir ihre Kunden
sind, uns oft genug selbst entlarven.
„Ich vertrage kein Gluten!“

_- „Wir haben verschiedene glutenfreie
Brote. Also mit Buchweizen, Hafer.. .“
„Ich will aber ein Dinkelbrot!“



  • „In unserem Dinkelbrot ist auch Glu-
    ten.“
    „Mir egal. Das schmeckt mir halt!“_
    Manche Bioläden sind kleine Welten
    in sich. Im Laden, in dem Anja arbeitet,
    gibt es 70-Gramm-Tafeln Schokolade,
    die mehr als drei Euro kosten, und Ge-
    treide von einer Mühle aus der Region.
    Anja ist überzeugt, dass es einen be-
    stimmten Bioladen-Geruch gibt, der auf
    so wunderbar vertraute Weise unverän-
    derlich ist wie der weihrauchbeseelte Ge-


ruch katholischer Kirchen, egal ob in
Rom oder Fulda.
Man sollte nicht meinen, die Kunden
seien netter, bloß weil sie sich Bio leisten
können. Anja erzählt von der Theorie ei-
ner Kollegin, dass manche extra in den
Laden kämen, um sich mal so richtig ab-
zureagieren. Aber: „Ich glaube nicht,
dass es bei Lidl an der Kasse besser ist“,
sagt Anja. „Eher anders. Bei uns im Biola-
den fragen die Leute wahnsinnig viel
nach.“ Inhaltsstoffe, Backarten und wie
Ferment-Sauerteig schmeckt.
Anja hat im Laden gerade Pause. Sie
trinkt aus einer Glasflasche eine algen-
grüne, blickdichte Flüssigkeit. „Matcha“,
sagt sie. „Haben wir hauptsächlich, weil
ich das so gern mag.“ Seit dem Morgen
verkauft sie „Kleingebäck“ und Brot, ent-
weder Vollkorn oder aus „Auszugsmehl“.
So heißt Weißmehl hier. Bisher sei heute
nichts Lustiges passiert, sagt Anja, als der
Samstagmorgensandrang nachlässt. Da-
bei kam bereits eine ältere Frau in den
Laden und fragte mit gesenkter Stimme,
wo die verlorenen Sachen gelagert wür-
den. Sie hatte am Tag zuvor ihr Klopa-
pier im Laden vergessen. Anja macht dar-
über keinen Witz; sie ist schließlich nur
für Backwarenhumor zuständig.
Anders als auf Twitter ist Anja im La-
den nicht berühmt. Ein Verkäufer an der
riesigen Käsetheke schäkert mit Seniorin-
nen, die Steppjacken tragen. „Er ist hier
der Verkaufsstar“, sagt Anja nicht trau-
rig. Dass sie im Internet aus diesem La-
den berichtet, wissen die wenigsten Kun-
den. Anja ist das lieber so. Deshalb will
sie auch nicht, dass geschrieben wird, wo
der Bioladen ist. Als sie anfangs den Ort
in ihren Tweets noch durchblicken ließ,

kamen einmal Fans zu ihr an die Theke.
„Das war komisch. Was sollte ich mit de-
nen tun?“ Anja hat ihnen Brötchen ver-
kauft, und dann sind die Fans wieder ge-
gangen.
„Einen Kaffee und ein Stück Kuchen, bit-
te.“

_- „Gern. Welchen Kuchen?“
„Himbeer und Kirsch auf keinen Fall.
Das wächst im Winter gar nicht hier.“



  • „Das tut Kaffee auch nicht.. .“
    Anja wehrt sich gegen solche Kunden
    doppelt: im Laden, wo sie freundlich
    bleibt, sich aber Ironie erlaubt, und on-
    line, wenn sie aus nörglig-dreisten Kun-
    den Darsteller auf ihrer Dinkel-Bühne
    macht. Sie ist unbezahlte Biobrot-Influ-
    encerin, aber Botschafter des deutschen
    Bäckerhandwerks ist in diesem Jahr
    FDP-Chef Christian Lindner. Weder
    Bioland noch Demeter folgen Anja auf
    Twitter. Aber Tausende reagieren auf
    ihre Miniaturen von der Backtheke: „Auf
    Twitter hat es irgendwie total gut funktio-
    niert. Ich weiß selbst nicht, warum.“
    Anja sagt, sie erfinde nichts.
    „Ist in dem Schokoladencroissant Schoko-
    lade?“

  • „Ja, ist mit Schokolade gefüllt.“
    „Sieht man gar nicht.“

  • „Ist ja auch innen.“
    „Wie kann ich sicher sein?“
    -„Sie müssen mir glauben.“
    „Ist mir zu unsicher. Ein Bauernbrot,
    bitte.“_
    Solche Dialoge haben aus einer jun-
    gen Frau aus der Eifel eine junge Frau
    aus der Eifel gemacht, die eigene Fans
    hat. Ihrem Account gibt sie noch etwa
    ein halbes Jahr. „Dann haben die Leute
    genug von Dinkel.“


F

amilienbetrie-
be, die im Lau-
fe der Jahr-
zehnte zu kulinari-
schen Zentren ge-
worden sind – es
gibt sie noch. Das
Hotel und Gasthaus
„Rottner“ im Nürnberger Stadtteil
Grossreuth gehört dazu. Unter
Koch Stefan Rottner gibt es nicht
nur ein Gasthaus mit einem breiten,
hochwertigen Angebot, sondern
auch mehrere Außenbereiche (an
diesem Abend sogar mit einem stür-
misch gefeierten Zitherspieler),
eine Kochschule, eine Scheune für
kulinarisches Kino – und neuer-
dings auch ein Sternerestaurant. Sol-
che ungeheuer sympathischen Fami-
lienbetriebe scheitern oft an einem
Missverhältnis zwischen Tradition
und Moderne oder auch am Nach-
wuchs, der vor lauter Work-Life-Ba-
lance nicht so will wie die hart arbei-
tenden Eltern. Als im Falle der Rott-
ners Sohn Valentin nach anspruchs-
vollen Wanderjahren bei Spitzenkö-
chen wieder zurückkehrte, hatte
man einen Raum zur Hand, in dem
der Sohn seine Ideen von kreativer
Küche realisieren konnte, und er be-
kam denn auch schnell einen Miche-
lin-Stern für seine Leistungen im
„Waidwerk“.
In dem schönen, alten Raum be-
ginnt das Menü mit auf einem Stück
Rinde servierten Snacks, etwa einer
klassischen Entenleberpraline mit
weißer Schokolade, einer sehr guten
panierten Wildschweinschnitte und
einem Flusskrebscannelono. Der ei-
gentliche Gruß aus der Küche ist
dann ein Stück Fjordforelle mit Saib-
lingskaviar, Staudensellerie, Erbsen-
sprossen und einer Beurre blanc;
hier zeigt sich ein feines Verständnis
von Proportionen.
Die erste Vorspeise fällt dann
ebenfalls ganz hervorragend aus. Sie
hat den Titel „Hamachi (also Gelb-
schwanzmakrele), Granny Smith,
Kopfsalat, Avocado, Granatapfel“
und besteht aus einem Stück von
dem leicht marinierten, dezent ange-
flämmten Fisch, auf dem sich eine
ganze Reihe von kleinen Elementen
nebst diversen Kräuterblättern ver-
sammeln. Das sieht bestechend gut
aus und schmeckt auch so, weil man
jeweils eine Schnitte abschneidet, die
dann eine genau abgestimmte Balan-
ce zwischen dem Fisch und der ge-
müsigen Begleitung bekommt.
Der „Ochsenschwanz mit Ei, Kar-
toffel und Gänseleber“ danach könn-
te ein wenig mehr von dieser Struk-
turiertheit gut vertragen. Die opti-
schen Signale stehen auf Moderne,
der Geschmack hat eine traditionel-
le Basis, die vor allem für viel Süffig-
keit sorgt. Ein wenig aus den Fugen
geraten ist danach der „Zander mit
Langostino, Brokkoli und Blumen-
kohl“. Das Problem ist hier eine
schnelle Vermischung der ähnlich

weichen Elemente, die ihre aromati-
schen Qualitäten dann kaum entfal-
ten können. Dafür glänzt Valentin
Rottner dann wieder mit „Reh, Erb-
se, Sellerie, Pfifferlinge, Fichtenna-
deln“, einer ganz auf das exzellent ge-
garte Wild bezogenen Komposition.
Knapp, aber ebenso überra-
schend wie überzeugend formuliert
sind die Desserts: eine Kombination
aus Schokolade und Shi-i-take (auf
die man erst einmal kommen muss);
und die Verbindung von einem
Rapseis mit Rapsöl und Melonen-
streifen. Es macht Spaß, hier im
Gasthaus „Rottner“ und dem „Waid-
werk“. An einem warmen Tag nach
einem Essen im Gourmetrestaurant
draußen im Biergarten noch einen
Schluck zu Zithermusik zu trinken
ist dann ebenfalls wirklich eine sehr
angenehme Sache.
Restaurant „Waidwerk“ im Hotel „Rottner“. Win-
terstr. 15–17, 90431 Nürnberg; Tel. 09 11 / 61 20 32;
http://www.rottner-hotel.de; Küche von Dienstag bis
Samstag 18–21.30 Uhr; Menüs 107 und 110 Euro
(jeweils 4 Gänge), 109 Euro (4, vegetarisch) und
130 Euro (6); wechselnde „Tranchiergerichte“ ab 2
Personen (z.B. Rinderrücken oder Lammrücken).

3200


eingetragene

Brotsorten

aber das beliebteste ist „Das da!“,

in Deutschland,

dicht gefolgt von „Nein, das daneben!“

D


ie Weinkarte bietet fünf bis zehn
offene Weiß- und Rotweine an.
Ansonsten noch Flaschenweine:
je nach Restaurant 30 oder 80, vielleicht
auch 150, manchmal noch mehr. Was
macht der Gast? Im Zweifelsfall, so die
Erfahrung der meisten Gastronomen, be-
stellt er den zweitgünstigsten offenen
Wein. Warum, darüber lässt sich trefflich
streiten. Vielleicht, weil er nicht weiß,
wie die Weine mit den kryptischen Na-
men schmecken. Einfach den billigsten
zu nehmen könnte aber geizig aussehen.
Eigentlich absurd, ist eine ausführliche
Karte doch dafür da, möglichst für jeden
Gast das Passende anzubieten. Doch wie
findet man zu seinem Wein?
Die Weinkarte wird meist von einem
Sommelier geschrieben, oder doch einem
Kenner oder einer Kennerin der Materie.
Nicht jeder Gast hat aber die gleichen
Kenntnisse wie diese. Und dabei geht es
nicht nur um die Frage, was eine 2014er
Graacher Himmelreich Riesling Spätlese
von einem 2017er Pittermännchen Ries-
ling Kabinett unterscheidet. Ist Chianti
eine Rebsorte? Gran Reserva eine Fla-
schengröße? Nehm ich Rheinhessen oder
Rheingau, nördliche oder südliche Rhô-
ne? Der Gang in den Elektronikmarkt
auf der Suche nach einem neuen Compu-
ter erscheint da vergleichsweise einfach.
Zumal man da wenigstens noch nach
dem Aussehen gehen kann.
Apropos Aussehen: Genau diesen auf
Weinkarten völlig unterschlagenen As-
pekt greift die Weinbar „Weinsinnig“ in
Trier auf, um die Schwelle zwischen Gast
und Produkt abzusenken. Denn eine
Weinkarte im traditionellen Sinne gibt es
hier gar nicht. Stattdessen werden die Fla-
schen einfach an die Wand gehängt. „Vi-
suelle Ansprache“ nennt die Betreiberin
Manuela Schewe das. Neben der Flasche
postiert sie noch eine Karteikarte mit Ba-
sisinformationen wie „trocken“ und den
Preis. Alle Weine können glasweise be-
stellt werden – und kommen dann natür-
lich aus der Kühlung.

Selbst die Auswahl der „begehbaren
Weinkarte“, wie Schewe das smarte Kon-
zept nennt, geschieht basisdemokratisch:
Wenn eine der 30 verschiedenen Fla-
schen ausgetrunken ist, kann sich der
Gast einen neuen Wein wünschen. „Ich
dachte früher immer: In einer Vinothek
muss ich intelligente Fragen stellen und
teuren Wein kaufen. Zumindest bei uns
ist das nicht nötig“, so ihr Credo. Um
den Gästen auch die Schwellenangst vor

großen Namen zu nehmen, gibt es bei
ihr einmal im Monat einen berühmten
Wein glasweise. Das Ganze dann auch in
sehr kleinen Portionsgrößen: So kann je-
der auch für überschaubares Geld einen
Eindruck bekommen.
Auch das „Schmidt Z & Ko.“ in Berlin
setzt statt Papier auf das Objekt, hier aller-
dings bei den Flaschenweinen. Da das Lo-
kal gleichzeitig auch eine Weinhandlung
ist, gibt es dabei jede Menge Auswahl.

„Mit dem Gast beginnt das ganz normale
Gespräch: wo er hinmöchte vom Ge-
schmack her“, erklärt Geschäftsführer
Ralf Zacherl. Ist das Spektrum einge-
grenzt, geht man gemeinsam ans Regal.
Dort bekommt der Gast auch wieder ei-
nen visuellen Eindruck von dem Wein –
und von dessen Preis, was im normalen
Beratungsgespräch nicht immer vor-
kommt. Gezahlt wird das, was als Einzel-
handelspreis dransteht, plus 15 Euro Kork-
geld für den Verzehr vor Ort. „Bei uns
gibt es alle Weine auch gekühlt, trotz der
großen Auswahl.“
In der Kölner Weinbar „Henne“ sieht
die Karte auf den ersten Blick ganz nor-
mal aus, entpuppt sich aber auf den zwei-
ten als smart. Denn erstens erfolgt die
Sortierung nach Rebsorten. Der Gast
muss also nicht wissen, dass Chianti Clas-
sico und Brunello beide aus Sangiovese
gemacht werden. Und zweitens werden
alle Weine in eine von drei Schubladen
gesteckt: classic, freakshow, icon. Unter
Klassikern versteht man einen „für jeden
Weingenießer erkennbar guten Wein“,
so die Erklärung. Dazu gehört sicher,
dass die typische Rebsortenaromatik
schmeckbar und ein Weißwein nicht ir-
gendwie trüb ausschaut. Bei der freakshow
sieht das logischerweise anders aus, denn
die stammen „von echten Typen, die das
ein oder andere anders machen“. Da
fließt ein Weißwein dann auch schon mal
ungefiltert ins Glas, fühlt sich im Mund
an wie Rotwein und riecht mitnichten
frisch und fruchtig. Und die dritte Kate-
gorie sind die sogenannten icon s: berühm-
te Namen, die jeder einmal getrunken ha-
ben will.
Auch die Karte der Weinbar „Maerz“
in Bietigheim-Bissingen geht von der Sor-
tierung nach Ländern und Anbauregio-
nen weg. Unter „Weiß und Pink“ etwa
finden sich ungewöhnliche, gleichwohl
eingängige Kategorien. „Ankommen: ein-
schenken und lostrinken“ lautet die eine,
unter der sich unkomplizierte Sauvignon
Blancs oder eben Rosés finden. Bei „Ent-

spannung pur: Struktur und Kraft“ ste-
hen dann große deutsche Rieslinge oder
Chardonnays aus Burgund auf dem Pro-
gramm. Dass unter der Überschrift „Für
Mutige“ solche Weine zu finden sind, die
in einer Amphore oder gar als Orange-
Wein ausgebaut wurden, wirkt schlüssig.
Warum für im Betontank oder im Barri-
que gereifter Wein Mut nötig sein soll, er-
scheint nicht sofort nachvollziehbar.
Neben diesen Einteilungen geht das
„Maerz“ aber noch einen smarten Schritt
weiter und versucht auf der Weinkarte,
was sonst allenfalls im Gespräch mit dem
Gast stattfindet: eine Beziehungsebene
aufzubauen. So erfährt man etwa, dass Va-
nessa einen Chardonnay aus Argentinien
toll findet, weil der eine „angenehme
Holznote“ mitbringe und sie „gehaltvolle-
re und komplexere Weine“ mag. Benja-
min dagegen steht auf einen Sauvignon
Blanc aus dem Languedoc-Roussillon –
vor allem wegen des Etiketts. „Dafür
hasst mich mein Bruder“, gesteht Benja-
min weiter im Text. Zusammen mit besag-
tem Bruder, dem Sommelier Christian
Maerz, führt er die Geschäfte.
All diese Ansätze entziehen sich der tra-
ditionellen Weinkarten-Systematik. Wer
anhand der Angaben zu Jahrgang, Rebsor-
te, Winzer und Anbaugebiet nicht erken-
nen kann, was für ein Weintyp sich dahin-
ter verbirgt, wird die Hilfestellung zu
schätzen wissen. Während sich der Ken-
ner auch in einer solchen Karte zurecht-
findet. Natürlich kann man nach wie vor
auch einfach das Servicepersonal fragen.
Von einer buchdicken Weinkarte einge-
schüchtert, traut sich das aber nicht jeder.
Sozusagen mit der Konfrontations-Me-
thode arbeitet daher Philipp Heine, Inha-
ber der „Weinbar Weimar“. Er schreibt
die rund 100 Weine, die es auch alle glas-
weise gibt, auf eine erschlagend große Ta-
fel. „Das ist viel zu viel, was soll ich denn
nun nehmen?“, lautet der Protest vieler
Gäste. Und schon ist man mit dem Gast
im Gespräch, berät, schenkt einen Probe-
schluck ein. Und findet schließlich etwas.
Auch ziemlich smart.

HIER SPRICHT
DER GAST

Glanz der


Komposition


Das „Waidwerk“ in
Nürnberg bietet Feines.
Von Jürgen Dollase

Ist Chianti eine Rebsorte? Gran Reserva eine Flaschengröße? Foto Getty

Normalerweise sind Weinkarten nach Weiß und Rot
geordnet und nach Regionen. Doch das hilft nur dem
Gast, der sich ohnehin auskennt. Einige Gastronomen

wollen jetzt Abhilfe schaffen. Von Gerald Franz


Klassiker,


Freakshows und


Ikonen

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