Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung - 28.07.2019

(Ann) #1

FRANKFURTER ALLGEMEINE SONNTAGSZEITUNG, 28. JULI 2019, NR. 30 feuilleton 37


Foto Brigitte Friedrich

W


enn Etel Adnan die Natur
zu sehr vermisst, dann
schaut sie aus dem Fenster.
Nicht zum Haus gegenüber,
das so dicht und kerzengerade dasteht, als
wolle es seinen Nachbarn provozieren.
Auch nicht zum Himmel, den man in der
engen Rue Madame im 6. Arrondisse-
ment von Paris nur als graublauen Strei-
fen erahnt, sondern zu ihrem Oliven-
baum. Der hockt auf einem sogenannten
französischen Balkon, eingeklemmt zwi-
schen Fenstertür und Balustrade, und
streckt seine schmalen Zweige in Rich-
tung Sonne. Sie sei fasziniert von diesem
Bäumchen, sagt Adnan: „Er ist so stark,
sein Holz so zäh, und doch bringt er so et-
was Weiches wie Öl hervor. Für mich ist
das ein Wunder.“
Sie lächelt nachdenklich: „Ein Wun-
der“, sagt sie noch einmal, diesmal leiser,
mehr zu sich, so als könne sie es wirklich
nicht fassen. Wenn sie von der Natur,
dem Universum, der Welt spricht, fällt
dieses Wort oft. Der Sonnenuntergang:
ein Wunder. Die Sterne: ein Wunder.
Flüsse, Berge, Ozeane: Wunder, Wunder,
Wunder. Überhaupt das Leben: Was für
ein wunderbares Wunder! Ein paar Stun-
den mit Etel Adnan zu verbringen, das
ist, wie mit einem sehr klugen, sehr bele-
senen und weit gereisten Kind zu spielen.
Fast alles erstaunt und begeistert sie,
nichts erscheint ihr, trotz ihrer 94 Jahre,
fad oder selbstverständlich: „Ich habe
schon als Kind über die Welt gestaunt,
daran hat sich bis heute nichts geändert“,
sagt sie und meint, es sei gut, sich das zu
erhalten, so als sei das jedem gegeben. Ad-
nan trägt braune Kordhosen und einen
tannengrünen Kaschmirpulli. Ihr weißes
Haar geht ihr knapp übers Ohr, ihre bu-
schigen Augenbrauen sehen aus, als wür-
den sie tanzen.
Vor knapp fünf Jahren habe ich sie
schon einmal hier besucht. Damals saß
sie, genau wie jetzt, neugierig zu mir ge-
wandt in einem braunroten Sessel in der
Mitte ihres Wohnzimmers, umgeben von
Teppichen und Bildern, Fotografien, Kol-
lagen, Leporellos, und plauderte drauf-
los: „Wie wäre es wohl, wenn wir Tiere
der Nacht wären?“, hatte sie unvermittelt
gefragt. Sie erzählte mit großem Elan
von einem Buch, an dem sie gerade


schrieb, eines über die Nacht, ihrer Liebe
zu ihr, von ihrer Faszination für das Mys-
terium der Dunkelheit. Mittlerweile ist
„Nacht“ erschienen, Ende August bringt
die Edition Nautilus nun Adnans nächs-
tes Werk, eine große Rückschau, ihre ge-
sammelten Schriften, heraus. Zu finden
sein werden darin ihre Gedichte, ihre po-
litisch-philosophischen Essays, Auszüge
aus „Sitt Marie-Rose“, ihrem Roman
über den libanesischen Bürgerkrieg, und
einige Interviews. „Sturm ohne Wind“,
so heißt das Buch, ist ein Sprung in Etel
Adnans Gedanken, in ihr Schreiben, das,
wie sie oft sagt, eher ihren politischen
Geist ausdrückt, oder wie es in einem
Text des Bandes heißt: „Ich schreibe, was
ich sehe, male, was ich bin.“
Sie freue sich sehr auf diese Publika-
tion, sagt sie, zurzeit widme sie sich aller-
dings mehr dem Zeichnen als dem Schrei-
ben. Hat sie, die ihre künstlerische Lauf-
bahn als Dichterin begann, heute aber
eher für ihre Malerei bekannt ist, da ein
System? Nein, sie macht das, wie es
kommt. Nur wenn sie müde sei, falle ihr
das Zeichnen leichter. Maler seien glückli-
cher als Schriftsteller, das behauptete sie
einmal in einem Interview mit ihrem
Freund, dem Kurator Hans Ulrich
Obrist. Ist das wirklich so? „Ich glaube
schon. Wenn man schreibt, ist man in
sich gekehrt, das ist nicht sehr lustig. Der
körperliche Aspekt der bildenden Kunst
hilft.“ So wie auch die Farben helfen. Das
pralle Gelb, Rot, Blau, Grün, das fast all
ihre abstrakten Farblandschaften belebt.
Sie trösten sie über das fahle Licht von Pa-
ris hinweg, der Stadt, in der sie mittler-
weile, nach Jahren des Pendelns mit Kali-
fornien, dauerhaft lebt. Dunkel sei es
hier, sagt sie, irgendwie „matschig“: „Es
ist kein fröhlicher Ort, deshalb sind die
Cafés ja auch immer so voll.“ Sie selbst in-
vestiert ihre Sehnsucht lieber in Ölfarben
als in Drinks: „Wenn die Farbe aus der
Tube kommt, wenn da plötzlich ein klei-
ner leuchtender Tupfer auf der Leinwand
liegt, das ist das Schönste. Das macht
mich wirklich sehr glücklich.“
Albert Camus, dessen Sohn genau un-
ter ihr lebt, ein „komischer Typ“, sagt sie,
schrieb in „L’été“, einem seiner schöns-
ten Texte, er trage einen ewigen Sommer,
das Licht seiner Heimat Algerien in sich.

Für ihn war die Erinnerung an Oran wie
ein Schutzschild gegen die „Wüste des
Herzens“, als die er Paris empfand. Bei
Adnan, die 1925 in Beirut geboren wurde
und als Kind das Gefühl hatte, an einem
„verzauberten Ort zu leben“, ist das ähn-
lich. Im Grunde ist sie wie ihr kleiner Oli-
venbaum: eine Pflanze des Südens, die
sich nach der glühenden Mittelmeerson-
ne, staubigen Böden und Weite sehnt, die
hier in den Häuserschluchten wie eine
Ausgesetzte wirkt, es aber trotzdem ir-
gendwie schafft, aus diesem inneren Som-
mer, der Erinnerung an den Orient, zu
schöpfen. Sie malt Bilder, aus denen et-
was Ursprüngliches leuchtet. Eine Groß-
zügigkeit. Oder wie sie sagen würde:
Eine Unschuld, diese Qualität, die sie in
der Gegenwart so sehr vermisst: „Die Un-
schuld geht verloren. Selbst Kinder dür-
fen nicht mehr einfach nur träumen. In
der Kunst spricht man nur von Preisen
und von Ruhm. Es geht immer um Poli-
tik und um Geld, um Sex und Gewalt,
niemals um die Liebe. Als sei das etwas
Altmodisches, als sei es spießig.“
In „Der Preis der Liebe, den wir nicht
zahlen wollen“, dem Text, den sie anläss-
lich ihrer Teilnahme an der Documenta
13 schrieb, heißt es: „Wenn man liebt,
wird man zum Vogel: Man reckt den
Hals und vernimmt ein Lied, das sich
nicht laut äußern lässt. Man ist sprachlos.
Aber sie werden immer zahlreicher, jene
Menschen, die für diesen Augenblick
nicht ihr Leben riskieren möchten. Sie ha-
ben Angst. Sie fühlen sich wohler in ihrer
Mittelmäßigkeit.“ Die Liebe, von der sie
spricht, ist nicht nur die zu einem ande-
ren Menschen – ihrer Ansicht nach eine
„komplizierte Sache“, weil „zwei Freihei-
ten aufeinanderprallen“ –, sondern eine
elementarere Liebe: die zur Welt. Den
Bäumen, den Bergen, insbesondere dem
Mount Tamalpais, dem sie viele Bilder
und einen Gedichtband gewidmet hat.
Aber auch die zum All, den Sternen, dem
Mond. Als vor fünfzig Jahren die erste
Mondlandung stattfand, lebte sie in Kali-
fornien und unterrichtete Kunsttheorie.
Wie hat sie diesen Moment erlebt? „Ich
war begeistert! Heute denke ich, es war
ein Bruch, denn seitdem sieht die
Menschheit ihre Zukunft im All. Ich glau-
be, die Klimakatastrophe hängt auch da-
mit zusammen: Man denkt unseren Plane-

ten nur noch als vorläufiges Zuhause, da
muss man nicht mehr so sehr darauf ach-
ten.“
Wenn man in Etel Adnans Farbwelten
guckt, dann weckt das zwar kein Umwelt-
bewusstsein, aber doch eine große Zunei-
gung für die Schönheit der Welt, die uns
umgibt. Sie freut sich, dass ich das sage,
gute Kunst habe auf sie immer diesen Ef-
fekt. Die Bilder von Nicolas de Staël zum
Beispiel evozieren das in ihr, man sehe
die französische Landschaft durch sie na-
hezu vor sich. Wohl auch deshalb hängt
derzeit ein sehr kleines, sehr schönes
Werk des russisch-französischen Malers
in der Luxemburger Ausstellung „Etel Ad-
nan et les Modernes“. Dort werden ihre
Werke mit denen von de Staël, Paul Klee,
Kandinsky und ein paar anderen, für sie
wichtigen Künstlern in Dialog gebracht.
Die Nähe zu de Staël ist frappierend.
Stimmt, sagt sie, umso weniger verstehe
sie seinen Selbstmord: „Seine Malerei
zeugt so sehr von der Liebe zur Welt.
Wie kann so jemand sich das Leben neh-
men?“ Man sagt, er sei sehr unglücklich
verliebt gewesen, er habe sich nicht mit
der Mittelmäßigkeit des Gefühls, von der
sie schrieb, zufriedengegeben. Manche
behaupten auch, er habe den plötzlichen
Erfolg nicht verkraftet. Sie denkt nach.
„Ja, der Erfolg muss es gewesen sein.“
Wie erlebt sie, die erst 2012, mit 87 Jah-
ren, durch die Documenta von der Kunst-
welt entdeckt wurde, diesen späten
Ruhm? „Ich bin heilfroh, dass er nicht frü-
her kam.“ Für die Kunst sei die ganze
Aufmerksamkeit schädlich. Das sei wie
mit den Nonnen in ihrer Schule, die ihr
als Kind immer erzählten, Gott sehe al-
les: Es macht Angst: „Wenn die Augen
des Publikums einen permanent verfol-
gen, geht es nicht. Man muss die anderen
vergessen, frei sein, um gute Kunst zu ma-
chen.“ Vor vier Jahren hatte Etel Adnan
wenig von ihrer Kindheit erzählt, heute
fließen die Anekdoten bei jedem Thema
ein. Wenn sie von Paul Klee spricht, ei-
nem Künstler, den sie verehrt, weil seine
Bilder ihr „intim“ und schon bei der ers-

ten Begegnung „wie Freunde“ vorkamen,
dann kommt sie zur Figur des Engels und
über ihn nach Beirut. Zurück zu den
Nonnen. Die behaupteten, man habe ei-
nen guten und einen schlechten Engel
auf der Schulter sitzen; nachzuschauen,
wer nun wo sitzt, habe sie sich nie ge-
traut. Wenn es um ihre Teppiche geht,
ihre einzigen wirklich großformatigen Ar-
beiten, dann erzählt sie von ihrem Vater.
Damals habe es im arabischen Raum ja
keine Museen im klassischen Sinne gege-
ben, also sei er, wenn er so etwas wie
Kunst sehen wollte, einfach nach Damas-
kus zum Teppichhändler gegangen und
habe gefragt: Was gibt’s Neues?
Sie zeigt auf eine große schwarzweiße
Fotografie in der Ecke des Raums, auf
der ein Mann in Uniform posiert: „Mein
Vater“, sagt sie stolz, „er war Offizier im
Osmanischen Reich, er hat sogar mit Ata-
türk studiert.“ Zurzeit denkt sie oft über
den Untergang dieses Reiches, in dem
ihre Eltern, der Vater Syrer, die Mutter
Griechin, aufgewachsen sind. Sie erzählt,
wie sie ihren Vater als Kind nach Damas-
kus begleitete, wie aufregend es dort war,
weil der osmanische Geist dort viel län-
ger überlebte als im sehr westlichen Bei-
rut: „Es roch anders, man aß anders, feier-
te anders, sprach anders. Das war wahn-
sinnig interessant.“ Besonders das Sprach-
liche hat sie immer beschäftigt. Die Fra-
ge, inwieweit Sprache Heimat bedeutet,
die Tatsache, dass man die Welt mit jeder
Sprache anders fasst, und vor allem, dass
sie die der Region, in der sie aufgewach-
sen ist, nie gelernt hat. Bei ihr zu Hause
sprachen die Eltern Türkisch, die Mutter

redete mit ihr Griechisch, in der Schule
lief alles auf Französisch.
Das Arabische war unter dem französi-
schen Mandat aus dem offiziellen Leben
des Libanons verbannt. Ist sie nie wütend
deswegen? Also auf Frankreich? „Ich bin
wütend auf den Kolonialismus. Wenn
man Menschen von ihrer Sprache trennt,
trennt man sie von allem, was Sprache be-
deutet: Vergangenheit, Geschichten, Kul-
tur.“ Andererseits: „Ich hätte es ja auch
einfach auf eigene Faust lernen können.“
Wirklich getan hat Adnan das nie. Dafür,
sagt sie jetzt, war sie viel zu sehr mit dem
Englischen beschäftigt, dieser Sprache,
die sie wegen Virginia Woolf, Shake-
speare und ein paar anderen liebt, in der
sie bis heute ihre Gedichte und Essays
schreibt. Den Weg zum Arabischen habe
ihr im Grunde von Anfang an die Male-
rei gewiesen, sagt sie jetzt. Schon als
Kind, als ihr Vater, kein großer Pädago-
ge, sie ganze Grammatikbücher abschrei-
ben ließ und sie dabei kein Wort ver-
stand, schien ihr Arabisch-Schreiben eher
wie Malen. Später fand sie durch die Far-
be einen Ausdruck für diese verlorene
Welt, eine Lösung für das „Sprachpro-
blem“. In der Malerei drücke sie ihre Lie-
be aus, sagt sie und lächelt ein bisschen
verträumt: „Wissen Sie, ich sage oft:
Wenn ich sterbe, wird das Universum
eine gute Freundin verlieren.“
ANNABELLE HIRSCH
Die Ausstellung „Etel Adnan et les Modernes“ ist noch
bis zum 8. September im Mudam Luxembourg in Luxem-
burg zu sehen (Katalog 25 Euro). Etel Adnans neues
Buch „Sturm ohne Wind. Gedichte – Prosa – Essays –
Gespräche“ erscheint Anfang September in der Edition
Nautilus (zirka 560 Seiten, 38 Euro).

Schreiben, was sie


sieht, malen, was sie


ist – ein Besuch bei


der libanesischen


Schriftstellerin und


Malerin Etel Adnan


in Paris


Ohne Titel, Öl auf Leinwand Foto Fabrice Gibert / Galerie Lelong

Ohne Titel (2010), Öl auf Leinwand Abb. Mudam Luxembourg

Der Trost


der hellen Farben


Ohne Titel, Öl auf Leinwand Abb. © Studio Rémi Villaggi-Metz Eine Zeichnung von 1990 Abb. Courtesy the artist & Sfeir-Semler Gallery Beirut / Hamburg


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