Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung - 28.07.2019

(Ann) #1

38 feuilleton FRANKFURTER ALLGEMEINE SONNTAGSZEITUNG, 28. JULI 2019, NR. 30


O


ben war er schon, viel
weiter oben, wenn
auch nicht hier oben:
„Ich habe Dinge gesehen, die
ihr Menschen niemals glau-
ben würdet. Gigantische
Schiffe, die brannten, drau-
ßen vor der Schulter des Ori-
on. Und ich habe C-Beams
gesehen, glitzernd im Dunkeln, nahe
dem Tannhäuser Tor. All diese Momen-
te werden verloren sein in der Zeit, so
wie Tränen im Regen.“ So spricht Rut-
ger Hauer als Replikant Roy einen der
berühmtesten Monologe der Kinoge-
schichte, den er selbst mitgeschrieben
hat, um ihn nach kurzer Pause mit den
Worten zu beschließen: „Zeit zu ster-
ben.“ Dicht fällt der Regen dazu auf
dem Dach des Hochhauses, auf dem
sich Roy und Rick (Harrison Ford),
der „Blade Runner“, befinden, und
mag es inzwischen diverse Fassungen
des epochalen Films von Ridley Scott
geben, diese eine Szene ist immer unan-
getastet geblieben, die Menschlichkeit
des Replikanten, der Traum des Andro-
iden, ein Mensch zu sein.
Er war auch ziemlich weit unten, die-
ser Rutger Hauer, dessen Leben nun
im Alter von nur 75 Jahren zu Ende ge-
gangen ist. Auch da kam er aus dem Re-
gen, völlig durchnässt, am Rande eines
Highways. Ein junger Mann nahm ihn
da mit, und weil Hitcher ein Psycho-
path war, zwang er den jungen Mann
zu sagen: „Ich möchte tot sein.“ „Hit-
cher, der Highway-Killer“, sehr blutig,
ein Thriller voller Schocks und Schre-
cken, kam 1986, vier Jahre nach dem

„Blade Runner“. Aber es ist
die Frage, ob Rutger Hauer
jetzt, nach mehr als 150 Rol-
len, noch nachsinnen möchte
über all die Facetten und Figu-
ren, wie viel von ihm selbst in
ihnen war oder wie wenig.
Ob er noch mal so jung und
so wahnsinnig gutaussehend
sein möchte wie 1973 in seinem ersten
Film „Türkische Früchte“, einem von
fünf Filmen, die er mit seinem eben-
falls Hollywood-tauglichen Lands-
mann Paul Verhoeven machte? Ob er
gern ein Bildhauer wäre wie dieser
Eric? Oder ob nicht die traurige Lie-
besgeschichte zu der jungen Olga zu
traurig war?
Aber womöglich zählt all das im
Himmel gar nicht mehr, wo es mehr
Stars gibt als am Himmel. Da werden
die Rollen Rollen bleiben. Oder wird
es ihm doch als düsteres Omen vorkom-
men, das letzte Kinobild mit ihm? Da
liegt er, in dem eigenartigen Western
„The Sisters Brothers“ von 2018, aufge-
bahrt in einem Sarg, sehr würdig, wie
der Kommodore, den er spielte. Weil
wir jedoch nie wissen werden, wie es da
zugeht, weil wir Rutger Hauer in all sei-
nen Rollen immer wiedersehen kön-
nen, wenn wir wollen, sind wir einiger-
maßen getröstet. Und dieser Trost gilt
rückwirkend auch noch für Roy, den
Replikanten, dem man diesen wunder-
baren Satz aus Don DeLillos „Unter-
welt“ zurufen möchte: „It is all falling
indelibly into the past“, ,,Alles fällt un-
auslöschlich der Vergangenheit an-
heim“. Auch die Tränen im Regen.

RUTGER HAUER


IM HIMMEL


Ruhm Stellen Sie sich vor, Sie
wären bei einem Popkonzert:
ein riesiges, ausverkauftes
Konzert, eine aufwendige
Bühnenshow. Sie aber kennen
weder den Star noch seine
Musik. Die grellen Lichter,
die große Geste lösen bei Ih-
nen nicht Bewunderung aus,
sondern Befremden, Sie betrachten die
schreiende Menge wie ein Ethnologe,
der ein bizarres Ritual observiert. So
ähnlich fühlt es sich an, den Film „ Vox
Lux “ von Brady Corbet zu sehen. Und
das ist pure Absicht. Mit Lady Gaga
und Bradley Cooper leidet und
schmachtet man, wenn sie auf Filmbüh-
nen singen, Natalie Portman als Ce-
leste in „Vox Lux“ will einen erschre-
cken. Sie spielt die Sängerin Celeste
völlig ohne Eitelkeit, ohne sich irgend-
eine Sicherheitsreserve an Eleganz
oder Niedlichkeit zurückzubehalten.
Sie trinkt und taumelt und lallt und
sieht ihre Tochter nur, um von ihr Be-
wunderung oder Absolution einzufor-
dern. Celeste wurde als Kind bekannt,
als sie ein Highschool-Massaker über-
lebte und darüber sang. Davon erzählt
die erste Hälfte des Films. Im zweiten
Teil ist sie Anfang dreißig, auf Lady Ga-
gas Berühmtheitslevel angekommen,
mit einer Tochter im Teenageralter.
Die wird, wie auch die junge Celeste,
beeindruckend gespielt von der Nach-
wuchsdarstellerin Raffey Cassidy. „Vox
Lux“ erzählt klug, düster und eigenwil-
lig von Ruhm, von Schwestern, Töch-
tern und Müttern und davon, wie auch
weibliche Popstars kaputt und stark zu-
gleich sein können. Und er hält einen
auf Distanz. Schließlich will er einen
nicht zum Tanzen bringen, sondern
zum Hinsehen. jdet
* * *
Roman Ein befremdlicher Titel, den
Catherine Lacey s Roman „The Ans-
wers“ in der deutschen Übersetzung er-
halten hat: „ Das Girlfriend-Experi-
ment “ (Aufbau, 320 Seiten, 22 Euro),
in das die in New York lebende Mary
hineinrutscht, ist der Versuch des Fil-
memachers Kurt Sky, mit einem wis-
senschaftlichen Team zu entschlüsseln,
wie Beziehungen funktionieren: Wie
echt sind Gefühle, wenn sie doch im-
mer von den Erwartungen bestimmt
sind? Und was ist, wenn man Gefühle
mittels sogenannter „innerer Direkti-
ven“ beeinflussen könnte, um zu erken-
nen, wie abhängig man von der Umge-
bung ist? Mary nimmt die Rolle der
„emotionalen Freundin“ ein (sie ist nur
dafür da, Kurt zuzuhören); eine Rolle,
für die sie wie geschaffen scheint. Da
sie nur Bücher liest und das Internet
nicht nutzt, kann sie dem berühmten
Kurt unvoreingenommen begegnen.
Das ist alles ziemlich konstruiert, was
in Ordnung wäre, wenn sich die Auto-
rin bemüht hätte, diesen fast plotlosen
Roman schlüssig zu entfalten. Mary ist
als Figur so überladen (sie ist extrem
verschuldet, macht eine abstruse kör-
perliche Therapie, ihr Vater ist ein
christlicher Fanatiker, ihre Mutter kürz-
lich gestorben, sie wurde vergewaltigt),
dass sich eine charakterliche Entwick-
lung nur schwer nachvollziehen lässt.
Das gilt auch für Kurt, bei dem das auf

sein klischeehaftes Schauspie-
lerdasein zurückzuführen ist.
Nicht mal das Experiment
wird richtig erklärt, denn es
„würde zu lange dauern und
wäre offen gesagt auch zu
langweilig“, ganz abgesehen
davon, dass die Prämisse frag-
würdig ist. Zwar begreift der
Roman richtige, gegenwärtige Fragen,
bewahrt sich aber bis zum Ende auf,
sie zu stellen. Bis dahin werden viele
„Antworten“ gegeben – und das ist die
Stärke des Textes –, in Form von sich
immer wiederholenden, vermeintli-
chen Weisheiten über die Liebe, die
darüber nachdenken lassen, was wir in
Beziehungen eigentlich für wahr hal-
ten. caod
* * *
Reichtum „Reich ist der, dem alle Ar-
men einen Cent geben.“ Der Satz fin-
det sich gleich am Anfang von Paul Va-
lérys Aufzeichnungen „ Prinzipien
von An-archie “ (übersetzt von Jürgen
Schmidt-Radefeldt, Matthes & Seitz,
200 Seiten, 16 Euro). Valéry hatte die
Aufzeichnungen von 1936 bis 1938 ge-
führt, um nach Anzeichen von nicht
auf den Staat bezogenem Widerstand
zu suchen. 1936 waren die Nazis schon
durch Mehrheitswahlrecht an die
Macht gekommen und die Moskauer
Prozesse mehr als ein Gerücht. Inso-
fern ist es auch kein Wunder, dass Valé-
ry für Hitler und Trotzki kein gutes
Wort findet. Interessanter ist aber, was
er zu Macht, Recht, Gesetz, Ungleich-
heit, Politik und Gesellschaft zu sagen
hat. Überlegenheit erkenne man an
der Ungleichheit beim Tauschvorgang,
schreibt er: „Ich gebe wenig, um viel
zu erhalten.“ Und darauf beruhen für
Valéry alle staatlichen Politiken und
Gesellschaften, ihr gemeinsames Prin-
zip ist die „Unaufrichtigkeit“. Und wer
nach der Aktualität dieser alten Auf-
zeichnungen fragt, muss nur wieder ler-
nen, sich allein in einem Zimmer auf
Sätze wie diesen hier zu konzentrieren:
„In einer ‚voll durchorganisierten‘ Ge-
sellschaft hat Qualität genauso wenig
Platz wie Geisteserzeugnisse um des
Geistes willen.“ cord.
* * *
Rente Es wird Zeit, hier mal den
großen australischen Erzähler Garry
Disher vorzustellen. Man riskiert
nichts, verkündet auch nichts Neues da-
mit, aber das macht ja nichts, weil sein
neuer Roman „ Kaltes Licht “ (Unions-
verlag, 320 Seiten, 22 Euro) einfach nur
gut ist. Disher schickt einen neuen Er-
mittler, Sergeant Alan Auhl, aus der
Rente zurück ins Polizeileben, der
Mann ist eigen, trägt den Kollegen-
spott mit Gelassenheit wie die Prügel,
die er anfangs bezieht, und so wie er
bei seinen Ermittlungen mäandert, um
doch zum Ziel zu kommen, so lässt
auch Disher verschiedene Handlungs-
stränge sich nebeneinander entwi-
ckeln, um sie in aller Ruhe und ohne lä-
cherliche Zufälle zusammenzuführen.
Dass Krimis noch immer die besten
Sonden sind, um etwas über den Zu-
stand einer Gesellschaft zu erfahren, er-
gibt sich bei Disher ganz von selbst,
aus der Genauigkeit, mit der er Figu-
ren und Milieus schildert. pek

VON PETER KÖRTE

E


s klingt hohl, wenn man am Al-
ten Markt in Potsdam an die Fas-
saden klopft. Die Osteria und
der Bäckerladen an der Südseite
zum Otto-Braun-Platz, der Burgergrill
und die Touristeninformation gegenüber
vom Landtag im rekonstruierten Hohen-
zollernschloss: Sie alle wohnen im Fur-
nier. Die Fassade, das Gesicht der Häu-
ser, ist Tapete, hellbraun verputzter Ver-
bundstoff über einem Kern aus Stahlbe-
ton, beliebige Maskerade für einen Bau-
körper der Nostalgie. Im Nordquartier
hinter dem Landtag, wo die betonbrutale
Fachhochschule aus den siebziger Jahren
gerade abgerissen wurde, um einem neu-
en Stadtviertel mit postmodernen Schräg-
dächern, Gesimsen, Ädikulen und Säulen-
portalen Platz zu machen, wird es, von
einzelnen Ausnahmen abgesehen, nicht
anders sein. Die grassierende Rekonstruk-
tionslust passt perfekt zur Generation
Laptop, denn sie behandelt die Fassaden
als Bildschirmschoner: Sie sollen dem
Auge schmeicheln, nicht der Hand.
Als Geschäftsmodell funktioniert das
prächtig. An der Ostseite zur Havelinsel,
wo auch werktags Motorjachten mit Bran-
denburg-Urlaubern durch die Wellen
pflügen, entstehen laufend weitere Apart-
menthäuser mit hauchdünnen Sandstein-
Applikaten über den Wohnkuben aus Be-
ton und Isolierschaum. Sonnenschirme
blinken auf den bereits bezogenen Balko-
nen. Aus der Garage neben dem Touris-
tenbüro gleitet ein cremefarbener SUV
wie ein Fieberzäpfchen aus seiner Hülle.
Die Mobilität ist neben der Urbanität der
zweite Fetisch der Epoche, und wer es
sich leisten kann, hat eben beides, den
Panzer auf Rädern und den Gebäudepan-
zer mit nagelneuer Stuckdecke, Bauhaus-
möbeln und Neo-Rauch-Gemälde.
Erst ein paar Schritte weiter, am Palaz-
zo Pompei, wird der Stein massiv. Hier
sitzt eine Galerie; nebenan, im Noack-
schen Haus, das der Bauträger als Palazzo
Chiericati vermarktet, ist eine Physiothe-
rapiepraxis („Physio am Stadtschloss“) zu-
gange. Mit den Renaissancepalästen in Vi-
cenza und Verona, nach denen sie heißen,
haben die Potsdamer Palazzi so viel ge-
mein wie eine Brotbox von Manufactum
mit einer Vase aus Meißen. Aber es thera-
piert und vernissagiert sich eben schöner,
wenn es hinter dorischen Säulen und un-
ter Altanen mit Giebelfiguren geschieht.
Dann kommt das wahre falsche Origi-
nal, das Palais Barberini. 1772 anstelle von
zwei Giebelhäusern errichtet, bildet es
das Hauptstück der friderizianischen Gen-
trifizierung des Potsdamer Altmarkts.
Wenn er aus seinem Schloss schaute, woll-
te der große Friedrich ein Fassadenthea-
ter wie in den italienischen Opern sehen,
die er auf seiner Hofbühne aufführen
ließ. Die Kulissenteile dafür besorgte er
sich aus dem Katalog. Ein Kupferstich
vom Palazzo Barberini in Rom genügte,
um seinen Baumeister Carl von Gontard
zu instruieren. Dabei wurde das römische
Vorbild den Potsdamer Dimensionen an-
gepasst, die beiden Seitenflügel gekappt,
der Mittelrisalit vorgezogen und von sie-
ben auf fünf Achsen verkürzt. Aber der
Grundgedanke des Architekten Bernini,
die dreigeschossige Gliederung mit dori-
schen und ionischen Säulen und korinthi-
schen Halbpfeilern, blieb gewahrt.
Nur dass hinter den drei Fassadenge-
schossen nun fünf Wohngeschosse lagen.
Manche Bewohner mussten sich deshalb
auf den Bauch legen, wenn sie durch ein
Fenster schauen wollten, andere stiegen
auf eine Leiter. Entsprechend sahen die
Mieter aus: Für das Jahr 1882 sind die Wä-
scherin Paschke, der Schuhmacher Riegel-
mann, der Metzgermeister Wunder, der
Sattler Gallasch, der Oberlehrer Pätsch
sowie die Witwen Witte, Göbeler und
Dufft belegt, und hundert Jahre früher
wird es nicht anders gewesen sein. Mit
der Gentrifizierung des Alten Fritz war
es nicht weit her: Seine Preußen wurden
ebenso wenig zu italienischen Grafen,
wie die heutigen Netflix-Gucker wieder
zu pflichttreuen Preußen werden.
Bernini, der Architekt: Das ist derselbe
Gian Lorenzo Bernini, von dem jetzt ein
Selbstporträt als „David“ und ein Porträt
von Papst Urban VIII. im Museum Barbe-
rini des Softwaremilliardärs Hasso Platt-
ner hängt. Die dazugehörige Ausstellung
„Wege des Barock“, die einen – kleinen –
Teil der Bestände der Nationalgalerien
Barberini Corsini in Rom im heute end-
lich dreigeschossigen, nach Kriegszerstö-
rung und realsozialistischem Abriss edelst
wiedererrichteten Barberini-Palais präsen-
tiert, ist die jüngste und wirkungsvollste
der historischen Maskeraden der neupreu-
ßischen Kulissenstadt Potsdam. Sie zeigt
ein Haus, das als Museum höchstens Mit-
telmaß ist – sein eigener Bestand versam-
melt Einzelstücke der internationalen
Nachkriegsmoderne um einen Kern von
DDR-Malerei – im Gewand einer Gemäl-
degalerie von europäischer Bedeutung.
Und das funktioniert prächtig. Die Sä-
le, rot, grün und sandfarben angemalt,
gliedern die Ausstellung in drei Abschnit-
te, von denen zwei um das Haus Barberi-
ni und seine Kollektion kreisen, während
der dritte in einer stupenden Schluss-
pointe wieder auf den Alten Fritz zuführt.
Im ersten Raum wird der „Triumph der
göttlichen Vorsehung“ von Pietro da
Cortona aus dem Gran Salone im Barbe-
rini-Palazzo verkleinert, aber immer
noch riesig an die Decke projiziert – pu-
rer, überbordender, sich selbst verschlin-

gender Barock. Der Reigen aus Tugend-
allegorien und Putten mit Tiara und den
Schlüsseln Petri kreist um drei Bienen,
die Wappentiere der Barberini; die Him-
melskönigin gibt ihren Segen dazu.
Aber vom Rand her scheint die Apo-
theose zu zerbröckeln. Die Jünglinge, die
das gemalte Gewölbe tragen, ächzen un-
ter ihrer Last. Ein Gigant holt mit der
Keule aus, um den Marmorrahmen zu
zerschlagen, drei andere wälzen sich in ei-
nem Knäuel von Leibern auf den Betrach-

ter zu. Pietro, der Maler, hat den Auftrag
erfüllt, indem er ihn ad absurdum führte.
Der Triumph der Barberini ist das reine
Höllenspektakel. Das passt zu den Stif-
tern. Urban VIII., eigentlich Maffeo Bar-
berini, war der Inbegriff des Nepotismus;
das Wort selbst kam zu seiner Zeit in Ge-
brauch. In zwanzig Jahren Pontifikat, von
1623 bis 1644, baute er Rom zur Kulisse
seiner Herrschaft um. Dabei bediente
sich der gelehrte Humanist – er schrieb
lateinische Lehr- und Naturgedichte –
rücksichtslos bei den Trümmern der Anti-

ke. Das Kolosseum gab er als Steinbruch
frei, für den Baldachin über dem Apostel-
grab in St. Peter, entworfen von Bernini,
ließ er das Bronzedach über dem Vorbau
des Pantheons einschmelzen. Unter Ur-
ban stiegen die Schulden des Vatikans auf
35 Millionen Scudi, während seine Fami-
lie das Dreifache in ihre privaten Taschen
steckte. Nach seinem Tod zerschlug der
Pöbel seine Büste auf dem Kapitol. Sein
Nachfolger Innozenz X., porträtiert von
Velázquez, vertrieb Urbans Nepoten aus

Rom und ersetzte sie durch eigene. Was
von all der Raffgier blieb, ist Kunst.
Etwa dieses Bild: „Narziss“, 1599 ge-
malt von Caravaggio. Das Wams, das der
Jüngling trägt, und seine helle Haut wei-
sen ihn als Angehörigen des Straßenpro-
letariats aus, der bravi , die von der Ober-
schicht als Botengänger und Schlägerban-
den rekrutiert wurden; das nackte Knie,
das aus der Szene heraussticht, betont sei-
ne Virilität. Sein Knien selbst aber wirkt
nicht leicht und elegant, es ist, wie das
dunkle Wasser der Pfütze, in der er sich

spiegelt, voll Begehren und Erdenschwe-
re. Anders als der Manierismus, sein Vor-
gänger, der sich in den Körperkaskaden
eines Tintoretto erschöpfte, stand der Ba-
rock mit beiden Beinen auf dem Boden.
Das wird in der Ausstellung gerade
dann deutlich, wenn es beinahe daneben-
geht, wie in Riberas „Venus und der ster-
bende Adonis“, wo die Liebesgöttin auf
einer Wolke heranschwebt, die die Kon-
sistenz einer Couchgarnitur hat, oder in
Massimo Stanziones „Beweinung“, wo
der tote Christus derart penetrant schim-
mert, dass sein Schienbein wie poliertes
Mahagoni aussieht. In seinen Spitzenstü-
cken aber ist der Barock nicht das Gegen-
teil der Moderne, sondern deren Spiegel-
bild im vormodernen Gewand. Insofern
stellt der „Baumeister“ von Luca Giorda-
no, der auf Goya, Manet und Böcklin
vorausweist, keine Ausnahme, sondern
eine Regel dar, und nicht anders verhält
es sich mit Simon Vouets „Maria Magda-
lena“, die mitten im allegorischen Dekor
mit Pergament und Totenschädel wie ein
Pin-up-Girl auf ihrem Felsblock posiert.
Vouet begründete, als er aus Rom nach
Paris zurückging, die französische Maler-
schule, die den Louvre und Versailles de-
korierte; zugleich ging unter den Nach-
folgern der Barberini der Einfluss Spa-
niens zurück, und die Bourbonen beka-
men Aufwind. Das französische Jahrhun-
dert begann damals in Rom.
Und es endete in Potsdam, unter dem
großen Friedrich, der in seinen späten
Jahren als Sammler vom französischen
zum italienischen Stil zurückfand. Für sei-
nen Erben,den notgeilen Friedrich Wil-
helm II., schuf er im Neuen Palais im
Park Sanssouci eine „Galerie der Unver-
nunft“, zu der, als Werk der Tizian-Schu-
le etikettiert, auch Artemisia Gentile-
schis „Lukretia und Sextus Tarquinius“
gehörte. Die Schlösserstiftung hat das
Gemälde, das den Moment vor der Ver-
gewaltigung zeigt, restauriert. Dabei ka-
men unter den harten Gesichtszügen des
Jünglings die ursprünglichen, weicheren
zutage. Der Mann, der sich auf die nack-
te Schöne stürzt, ist fast menschlicher ge-
zeichnet als sein Opfer. Nur der schwar-
ze Kammerdiener, der den Vorhang bei-
seiteschiebt, damit wir das weiße Fleisch
der Lukretia besser betrachten können,
ist das reine eurozentristische Klischee.
Ein Fall für die postkoloniale Sittenpoli-
zei. Madame Savoy, übernehmen Sie!
ANDREAS KILB
„Wege des Barock. Die Nationalgalerien Barberini Corsini
in Rom“. Museum Barberini, bis 6. Oktober, Katalog
29,95 Euro

KLEINE MEINUNGEN


Artemisia Gentileschi, „Lukretia und Sextus Tarquinius“, entstanden zwischen 1645 und 1650 Foto Mauritius

Im Fassadenrausch


Hinter preußischen Palastkulissen eine echte Welt: Das Museum


Barberini in Potsdam zeigt die Meister des römischen Barocks


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