Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung - 28.07.2019

(Ann) #1

34 feuilleton FRANKFURTER ALLGEMEINE SONNTAGSZEITUNG, 28. JULI 2019, NR. 30


H


underte Fotos habe ich mir ange-
schaut, die indigene Völker zei-
gen, aus Brasilien und Venezue-
la, einer ethnologischen Neugier folgend,
die ich selbst kaum deuten konnte. Zu sa-
gen, dass ich über diese Welt nichts wuss-
te, wäre keine ausreichende Rechtferti-
gung für meine forsche fotografische
Feldrecherche. Vielleicht war ich von mei-
nem eigenen Unwissen erschrocken und
auch davon, dass der kritische Diskurs es
mir untersagt, in meiner Betrachtung
„fair“ zu sein, überladen von der konquis-
tadorischen Schuld des Kolonialismus.
Auch nach ausführlicher Sichtung der Fo-
tografien, die dem Schutz dieser Völker
dienen sollten, spürte ich ein Unbehagen
beim Anschauen dieses Fotos. Ich erken-
ne die Ästhetik des Bildes und wie das
Licht eine „Erleuchtung“ erzeugt, ich
sehe das Mädchen, das noch nicht dort-
hin schaut, wohin die erwachsenen Frau-
en sich ausrichten. Zufall, dass das Mäd-
chen zur Seite blickt. Es formt eine my-
thologische Achse. Das Mädchen und der
Baum hinter ihr bilden eine Vertikale,
eine Schwelle, zwischen rechts, dem Blick
nach vorne, und links, dem eigentlichen
Zurück. Ich könnte dies als „Unschuld
der Wildnis“ interpretieren, eine Deu-
tung, die vor allem meine eigene Nostal-
gie widerspiegelt, durch die ich die Welt
dieser Menschen sehe. Das Mädchen
steht im Zentrum. Der Dunkelheit ge-
hört die Hälfte des Bildes. Ich sehe hier
auch meine Angst: Die Kritik am Voyeu-
rismus raubt mir die Möglichkeit, selbst
an meine guten Vorsätze zu glauben. Des-
halb erinnerte ich mich an eine Erzäh-
lung, die von einem ähnlichen Unbeha-
gen handelt.
1959 schrieb Clarice Lispector, eine bra-
silianische Schriftstellerin, deren Familie
sich, als Clarice noch winzig klein war,
aus dem dunklen Chaos der ukrainischen
Pogrome nach Südamerika losgerissen
hatte, eine Geschichte, die „Die kleinste
Frau der Welt“ heißt. Die Erzählung han-
delt von einer radikalen Begegnung: ein

weißer männlicher Forscher und sein
schwarzes weibliches Objekt. Ein französi-
scher Anthropologe namens Marcel Prê-
tre dringt immer tiefer in die feuchte
Wildnis des Zentralkongos vor, seinem
Verlangen, der Wissenschaft, folgend.
Ob die Eitelkeit eines Forschers unsere
Suche nach dem verlorenen Paradies ver-
körpert? Nach einem glücklichen Urzu-
stand? Nach einer Parität der Geschlech-
ter? Seine Jagd wird belohnt, da er die
kleinste Frau der Welt entdeckt, von der
er der Presse berichtet, sie sei „dunkel
wie ein Affe“. Der Mann ist mit einer Ka-
mera ausgerüstet, mit dem Recht, zu sich-
ten, zu kategorisieren und einzuordnen.
Die kleinste Frau ist einfach da, wie die
Welt um sie herum. Obwohl, ganz ehr-
lich – wie sollen wir wissen, was ihre Exis-
tenz ausmacht?
Lispectors Erzählung ist der Betrach-
tung dieser Pygmäen-Frau gewidmet.
Sie, die Kleinste unter den Kleinsten, ist
noch dazu schwanger. Ihre Größe und
ihr Versteck im unerforschten tropischen
Wald suggerieren eine endlose Verkleine-
rung ihrer menschlichen Bedeutung, bis
zum Fast-Nichts, eine Verkleinerung ih-
rer Existenz bis zur möglichen Unsicht-
barkeit, bis zum Verschwinden von ihr
und ihrem Volk. Aber die Logik federt zu-
rück, und genau dies macht sie zum Ju-
wel, zur Besonderheit, sie ist die wertvolls-
te Entdeckung des Anthropologen, sein
Fund. Und das ist genau, was in dieser Er-
zählung passiert: Die konsequente Ver-
kleinerung zeigt, dass der Mensch, die
Frau selbst, diese kleinste, unreduzierbar
ist.
Aber zuerst macht der Forscher eine
Fotografie von dieser kleinsten Frau, die
in der Zeitung publiziert wird. Ihr Bildnis
gelangt dadurch in Tausende von Häu-
sern – ein triumphaler Auszug aus dem
Wald –, in die Zimmerfluchten der mo-
dernen Haushalte, in die Stuben der In-
terpretation, in die sicheren Sackgassen
unserer Zivilisation, die sich immer für et-
was Besseres hält. Damit beginnt die end-

lose Vereinnahmung dieser Frau. Ich
dachte zuerst, dass die Fiktionalität der
Erzählung auch einer Fiktionalität des Fo-
tos entspräche und auch das Volk nicht
existiere. Lispector ist aber von einem
konkreten Foto ausgegangen, das sie
Ende der fünfziger Jahre gesehen hat, als
immer mehr Fotoreportagen aus Afrika
die Öffentlichkeit erreichten. Ich suchte
das Ursprungsfoto von jener „kleinsten
Frau“ und fand in digitalen Archiven Bil-
der von Pygmäen aus dem Zentralkongo,
die tatsächlich sehr schwarz und sehr
klein waren, mit flachen Nasen und tief-
gelegenen Augen – und irgendetwas hielt
mich davor zurück, diese Suche fortzuset-
zen.
Lispector schildert die Reaktionen, die
das Foto auslöste. Die Betrachtung führt


  • wie die Liebe des Menschen – immer
    auch zur Vereinnahmung. So sagt eine


Mutter zu ihrer Tochter, dass die Traurig-
keit der „kleinsten Frau“ eine tierartige
sei. Eine andere erspürt „endlose Zärtlich-
keit“ der Pygmäin gegenüber, aber „wer
weiß, zu welcher Dunkelheit der Liebe
eine solche Zuneigung gelangen kann“.
Ein fünfjähriges Mädchen, das noch vor
wenigen Minuten die Kleinste in ihrer
Welt war, empfand eine Vorahnung da-
von, dass das „Unglück keine Grenze
hat“. Eine Frau schützt ihren kleinen
Sohn vor einer Leidenschaft so „dunkel
wie ein Affe“, die ihn in Zukunft noch er-
obern werde. Die Menschen blicken sie
an und kehren in der Evolution der eige-
nen Seele zurück, in ihre unbekannten
Ecken. Dann wird die Frau noch gemes-
sen. Die kleinste Frau aber lacht, weil sie
noch nicht aufgefressen worden ist, nicht
von wilden Tieren und nicht von unse-
rem allesverstehenden Blick.

Lieber Leser und Kol-
lege Luehrs-Kaiser, die-
se Ihre freislich formu-
lierte Frage taugt lei-
der nur zu teutoni-
schen Flausen. Wäre
ich eine Italienerin,
könnte ich kontern mit
welscher Gegenfrage:
Und was, zum Wotan, nutzt Ihnen der
Stabreim bei Wagner?
Zunächst sei festgestellt: Welten lie-
gen zwischen dem Repertoire einer deut-
schen Blaskapelle und dem einer italieni-
schen Banda. Außerdem wird das „h“ im
Italienischen nicht ausgesprochen. Wes-
halb in der Verdiforschung, wenn über-
haupt, stets nur vom „Um-tata“ oder ei-
nem „M-tata“ die Rede ist. Natürlich un-
terscheidet sich das italienische „Um-
tata“ grundsätzlich vom deutschen
„Hum-tata“, dessen vertrottelte Dumpf-
backigkeit in Allianz mit einem nicht
minder deutschtümelnden „Tä-tärä“ vor
vielen Jahren schon vom deutschen Bar-
den Udo Jürgens in einem bitterbösen
Schlager aufgespießt worden war.
Schließlich: Die charakteristische, meist
blechbläservergoldete Begleitfigur, mit
der das Orchester zumal in den Opern

des jungen Giuseppe Verdi fast jede Arie,
jeden Chorsatz einleitet und/oder durch-
laufend akkompagniert, kennt vielerlei
Varianten. Sie setzt sich keineswegs nur
aus den drei berühmten Achtelnoten zu-
sammen, die den Gefangenenchor aus
„Nabucco“ grundieren: eine betont, zwei
unbetont („Va pensiero, sull’ali dorate“).
Im Vorspiel zu „La Traviata“, das die
Verzweiflungsbitte der Violetta aus dem
zweiten Aufzug („Amami Alfredo“) vor-
wegnimmt, verteilt sich die „Um-tata“-
Formel auf vier herzbebende Achtelno-
ten. Manchmal sind es aber auch fünf.
Manchmal ist eine davon punktiert, oder
eine der mittleren splittet sich auf in zwei
Sechzehntel. Manchmal liegt, wie in der
Kantilene des Simon („Del mar sul
lido“) aus dem Prolog zu „Simon Bocca-
negra“, die Betonung nicht auf dem ers-
ten Achtel, sondern synkopisch auf dem
zweiten, das mit einem kurzen Vorschlag
verziert wird. Manchmal, wie in dem Lie-
besduett der unglückseligen Königskin-
der („A morir adesso“), die zueinander
nicht kommen können, im zweiten Akt
der Oper „Ernani“, lösen sich die Achtel
auf in eilig vor sich hin harfende Triolen.
Dann klingt es, jedenfalls wenn der Rich-
tige am Pult steht und für Drive und

Wucht und Schwung sorgt, zum Beispiel
Marcus Bosch mit seiner Cappella Aqui-
leia bei den Opernfestspielen in Heiden-
heim, als sei das Orchester die sonore Gi-
tarre eines unsichtbaren Troubadours,
der die Seelengedanken der in Absurdis-
tan verlorengegangenen Menschlein wis-
send und tröstend begleitet.
Verdis „Riesengitarre“, so hat der deut-
sche Musikkritiker Eduard Hanslick, der
Ur-Beckmesser, dieses „Um-tata“ spot-
tend genannt. Er fand es ordinär oder
vielmehr populär, mithin unfein. Dabei
verstärkt dieser beherzte Griff in den
Fundus der Volksmusik die Empathie.
Beginnt, auf dem guten Takt, das beben-
de „Um-tata“, weiß jeder im Saal, auch
der Türschließer: Jetzt geht’s los. Gleich
passiert was. Großes wird geschehen.
Das Vokabular dieser aus wohlbekann-
ten Banda-Rhythmen abgeleiteten Be-
gleitfiguren ist Verdis Alleinstellungs-
merkmal. Man erkennt seine Musik dar-
an sofort, so, wie man Wagners Musik
an der sich erweiternden Harmonik zu
erkennen glaubt. „Nicht anders als für
den Balladenerzähler die Gitarre, so ist
für Verdi das Orchester zunächst einmal
Stütze und Basis für das, was jenseits da-
von auf der Bühne geschieht“, schreibt

Leo Karl Gerhartz, in einem „klar hörba-
ren Gegenüber von Begleitung und Ge-
sang“. Die Orchestergestik ordnet sich
dem Wort, den Sängern und der musika-
lischen Grundfarbe des Dramas, der „tin-
ta musicale“, unter.
Anders bei Wagner: Da ist das Orches-
ter oft klüger als die Sänger. Und doch
kommt es vor, dass Wagner rhythmisch
federnd und ebenso emphatisch-banal
wie früher Verdi tönt, beispielsweise in
der Rom-Erzählung des „Tannhäuser“,
die heute auf dem grünen Hügel wieder
von dem unerschütterlichen Tenor-Re-
cken Stephen Gould gesungen wird, zu
Ehren seiner famosen neuen heiligen Eli-
sabeth: der quellklaren, starken Lise Da-
vidsen. Und es kommt umgekehrt vor,
dass Verdi die Orchesterfarben mindes-
tens so sprechend und idiomatisch ein-
setzt wie Wagner. Wahre Wunder voll-
brachten, was das betrifft, neulich die
Holzbläser der Cappella Aquileia in Hei-
denheim, in Verdis „Ernani“. Auch hier
war, in der Partie der Elvira, eine starke
junge Sängerin zu entdecken: Leah Gor-
don. Mit engelhafter Höhe, biegsamer
Koloratur und orgelnder Tiefe surfte sie
über die „Um-tata“-Wogen, dass uns das
Herz stehen blieb.

Die kleinste Frau


Von Katja Petrowskaja


BILD DER WOCHE


FRAGEN SIE ELEONORE BÜNING


Was bedeutet das Hum-ta-ta bei Verdi?


E


ines Tages hat er getötet. Er erinnert
sich ganz genau. Nur der Zusammen-
hang fehlt. Das Gesicht, der Ort, die
Zeit. Er weiß, dass er getötet hat, wenn er je-
doch erwacht, erscheint ihm alles wie ein
Traum. Von einem Tag zum andern verwan-
delt sich der Traum. Er träumt, vergessen
zu haben, dass er getötet hat. Beim Erwa-
chen löst der Traum sich nicht auf. Verzwei-
felt versucht er, das zu erinnern, was sich
ihm entzieht. Dann zeichnet das Bild eines
Waldwegs sich ab, breit, ohne Fahrspuren
von Lastwagen oder Kutschen, der zum Tat-
ort führt. Nichts weiter. Dieses Stück Weg,
wahrgenommen im Augenblick des Sichum-
wendens, erzeugt ein unaussprechliches Un-
wohlsein, bei dem sich Schlaf und Wachsein
nicht mehr unterscheiden lassen. Die einge-
bildete Wahrheit entzieht sich ihm. Er wagt
nicht, sich davon zu überzeugen, dass alles
ein Traum ist, da er nicht ausschließen
kann, dass er es in ein Vergessen hinein ver-
drängt hat, dessen Gegenwart er spürt, wie
ein Loch, das gefüllt sein will.
Im Lager und im Schützengraben umge-
ben ihn fünf Jahre lang andere Mörder, die
nicht die mindeste Vorstellung davon ha-
ben, es zu sein. Sie haben bloß ihre Pflicht
getan, mit mehr oder weniger Erfolg, ohne
sich selbst töten zu lassen. Vielleicht sind sie
verwundet worden, sogar schwer, aber Mör-
der, nein, sie sind sich nicht bewusst, dass

sie es sind, sie haben vielleicht getötet, aber
Mörder sind sie nicht. Doch er fühlt, dass
er getötet hat, anderswo, in einem Wald an-
scheinend, ohne dass er mehr darüber wüss-
te, ohne ein Gesicht zu sehen, ohne sich an
den Augenblick zu erinnern, an den Grund,
denn es braucht immer einen Grund, man
hat eine Menge Gründe, wenn man tötet im
Krieg, man braucht sich nicht zu rechtferti-
gen, auch wenn man auf das Töten hätte ver-
zichten können, wenn man aus Wut getötet
hat, aus Angst, aus Scham über das, was
man vor dem Töten begangen hat, aus
Angst, sich nicht erklären zu können, aus
Feigheit. Ja, er erinnert sich an ein Gefühl
der Feigheit. Hat er wirklich getötet, dann
hat er es aus Feigheit getan, also leidet er
noch mehr, er weiß, dass er aller Wahr-
scheinlichkeit nach ein Feigling ist. Er ist
ein Mann, also ist er ein Feigling, ein
Schwächling, stark durch seine Schwächen,
die ihn dazu gebracht haben, zu töten, aber
wen? wann? wo? wie? warum? Diese Einge-
bung, ein Feigling zu sein, überzeugt ihn
bei alldem nicht, sie ekelt ihn an, er braucht
einen anderen Beweggrund. Er schläft ein,
er wacht auf, der Traum kehrt wieder und
kreist in seinem Hirn, und niemand würde
ihm hier zuhören, im Lager, wo alle getötet
haben und alle Träume haben können, die
seinem ähneln. Aber sie sprechen nicht da-
von.

Viel später wird er seinem Sohn, der den
Großvater, den Vater des Sohnes, der aus
dem Lager zurückkehrt, nicht gekannt ha-
ben wird, er wird ihm sagen, das Lager, das
Gefängnis, die Gefangenschaft sind schreck-
licher gewesen als der Krieg selbst, was ich,
sein Enkel, verstehen kann. Daher schreibe
ich ihm einen Traum zu, der mich gequält
hat wie die Träume, von denen die Gefange-
nen gefoltert worden sein müssen, die Solda-
ten, die Mörder, die in Albträume eintauch-
ten, aus der Langweile entstanden, aus der
Aufhebung jeder Tätigkeit, wenn sie Offizie-
re waren, Träume, geboren nach dem Ende
des Kriegsalbtraums, der sie mitgeschleppt
und verschluckt und ausgespuckt hatte, um
eingefangen und in Sicherheit gebracht zu
werden, weit weg von allen, alleingelassen
mit ihren Wünschen und ihren Ängsten
und unaussprechlichen, nicht zu bereden-
den Albträumen, deren Verrücktheit schon
von einer verbotenen Wahrheit zeugt.
Der Soldat wird wach, als jemand an sei-
ner Hose nestelt. Mit der Hand greift er in
einen Haarschopf und öffnet die Augen. In
der Stube riecht es nach Suppe. Die junge
Frau setzt sich neben ihn auf das Bett und
schaut ihn fragend an. Dann hält sie ihm
den halbvollen Napf mit Suppe hin. Das ist
für dich. Ich kann noch einmal gehen und sa-
gen, dass ich viel Hunger habe, aber dann
musst du mir etwas Geld mitgeben. Einen

Napf geben sie mir so, mehr nicht. Be-
stimmt haben sie auch nicht viel, sagt er,
aber sie schüttelt den Kopf, nein, sie haben
genug, es ist Gold im Haus, ich weiß es ge-
nau.
Der Soldat spürt, wie eine Gelegenheit
ihn böse angrinst und seiner Geschichte
eine Wendung geben könnte, die der Vater
nicht vorausbedacht oder verantwortet hät-
te. Ihn fröstelt wieder, und er fragt, darf ich
mich eine Weile bei dir ausruhen? Zieh
dich aus, sagt sie, ich komm zu dir unter das
Federbett. Schau mich nicht so an. Ihr Kör-
per ist sparsam gebaut, ohne eckig zu wir-
ken. Vor dem Krieg hätte sich niemand
nach ihr umgesehen. Die Frauen waren
überall gepolstert, und keiner konnte sie
sich mager vorstellen, außer ihre Taille.
Jetzt sind die Polster verschwunden. Die Bli-
cke der Männer können weniger schwelgen,
aber sie kommen der Wirklichkeit der Kör-
per näher als früher. Der Soldat sieht kaum
hin, da spürt er schon ihre Nähe. Das lässt
er einfach so geschehen, weniger aus Müdig-
keit, sondern weil er nicht mehr weiß, was
nun zu tun ist. Diese Entscheidung nimmt
sie ihm ab. Das ist kein Traum, ganz im Ge-
genteil. Es ist anstrengend und tut ihm gut,
und dann schläft er in den Tag hinein.
Georg Hermann Holländer lebt und arbeitet in Berlin. Der
Text ist ein Vorabdruck aus seinem Roman „Der eine Sohn“
(Aphaia-Verlag, 170 Seiten, 17 Euro).

N


ach der überraschenden Wahl
zum Präsidenten der Ukraine
mit der überwältigenden
Mehrheit von 73 Prozent der Wähler-
stimmen ist dem Comedian Wolody-
myr Selenskyj ein weiterer Sieg gelun-
gen. Seine aus dem nichts hastig ge-
stampfte Partei „Diener des Volkes“ er-
hielt bei der vorgezogenen Wahl mehr
als die Hälfte der Sitze im ukrainischen
Einkammerparlament, der Rada. Die
Versuchung ist groß, diese zwei Sätze
mit noch mehr Adjektiven zu spicken:
Die vorgezogene Wahl war rechtlich
fragwürdig, die Partei ist virtuell, die er-
rungene Mehrheit in der Rada für den
unabhängigen ukrainischen Staat präze-
denzlos, Selenskyj politisch unerfah-
ren, dafür aber dreist. Und seine bei-
den Siege sind verhängnisvoll.
In der Ukraine herrscht dagegen
Aufbruchsstimmung, und sie ist so
stark, dass es selbst Experten schwer-
fällt, auf die Gefahren hinzuweisen.
Man redet stattdessen von einer einma-
ligen Chance für das Land, sich aus
dem Sumpf der Kor-
ruption zu befreien.
Selenskyj, dessen
Macht jetzt uneinge-
schränkt ist, könne es
endlich aus der post-
sowjetischen Tristesse
in die Moderne füh-
ren. Diese Hoffnun-
gen lenken vor der ei-
gentlich naheliegen-
den Erkenntnis ab,
dass sich in der Ukrai-
ne eine populistische
Machtübernahme mit
unvorhersehbaren Fol-
gen vollzogen hat.
Wie Selenskyj die Ukraine moderni-
sieren will, bleibt selbst zwei Monate
nach seinem Amtsantritt ein Geheim-
nis. Ein Programm hat er bisher nicht
vorgelegt, dafür aber etliche Schritte
unternommen, um seine Macht zu fes-
tigen. Seine erste Amtshandlung war
die vorzeitige Auflösung der Rada.
Die rechtliche Grundlage dafür war
äußerst dünn, doch das Verfassungsge-
richt folgte dem politischen Trend
und bestätigte die Entscheidung. Die
Vorverlegung der Wahl war notwen-
dig, damit die Präsidentenpartei „Die-
ner des Volkes“ von Selenskyjs Mo-
mentum profitiert. „Diener des Vol-
kes“ heißt die Fernsehshow, in der Se-
lenskyj einen integren Präsidenten ver-
körperte. Der Fernsehpräsident fuhr
Fahrrad, und die Figur Selenskyjs auf
dem Fahrrad wurde zum offiziellen
Emblem seiner Partei. Der Amtsinha-
ber Selenskyj präsentiert sich dem
Wahlvolk in einem Tesla: In einem
15-minütigen Video fährt er durch
Kiew am Steuer des elektrischen Lu-
xuswagens und räsoniert darüber, dass
der Krieg mit Russland nur deswegen
immer noch herrsche, weil sein Amts-
vorgänger Poroschenko ihn nicht habe
beenden wollen.
Was Selenskyj mit allen Populisten
eint, sind unerfüllbare Versprechen.
Doch anders als die meisten Populisten
hetzt Selenskyj nicht gegen Minderhei-
ten und schürt nicht die Angst vor ei-
nem äußeren Feind. Diesen Feind gibt
es durchaus, doch das ukrainische Volk
sehnt sich nicht nach Krieg, sondern
nach Frieden. Während Poroschenkos
Präsidentschaft wurde der Krieg erfolg-
reich eingedämpft, in den meisten Re-

gionen des flächengrößten Landes Eu-
ropas bekommt man davon kaum et-
was zu spüren. Mit Militarismus
kommt man in der Ukraine eher nicht
weit. Der russische Überfall im Jahr
2014 war für die meisten Menschen
dort ein Schock. Bis dahin betrachtete
man die Entmilitarisierung als die bes-
te Sicherheitsgarantie: Wenn wir nie-
manden bedrohen, so der Gedanke da-
hinter, wird auch uns niemand etwas
antun. Die Atomwaffen wurden aufge-
geben, alle Waffengattungen auf ein
Minimum reduziert, 2013 wurde sogar
die Wehrdienstpflicht abgeschafft.
Dass die Streitkräfte unterversorgt und
kläglich ausgestattet waren, schien
mehr ein humanitäres Problem und ty-
pisches Beispiel der Korruption denn
ein Sicherheitsrisiko. Dem Präsidenten
Poroschenko ist es gelungen, die Streit-
kräfte halbwegs auf Vordermann zu
bringen, doch seine militante Rheto-
rik, sein Pochen auf Patriotismus ka-
men bei den Ukrainern überhaupt
nicht gut an. Es war für Selenskyj ein
leichtes Spiel, Poro-
schenko zum inneren
Feind und zum eigent-
lichen Verursacher al-
ler Probleme der
Ukraine zu erklären.
Einmal im Amt, wei-
tete Selenskyj den
Kreis der Feinde aus.
Er legte einen Geset-
zesentwurf vor, der al-
len Funktionsträgern
der Poroschenko-Zeit
für zehn Jahre verbie-
tet, irgendwelche Äm-
ter zu bekleiden oder
sich zur Wahl zu stel-
len, als sei Poroschenkos Präsident-
schaft eine totalitäre Diktatur gewesen.
Die Einschränkungen betreffen die
meisten ukrainischen Berufspolitiker
und viele zivilgesellschaftliche Aktivis-
ten, die sich nach der Majdan-Revoluti-
on der Regierung angeschlossen oder
sich ins Parlament wählen lassen hat-
ten. Wenn die Rada dieses Gesetz ver-
abschiedet, werden alle möglichen Her-
ausforderer Selenskyjs ausgeschaltet.
Ob die frisch gewählten Abgeordne-
ten der Präsidentenpartei überhaupt
imstande sind, die Tragweite ihrer Ent-
scheidungen zu begreifen, ist mehr als
fraglich. Die allermeisten von ihnen
sind nicht einmal Fachleuten bekannt
und haben gar keine Erfahrung in der
Politik, öffentlichen Verwaltung oder
Zivilgesellschaft. Damit sie ihre Arbeit
verrichten können, hat die Parteifüh-
rung für sie einen Aufbaukurs organi-
siert: Die Mitarbeiter der renommier-
ten Kyiv School of Economics werden
ihnen eine Woche lang die Grundla-
gen des Staatswesens und der Volks-
wirtschaft beibringen. Für die Wähler
verkörpern diese Politikneulinge wohl
die Hoffnung auf eine Zukunft ohne
Korruption. Doch Selenskyjs Personal-
politik lässt keine Zweifel daran auf-
kommen, wie er es mit der Bekämp-
fung der Korruption meint. Viele
Schlüsselposten belegte er mit seinen
Geschäftspartnern. Doch die aussage-
kräftigste Personalie ist der Chef sei-
ner Verwaltung: Der Rechtsanwalt An-
drij Bohdan verantwortete in der Re-
gierung des notorisch korrupten Prä-
sidenten Viktor Janukowitsch ausge-
rechnet die Bekämpfung der Korrup-
tion. NIKOLAI KLIMENIOUK

Ein Soldat kehrt aus der Kriegsgefangenschaft
in Frankreich im März 1920 in das Pfarrhaus
zurück, in dem er aufgewachsen ist. Ein
Vorabdruck aus dem Roman „Der eine Sohn“

Von G. H. H.


Wolodymyr Selenskyj Foto AP

Eine Gruppe indigener Frauen im Amazonasgebiet, um 1950 Foto Marcel Gautherot / Instituto Moreira Salles

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Über den Populisten Selenskyj


Illustration Kat Menschik
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