Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung - 28.07.2019

(Ann) #1

FRANKFURTER ALLGEMEINE SONNTAGSZEITUNG, 28. JULI 2019, NR. 30 wohnen 51


Mein Lieblingsstück
ist ein alter „Regie-
stuhl“. Keine Ah-
nung, ob da jemals
wirklich ein Regis-
seur drauf gesessen
hat, aber wir nennen
ihn so, weil er aus
der Berliner Staatsoper stammt. Es
ist schon viele Jahre her, da hat ihn
mein Kollege Remo in einem Con-
tainer dort hinter dem Opernhaus
an der Französischen Straße ent-
deckt. In der Staatsoper hatte man
damals das Magazin für die Kulis-
sen ausgemistet und den ganzen
Plunder weggeschmissen. Remo hat
Argusaugen, wenn es um besondere
Schätze geht, und hat den Holz-
stuhl mit diesen dicken Füßen und
dem roten Kunstlederbezug heraus-
gefischt und zu mir gebracht. Seit-
dem steht er bei mir zu Hause.
Über den Platz habe ich nicht nach-
denken müssen, der war sofort klar:
am Tisch, der direkt an den Herd
anschließt. Von dort hat man in der
Wohnung einfach den besten Blick


  • in die Küche sowieso, weiter ins
    Esszimmer und durchs Fenster nach
    draußen. Es ist das Zentrum der
    Wohnung und mein Lieblingsplatz.
    Dort sitze ich jeden Tag, immer
    morgens beim Frühstück. Und
    wenn ich abends nach Hause kom-
    me, werfe ich grundsätzlich meine
    Jacke über die Lehne. Auch wenn
    ich ausnahmsweise zu Hause arbei-
    te, sitze ich dort – oder im Bett. Es
    ist einfach der beste und bequemste
    Platz, auch für Gäste. Obwohl das
    Polster schon etwas löcherig ist. Ich
    habe überlegt, ihn beziehen zu las-
    sen, aber die Idee verworfen. Der
    Stuhl wäre nicht mehr derselbe. Ein
    neues Polster kommt erst in Frage,
    wenn alles auseinanderfällt.
    Gisbert Pöppler ist Architekt und Interior Designer
    in Berlin.
    Protokoll: Birgit Ochs
    Eine Auswahl der Kolumnenbeiträge ist unter dem
    Titel „Mein Lieblingsstück“ bei Busse Seewald
    erschienen.


DER


REGIESTUHL
VON GISBERT PÖPPLER

A


uf hohen Regalen aus hellem
Holz türmen sich Vasen, Tassen
und Teller in Reih und Glied,
warmes Sonnenlicht fällt
durch ein Fenster. Ein biss-
chen ist es wie in der Toskana, nur ohne
Zypressen und Olivenbäume. Tatsäch-
lich aber liegt das Studio der Töpferin
Viola Beuscher im Frankfurter Bahn-
hofsviertel, wo grelle Neonlichter
nachts die Sonne ablösen. Hier sitzt sie
täglich vierzehn bis sechzehn Stunden,
gebeugt über der Töpferscheibe. Der
feuchte Ton fließt an ihren feingliedri-
gen Händen entlang, und der Klumpen
nimmt wie von Zauberhand nach und
nach Gestalt an. Fast wirkt es, als würde
die junge Frau mit den Keramiken in
den Regalen und dem Ton in ihren Hän-
den verschmelzen. „Für mich ist Töp-
fern Ausdruck meiner Selbst und eine
Möglichkeit, meine Umwelt selbst zu ge-
stalten“, sagt Beuscher.
Sehr viel Platz ist nicht. Doch vom
Eindruck des nur wenige Quadratmeter
großen Ateliers sollte man sich nicht täu-
schen lassen: Das Keramiklabel „VB Ce-
ramics“ ist gerade ziemlich angesagt. Tau-
sende Teile an Geschirr hat die Sieben-
undzwanzigjährige in den vergangenen
Monaten für Gastronomiebetriebe gefer-
tigt, in Handarbeit. Längst verarbeitet
sie Ton nicht mehr nur kiloweise. Ganze
Tonnen an Ton braucht sie mittlerweile,
um die Nachfrage, um die Aufträge abzu-
arbeiten. Und so stapelt sich das Materi-
al in quaderförmigen Packen in einem se-
paraten Zimmer vor ihrem Atelier.
Teller, Tassen, Schüsseln und Platten
sind seit einiger Zeit so gefragt wie lan-
ge nicht. Ob aus Japan, Skandinavien
oder eben auch aus deutschen Werkstät-
ten, ob grob oder fein gearbeitet – Ton-
ware kommt wieder auf den Tisch. Die
Zeiten, in denen Keramik belächelt wur-
de und als bieder galt, sind erstmal vor-
bei. Jungunternehmerin Viola Beuscher
hat mittlerweile zwei Mitarbeiter einge-
stellt. „Früher kam ich nachts nach Hau-
se und habe noch von Mitternacht bis in
die Morgenstunden am Rechner sitzen
müssen“, erzählt die Töpferin.
Nicht immer waren die Zeiten so ro-
sig. Am Anfang der Erfolgsgeschichte
steht eine Tragödie. Mit zweiundzwan-
zig Jahren verunglückt die Politik- und
Journalismus-Studentin schwer, wird
frühverrentet und ist schwer traumati-
siert. In einer Klinik bietet man ihr an
zu töpfern. Anfangs weiß sie mit den
grauen Tonballen nichts anfangen: „Ich
war gar nicht dafür empfänglich.“ Das
ändert sich, als eine Bekannte ihre Töp-
ferscheibe für Viola aus dem Keller holt.
Die entdeckt das Handwerk für sich.


Das Töpfern wird zur Leidenschaft. Zu
Hause habe sie gemerkt, dass sie Herstel-
lung, Vertrieb und „die Wahrhaftigkeit
eines Produkts“ beim Töpfern selbst be-
stimmen könne. Das habe ihr gefallen,
erzählt Beuscher. Und so hat sie ihr Ke-
ramik-Unternehmen gegründet.
Die gegenwärtige Begeisterung der
Keramik-Fans gilt nicht nur den ferti-
gen Produkten. Der Reiz des Materials
liegt auch darin, es selbst mit eigenen
Händen zu formen. Workshops, die Beu-
scher regelmäßig gibt, sind bis Ende
nächsten Jahres nahezu komplett ausge-
bucht. Die Teilnehmer sind sowohl Män-
ner als auch Frauen unterschiedlichster
Gesellschaftsschichten und Altersklas-
sen, manche von ihnen kommen immer
wieder. Eine Sache fällt Beuscher bei ih-
ren Kursteilnehmern allerdings oft auf.
Manchmal sitzen die Teilnehmer ein-
fach nur da und schauen zu, wie die Ton-
ballen langsam zu Vasen, Tassen und Tel-
lern werden. Oft seien dies vom Arbeits-
leben überlastete Menschen wie etwa
junge Ärzte, berichtet sie. Doch nicht
nur die Härten des Arbeitslebens sieht
die Profi-Töpferin als Ursache für den
Zuspruch, den ihr Handwerk erfährt,
sondern auch den übermäßigen digita-
len Konsum. Keramikarbeit als Aus-
gleichsbeschäftigung sozusagen.
Dabei ist es doch gerade das Internet,
das den jüngsten Töpfer-Hype erst aus-
gelöst hat. Vor allem die Plattform Ins-
tagram, über die Designer, Künstler
und Labels ihre Arbeiten mit Ton vor-
stellen. Auch Viola Beuscher nutzt sie.
„Je offener ich meine Arbeit gestalte,
desto mehr Zuspruch bekomme ich“, er-
klärt sie das Phänomen. Über die bildba-
sierte Online-Plattform hat sich nicht
nur eine rege Fangemeinde des Töpfer-
handwerks zusammengefunden, son-
dern fast schon so etwas wie eine sehr fa-
miliäre Gemeinschaft gebildet, die sich
untereinander austauscht und vernetzt.
Bei dieser großen Community verwun-
dert es kaum, dass es sogar töpfernde In-
fluencer gibt, die auf der Plattform
nicht nur Videos und Fotos, sondern
auch Tipps mit ihren Hunderttausen-
den von Abonnenten teilen. Einer von
ihnen ist Florian Gadsby aus London,
Größenordnung: mehr als 200 000
Abonnenten.
Der Instagram-Kanal erreicht aller-
dings nicht nur junge Digital Natives,
die mal eben auf den Trend aufsprin-
gen, sondern auch traditionell ausgebil-
dete Töpferinnen und Töpfer mit jahr-
zehntelanger Erfahrung. Die sind
durchaus begeistert: „Gadsby schreibt
da ganz viel, das ist fast schon wie ein
Buch“, sagt Sandra Nitz, während sie
über das Display ihres Smartphones
streicht. Die Siebenundvierzigjährige
ist eine der interessantesten deutschen
Keramikgestalterinnen und freut sich
über den Trend. „Alles, was die Kera-
mik wieder in ein neues Licht rückt, fin-
de ich begrüßenswert“, sagt Nitz, die
die großen Tiefs des Handwerks in der
Vergangenheit miterlebt hat, als Kera-
mikwerkstatt um Keramikwerkstatt
schließen musste.
Sandra Nitz hat das Töpfern für sich
entdeckt, lange bevor das Internet und
das Phänomen Instagram zum Thema
wurden. Schon als junges Mädchen kam
sie in ihrer Heimat in Oberfranken mit
der Töpferkunst in Berührung: „An
Weihnachten gab es einen Töpfermarkt

bei uns, mich hat schon damals die Viel-
falt der Keramik begeistert.“ Nach einer
kaufmännischen Ausbildung fand sie
eine Töpferlehrstelle in Bamberg. Nach
ihrer Lehre machte Nitz von ihrer neu-
erworbenen Fähigkeit und der Freiheit
Gebrauch, mit ihrem Handwerk unab-
hängig von Sprachgrenzen arbeiten zu
können – und zog für eine Weile an die
irische Westküste. „Das, was ich kann,
kann ich auch ohne mich in einer frem-
den Sprache gut ausdrücken zu müs-
sen“, erklärt sie.
Nach ihrer Rückkehr nach Deutsch-
land hat sie sich im Westerwald zur Ke-
ramikgestalterin ausbilden lassen. Die
dortige Region um die Stadt Höhr-
Grenzhausen ist für ihre reichen und
hochwertigen Tonvorkommen bekannt.
Hier sind unzählige Manufakturen ansäs-
sig, die von Marmeladentöpfchen über
Bierkrüge bis hin zu Blumentöpfen alles
Mögliche fertigen. Es gibt ein Keramik-
museum, das historische und zeitgenössi-
sche Keramik zeigt.
„Im Kannenbäckerland sitzt eine Sze-
ne, die sehr viel zu erzählen hat und von
der man sehr viel lernen kann“, sagt San-
dra Nitz. Sie selbst hat dort mit Labor-
öfen experimentiert, wochenlang ver-
schiedenste Glasuren für ihren Ton an-
gerührt und sich mit anderen Kerami-
kern ausgetauscht.
Nach einem zweijährigen Aufenthalt
in Australien will die wandernde Töpfe-
rin allerdings nicht wieder zurück in das
Keramik-Mekka Höhr-Grenzhausen –
und landet in Frankfurt. Ihr Hinterhof-
Atelier liegt mitten in der Stadt, und
doch kann Nitz hier mit Blick auf einen
grünen Garten und mit zwitschernden
Vögeln im Hintergrund Teller, Tassen
und Vasen über ihrer Drehscheibe töp-
fern. Dort empfängt sie auch Kunden:
„Die Menschen in der Großstadt haben
die Keramik ein bisschen vergessen und
sind jedes Mal erstaunt, wenn sie das
Atelier betreten“, sagt Nitz, „man kann
die Menschen hier in Frankfurt noch
überraschen.“
Vom Kannenbäckerland hat Kera-
mik-Autodidaktin Viola Beuscher nie ge-
hört. „Am schönsten wäre es, wenn alles
so bliebe, wie es jetzt gerade ist“, sagt
Viola über den Trend, ihr Unterneh-
men und den Erfolg – und hievt schon
den nächsten Tonballen auf den Arbeits-
tisch, wo sie ihn zuerst zerteilt und bear-
beitet, bevor er auf die Töpferscheibe
gesetzt wird. Die deutsche Keramik-Re-
gion ist in ihrem Atelier freilich gegen-
wärtiger, als ihr bewusst ist. Denn der
Ton auf der Drehscheibe stammt: aus
dem Westerwald.
Sehen Sie dazu auch faz.net/toepferin.

Ganz schön


abgedreht


MEIN LIEBLINGSSTÜCK


Sanierung im Park Sanssouci
Das Orangerieschloss im Potsda-
mer Park Sanssouci soll bis 2030
umfassend saniert werden. Die Stif-
tung Preußische Schlösser und
Gärten Berlin-Brandenburg
(SPSG) beginne mit den Planun-
gen für die mehr als 22 Millionen
Euro teuren Arbeiten, teilte die
Stiftung diese Woche in Potsdam
mit. Unter anderem sollen Dächer
und Fassaden instand gesetzt und
der eingelagerte Skulpturen-
schmuck wieder auf den Dachbalus-
traden angebracht werden. Außer-
dem soll die technische Infrastruk-
tur in den beiden Pflanzenhallen
verbessert werden.
Finanziert wird das neue Pro-
jekt den Angaben zufolge mit Mit-
teln aus dem zweiten Sonderinvesti-
tionsprogramm für die preußischen
Schlösser und Gärten. Dafür stel-
len der Bund und die Länder Bran-
denburg und Berlin bis 2030 insge-
samt rund 400 Millionen Euro zur
Verfügung.
Die Neue Orangerie, wie der
Prachtbau mit den seitlichen Pflan-
zenhallen, Brunnen, Arkaden und
Terrassen auch genannt wird, doku-
mentiere anschaulich die Italien-
Sehnsucht König Friedrich Wil-
helms IV. (1795–1861), hieß es. Das
Ensemble wurde zwischen 1851 und
1864 am Nordrand der Parkanlage
errichtet.
Das mehr als 300 Meter lange
Bauwerk umfasst neben den Pflan-
zenhallen auch ehemalige Herr-
schafts- und Bedienstetenwohnun-
gen. Der Mittelbau mit den fürstli-
chen Wohnräumen und dem Raffael-
saal ist als Museumsschloss geöffnet,
während die im Sommer frei verfüg-
baren Pflanzenhallen zu den größ-
ten innenliegenden Veranstaltungs-
flächen in der Region gehören. epd.

Keramik ist gerade ziemlich angesagt.


ZuBesuch bei zwei Protagonistinnen


der deutschen Szene.


Von Johanna Christner (Text) und


Wolfgang Eilmes (Fotos)


Leidenschaft
und Geschäft: Viola
Beuscher in ihrem
Atelier im Frankfurter
Bahnhofsviertel.
Hier verarbeitet die
Siebenundzwanzigjährige
auf engstem Raum
tonnenweise Ton zu
Geschirr – vor allem für
gastronomische Betriebe.


WAS GIBT’S NEUES?


Fotos privat

Sandra Nitz hat das
Handwerk von der Pike
auf gelernt und lange
Jahre in Deutschlands
Keramik-Mekka, dem
Kannenbäckerland,
verbracht. In der
Großstadt, sagt sie,
könne man die
Menschen mit Keramik
noch überraschen.
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