Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung - 28.07.2019

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54 wissenschaft FRANKFURTER ALLGEMEINE SONNTAGSZEITUNG, 28. JULI 2019, NR. 30 55


A


us allen Himmelsrichtungen sind
die Ritter in die Stadt Kanvoleis
geströmt, zum Turnier, das von
der jungen Erbin Herzeloyde
veranstaltet wurde. Dem Sie-
ger winkt nicht nur der Ruhm, die be-
rühmtesten Helden seiner Zeit bezwun-
gen zu haben, sondern auch die Hand
der jungen Königin und mit ihr die Kro-
ne des Landes Waleis. Andere, so steht es
im „Parzival“ des Wolfram von Eschen-
bach, ziehen als „Ritter ohne Land“ auf
das Turnier und kämpfen zwar engagiert,
„doch nicht um das Höchste, das die Kö-
nigin versprochen“ hat, „sich selbst und
ihre Länder – sie wollten lieber Beute ma-
chen“. Diese Ritter haben es also auf Pfer-
de und Rüstungen der von ihnen Besieg-
ten abgesehen oder spekulieren schnöde
auf ein Lösegeld.
Das Turnier beginnt mit einem Vor-
spiel, wachsam beobachtet von den Da-
men: einer Tjost, dem Zweikampf zu
Pferd, und einem Buhurt, in dem sich
zwei Gruppen gegenüberstehen. Dann
betritt ein gewisser Gahmuret das Gelän-
de und kämpft mit Freunden und Ver-
wandten zu Pferd gegen die andere Mann-
schaft: „Edle Ritter gingen, liefen dort in
ihrem Eisenzeug: denen gerbte man das
Fell mit Hufen und mit Keulen – das gab
denn blaue Beulen. Und viele bunte Schil-
de und viele schön geschmückte Helme
wurden da vom Staub bedeckt.“
Gahmuret schlägt sich so wacker, dass
Königin Herzeloyde beschließt, der
Wettkampf sei bereits entschieden, noch
bevor das eigentliche Turnier angefan-
gen hat. Sie geht zu Gahmurets Zelt, um
ihm das mitzuteilen, muss dort aber er-
fahren, dass der Ritter sie gar nicht heira-
ten will. Nicht nur, weil ihm die junge

Witwe des französischen Königs, seine
Jugendfreundin Anflise, Avancen macht.
Sondern auch, weil Gahmuret bereits ver-
heiratet ist. Der wehrt sich dann auch
mit aller Kraft und dem Argument, das
Turnier sei ja noch gar nicht beendet,
und außerdem wären andere Ritter doch
viel besser gewesen als er.
Herzeloyde aber lässt nicht locker und
ruft am nächsten Morgen ein Gericht ge-
gen Gahmuret an. Das fällt den Spruch:
„Ein Ritter, der zum Kampfspiel kam, der
sich den Helm hier aufgesetzt und der
den Siegespreis errang, der soll der Köni-
gin gehören.“ Und die sagt zufrieden zu
Gahmuret: „Herr, nun seid ihr mein.“

Man wüsste gern, wie die adligen Zu-
hörer von Wolframs Epos damals reagier-
ten, als sie im frühen dreizehnten Jahr-
hundert diese Passage des „Parzival“ hör-
ten – nahmen sie diese Beschreibung ei-
nes Turniers, das gar nicht stattfindet
und von einem Ritter gewonnen wird,
der den versprochenen Lohn gar nicht
will, als Beschreibung ihrer Lebenswirk-
lichkeit wahr oder als Satire darauf? Er-
kannten sie sich vielleicht selbst in den ar-
men Rittern, die nur zum Beutemachen
gekommen waren – so wie der berühm-
te, ursprünglich wenig bemittelte Guil-
laume le Maréchal (1144 bis 1219), ein
Anglonormanne, der auf Turnieren des

späten 12. Jahrhunderts ein Vermögen
machte, insgesamt Lösegeld für mehr als
500 Ritter kassierte und schließlich zum
ersten Earl of Pembroke aufstieg.
Um das Jahr 1200, zur Blütezeit der
mittelhochdeutschen Dichtung, hatte
das Turnier längst Eingang in die Litera-
tur gefunden – kaum ein Ritterroman, in
dem ein solcher Wettkampf nicht vorge-
kommen wäre, sei es das Nibelungen-
lied, in dem Siegfried schon am väterli-
chen Hof einem Turnier beiwohnt (mit
„Getöse vom Zerbersten der Schäfte“
und Speersplittern, die am Palas der
Burg vorbeifliegen) oder Hartmann von
Aues „Erec“, in dem sich die Ritter mes-

sen, um mit dem Schwert in der Hand
die Schönheit ihrer Damen zu beweisen


  • so dass zur Teilnahme nicht nur Waf-
    fen und Pferd sondern auch eine geeigne-
    te Dame notwendig sind.
    Tatsächlich sind solche Beschreibun-
    gen, mögen sie nun satirisch überhöht
    oder nah an der Wirklichkeit sein, eine
    wichtige Quelle, wenn es um das reale
    Turnierwesen im Mittelalter geht,
    schließlich ist anzunehmen, dass die Zu-
    hörer schon darauf achteten, ob die fikti-
    ven Ritter in der richtigen Reihenfolge
    der einzelnen Kampfweisen gegeneinan-
    der antraten, ob sie die Regeln einhielten
    und ob das traditionelle Fest im An-
    schluss an die Kämpfe in der geschilder-
    ten Prachtentfaltung auch dem Rang der
    Ritter entsprach. Umgekehrt wurden
    aber auch reale Turniere der verbreiteten
    Ritterliteratur angepasst, heißt es in Ste-
    fan Krauses und Matthias Pfaffenbich-
    lers Band „Turnier“: „Im 13. Jahrhundert
    lassen sich bereits Artus- und Tafelrun-
    denturniere nachweisen. In Burgund und
    Frankreich wurden die Kämpfe in allego-
    rische, theatralisch inszenierte Rahmen-
    handlungen eingebettet: Bedrohte Edel-
    damen mussten gerettet und mythische
    Gegner besiegt werden.“
    Damit hatte sich die Turnierpraxis be-
    reits weit von ihren Ursprüngen im 11.
    Jahrhundert entfernt. Hauptziel damals
    war die militärische Übung der Ritter,
    vor allem mit einer neuen Waffe, der
    schweren Lanze. Dafür musste nicht nur
    der Ritter diese Kampftechnik lernen,
    sondern auch sein Pferd. Zugleich ging
    es um die Koordination der Streitkräfte
    in der Schlacht, was im Turnier sogar be-
    sonders gefördert wurde. Es bot,
    schreibt Pfaffenbichler, „die Möglich-


keit, in einer größeren Gruppe zu trainie-
ren, und förderte die Kampftaktik eines
geschlossenen Reiterverbands, nicht die
militärischen Fähigkeiten eines Einzel-
kämpfers. Die frühen Turniere waren
nichts anderes als ein militärisches Trai-
ning der Ritter, Scheingefechte, die den
Ernstfall simulieren sollten.“
Allerdings sprach die Kirche schon
bald nach dem Aufkommen der Turnie-
re im Jahr 1130 auf dem Konzil von Cler-
mont ein Verbot dagegen aus, weil die-
ses Kräftemessen „oft zum Tod von
Männern und zu großer Gefahr für die
Seelen“ führe. Das Verbot wurde allein
im zwölften Jahrhundert zwei weitere
Male bestätigt und erst im vierzehnten
Jahrhundert ganz aufgehoben – man hat
es, wie es scheint, nicht sonderlich be-
achtet, obwohl den Todesopfern eines
Turniers das christliche Begräbnis ver-
sagt werden sollte.
Solche Opfer gab es tatsächlich, wenn
es auch aus der Rückschau schwer zu sa-
gen ist, wie groß die Gefahr für den ein-
zelnen Teilnehmer wirklich war, vor al-
lem in jenen Teilen des Kampfspiels, die
in ihrer Struktur an eine tatsächliche
Schlacht angelehnt waren. Bekannt sind
etwa die turnierbedingten Todesfälle des
Grafen Gottfried von Bretagne und des
Herzogs Leopold von Österreich im spä-
ten 12. Jahrhundert oder des Prinzen
Ludwig, eines Sohns des bayerischen
Herzogs, im Jahr 1290. In einem Labor-
test, der im Zusammenhang mit dem
alle vier Jahre stattfindenden Reenact-
ment der „Landshuter Hochzeit“ von
1475 durchgeführt wurde, untersuchten
die Mitarbeiter des TÜV Süd vor eini-
gen Jahren, welche Kräfte auf zwei Rit-
ter wirken, die mit den üblichen 30 Stun-

denkilometern aufeinander losreiten
und dabei versuchen, den jeweils ande-
ren mit der Lanze vom Pferd zu stechen.
Dabei stellte sich heraus, dass jedenfalls
die spätmittelalterlichen Rüstungsmodel-
le einen Großteil der Stoßenergie der
Lanzen absorbieren, allerdings stelle der
Sehschlitz im Helm wegen herumflie-
gender Lanzensplitter eine Gefahren-
quelle für dessen Träger dar.
Die Beliebtheit der Turniere im ho-
hen Mittelalter wurzelt nicht nur in den
inszenierten Schlachten und der Mög-
lichkeit, daraus für echte Kriege zu ler-
nen. Es ging auch um die Repräsentati-
on als Ritter und Herrscher, so dass
sich unter den Teilnehmern bald alles
findet, was Rang und Namen hat. Und
wenn in einer Situation wie in Kanvo-
leis der stärkste Ritter durch den Ge-
winn von Herzeloydes Hand ausdrück-
lich als künftiger Landesherr vorgese-
hen ist, dann spiegelt sich darin auch
entfernt eine mittelalterliche Realität,
in der ein Land einen starken Herr-
scher nötig hatte, um nicht zur Beute
der Nachbarn zu werden.
Das Turnier bot Rittern eine Bühne,
die beim regelgerechten Kampf und bei
den anschließenden Feiern, bei den höfi-
schen Tänzen zumal, zeigen konnten,
welche Ausbildung sie durchlaufen hat-
ten. Es ist kein Zufall, dass diese Seite in
der Durchführung und Darstellung von
Turnieren an Gewicht gewann, als der ei-
gentliche militärische Nutzen der gepan-
zerten Reiter am Schwinden war und zu-
gleich das aufstrebende Bürgertum in
den Städten eine Teilhabe an der politi-
schen Macht einforderte. In der frühen
Neuzeit durften reiche Bürgerliche dann
sogar selbst an Turnieren teilnehmen.

Im ausgehenden Mittelalter avancie-
ren Turniere vom episodenhaften Ele-
ment in den Ritterromanen nun zum al-
leinigen Sujet von Büchern, die real abge-
haltene Kampfspiele beschrieben, meist
reich bebildert waren und so auch zu ei-
ner wichtigen Quelle der höfischen Kul-
tur überhaupt wurden. „Turnierbücher“,
schreibt Stefan Krause, „enthalten oft-
mals weit mehr als nur Szenen sportli-
cher Bewerbe. In ihnen finden sich fall-
weise auch Wappensammlungen und Na-
menslisten der Turnierteilnehmer. Ande-
re wurden zu Familienchroniken oder
Abhandlungen zur Geschichte des Tur-
nierwesens erweitert.“
Zu den prächtigsten dieser Werke
zählt ein unvollendetes aus dem Kreis
derjenigen Bücher, in denen der rö-
misch-deutsche Kaiser Maximilian I.
(1459 bis 1519) ein allegorisch fiktionali-
siertes Bild seines Lebens festhalten ließ.
Neben dem 1517 erschienenen Ritterro-
man „Theuerdank“ und dem 1775 aus
dem Nachlass herausgegebenen Frag-
ment „Weißkunig“ ist das ein Werk na-
mens „Freydal“. Es schildert 64 Turnie-
re, die der Titelheld absolviert, jedes von
ihnen ist mit genau vier Bildern verse-
hen: Je zwei davon zeigen einen Kampf
zu Pferd, das dritte einen am Boden, das
vierte Bild aber eine „Mummerey“, ein
Tanzvergnügen, mit dem das jeweilige
Turnier endet.
In diesem Frühling sind die Bilder erst-
mals als aufwendiger Farbdruck erschie-
nen, so dass sich nun nicht nur die ver-
wirrende Vielzahl der angewandten
Kampftechniken ermessen lässt, die un-
terschiedlichen Waffen und Rüstungen,
die oft recht wunderlich erscheinenden
Tänze mit teils gravitätischen, teils eher

wüsten Formationen – in den Namen
der Kämpfer, mit denen es Freydal alias
Maximilian zu tun bekommt, spiegeln
sich auch die berühmtesten Adelsge-
schlechter der Zeit. Da reitet etwa Jann
van Bergen, der Kämmerer Philipps des
Schönen wie auch Maximilians selbst,
hinter einer Bretterwand zum „Welschen
Gestech“ gegen Freydank an, oder ein
Wolfgang von Polheim, mit dem es Frey-
dank in diesem Buch volle elf Mal zu tun
bekommt, unterliegt dem Titelhelden
beim „Bundrennen“.
Nachdem in der frühen Neuzeit das
städtische Bürgertum, das sich am Adel
orientierte, seinerseits turnierähnliche
Feste abzuhalten begonnen hatte, war de-
ren Funktion als ritterliche Selbstdarstel-
lung immer fragwürdiger geworden.
Erst die Wiederentdeckung der genuin
mittelalterlichen Kultur im achtzehnten
Jahrhundert lenkte den Blick auch wie-
der auf die Institution des Turniers, und
als um die Wende zum neunzehnten
Jahrhundert Ritterromane populär wur-
den, gab es auch neue, auf die Quellen
gestützte literarische Darstellungen wie
etwa in Walter Scotts Roman „Ivanhoe“
von 1820, in dem ausführlich ein Turnier
geschildert wird, das im zwölften Jahr-
hundert in der englischen Kleinstadt
Ashby de la Zouche abgehalten wird.
Das wiederum spielt eine Rolle in Karl
Immermanns Roman „Die Epigonen“,
angesiedelt in der Gegenwart des Au-
tors, also in den dreißiger Jahren des
neunzehnten Jahrhunderts. Er schildert
deutsche Adlige, die mit dem Ende des
Heiligen Römischen Reichs ihrer ererb-
ten Privilegien verlustig gegangen sind,
die wirtschaftlich mit der heftig einset-
zenden Industriellen Revolution in

Deutschland ihre Führungsrolle einge-
büßt haben und nun wenigstens mit ei-
ner Demonstration der verlorenen Grö-
ße an die Welt der ritterlichen Vorfah-
ren anknüpfen wollen. Also werden in
den Schlössern und Burgen die alten
Harnische und Waffen hervorgesucht
und notdürftig ausgebessert, damit die
mediatisierten Grafen und Edelleute bei
einem Turnier nach dem Vorbild des
„Ivanhoe“ gegeneinander antreten.
Zunächst ist das ein Desaster, weil
sich niemand mehr auf die alten Techni-
ken versteht und auch die Pferde keine
Lanzenreiter tragen mögen. Dann aber
kommt ein schwarzer Ritter heran, so
wie auch im „Ivanhoe“-Roman, und
sticht alle anderen Teilnehmer aus. Das
ist aber, anders als von den Veranstaltern
gehofft, gerade kein Ausweis seiner altad-
ligen Abstammung – der schwarze Ritter
entpuppt sich als schnöder Kunstreiter.
Die Adligen in Immermanns Roman
jedenfalls sind von ihren Ritterträumen
geheilt. Und sehen dem Aufstieg der Fa-
brikanten ebenso tatenlos zu wie dem ei-
genen gesellschaftlichen Bedeutungsver-
lust. Wer sich aber heute zu einem Ritter-
turnier einfindet, der erwartet keine De-
monstration einer glorreichen Vergan-
genheit, sondern ein Schauspiel reiterli-
cher Kunstfertigkeit. Mit Blick auf die
Entwicklung der Turniergeschichte ist
das nur konsequent.

Literatur: „Freydal. Das Turnierbuch Kaiser Maximilians I.“
Hrsg. von Stefan Krause. Taschen Verlag, Köln u. a. 2019.


  • „Turnier. 1000 Jahre Ritterspiele“. Hrsgg. von Stefan
    Krause und Matthias Pfaffenbichler. Kunsthistorisches Mu-
    seum Wien/Hirmer Verlag, Wien/München 2017. – Wolf-
    ram von Eschenbach: „Parzival“. Aus dem Mittelhochdeut-
    schen von Dieter Kühn. Deutscher Klassiker Verlag, Frank-
    furt 1994.


Wie authentisch sind unsere Vorstellungen über mittelalterliche


Turniere? Die Frage verkennt, dass die bunten Kampfspiele sich


bereits in der Ritterzeit von ihren Ursprüngen entfernten.


Von Tilman Spreckelsen


M


an hört sie kommen: Die Rit-
ter der „Zitadelle“ scheppern
und klappern, als sie in dem
Stadtpark von Tambach-Dietharz im
Thüringer Wald über den vom Niesel-
regen aufgeweichten Rasen stapfen.
Kolosse in Rüstungen, mit Äxten und
Schwertern bewaffnet, das gelbe Ban-
ner ihres Vereins über der Brust. Ein
Schiedsrichter hat ihre Montur für re-
gelkonform befunden. Ein paar Dut-
zend Zuschauer warten um die Arena,
die aus einem umzäunten Stück Wiese
besteht. „Iron Man“ von Black Sab-
bath dröhnt aus Lautsprecherboxen.
Auf beiden Seiten der Arena machen
sich je fünf Ritter eines Teams kampf-
bereit. „Für Kaiser!“, grölt Justus Nel-
ke, der Kapitän der „Zitadelle“, und
reißt sein Schwert in die Höhe. „Gott
und Vaterland!“, johlen seine Mitstrei-
ter. Auf ein Zeichen des Schiedsrich-
ters stürmen die Ritter los.
Zur gleichen Zeit öffnet sich rund
400 Kilometer weiter südlich, am
Schloss Kaltenberg in Oberbayern, das
„Tor zu einer anderen Welt“. So nennt
es Prinz Heinrich von Bayern, der hier
das größte Ritterturnier der Welt ver-
anstaltet. Was als Werbe-Event für
Bier begann, ist heute ein monumenta-
ler Mittelalterfest mit jährlich rund
100 000 Besuchern. Höhepunkt ist
eine gigantische Show: zwei Stunden
Action, Pyrotechnik, bunte Banner,
leicht bekleidete Amazonen. Die Stars
sind die Ritter und ihre Rösser.
Im 14. Jahrhundert begannen Feuer-
waffen Kämpfer in Blechanzügen auf
dem Schlachtfeld überflüssig zu ma-
chen. Ritterturniere wurden erst zu
adeliger Folklore und dann zu Ge-
schichte (siehe „Manöver und Mum-
menschanz“). Heute sind sie wieder
Kult: Auch in diesem Sommer werden
überall in Deutschland Mittelalter-
märkte zelebriert, gekrönt von exakt
choreographierten Schaukämpfen.
Die über hundert Ritter im Stadt-
park von Tambach-Dietharz jedoch
sind nicht zur Belustigung der Anwoh-
ner angereist. Elf Mannschaften be-
streiten die dritte Thüringer Meister-
schaft im historisch-gerüsteten Vollkon-
takt-Sport. Beim Gruppenkampf mit
stumpfen Waffen, dem „Buhurt“, zielt
jeder Hieb darauf, den Gegner zu Bo-
den zu bringen. Hier ist nichts ge-
spielt: Der Kampfgeist ist so authen-
tisch wie die Ausrüstung. Eine Mann-
schaft siegt, wenn vom anderen Team
keiner mehr auf dem Platz ist. Ein
Kämpfer scheidet aus, wenn drei Extre-
mitäten den Boden berühren, wenn er
in die Knie geht oder umfällt. Zwar
gab es den Buhurt schon im Mittelal-
ter, diese Version aber kam vor zwan-
zig Jahren in Russland auf. In Deutsch-
land gibt es rund 300 aktive Kämpfer,
ihr 2015 gegründeter Dachverband
nennt sich „Eisenliga“. Es gibt auch
zwei Weltverbände, einer ist die
HMBIA, Historical Medieval Battle In-
ternational Association. Ihr strenges
Regelwerk legt fest, welche Kampftech-
niken gestattet sind – Schläge auf die
Knie oder den Nacken etwa sind tabu.
Und bis zum Stickmuster am Kragen
eines Unterhemds sind alle Details vor-
geschrieben. Alles muss historisch be-
legt sein. Außerdem organisieren sie
das „Battle of the Nations“ – die Welt-
meisterschaft. Dieses Jahr haben rund
tausend Ritter teilgenommen, auch aus
China und Mexiko. Die stärksten
Teams kommen aus Osteuropa, sie trai-
nieren oft mehrere Stunden am Tag.
Auch Justus Nelke joggt sechsmal in
der Woche oder stemmt Gewichte.
Die Kämpfer seines Vereins leben ver-
streut in Thüringen, Hessen und Bay-
ern. Zum Training trifft sich die „Zita-
delle“ im Garten eines Mitglieds. Zwi-
schen Rosenstrauch und Wäscheleine
schlagen sie mit Schaumstoffwaffen auf-
einander ein, stemmen Lkw-Reifen
oder erproben das Falchion, eine riesi-
ge Hiebwaffe, an einem mannshohem
Gummiturm. Die zugehörigen Dehn-
übungen sehen aus wie Yoga für Heavy-
metal-Fans: Viele Kämpfer sind wuchti-
ge Männer in schwarzer Trainings-
kluft, einige mit Vollbart. „Buhurt is
Love“ steht auf einem T-Shirt.
Liebe liegt bei der Schlacht der „Zi-
tadelle“ gegen das ukrainische Team
„Buhurt Tech“ indes nicht in der Luft.
Der Überblick kommt bald abhanden:
Schwerter schwingen, jemand kriegt ei-
nen Schild ins Visier gerammt. Der
Krach ist ohrenbetäubend. „Aua!“, ruft
das Publikum. Ein Kämpfer der „Zita-
delle“ wurde einfach umgerannt und
liegt nun im Schlamm, an der Bande
haben sich zwei Gegner ineinander ver-

keilt, ein Ringen um jeden Zentimeter.
„Das ist das Anstrengendste“, sagt Nel-
ke. „Jeder Muskel ist gespannt. Sekun-
den werden zu Minuten.“ Bei einer
Übermacht von drei gegen einen wird,
wie bei dieser Runde, abgepfiffen.
Unter den Visieren kommen rote,
schweißüberströmte Gesichter zum
Vorschein. Dabei dauern die Kämpfe
nur Minuten. Aber allein die Rüstung
kann über 40 Kilo wiegen. Exemplare
aus osteuropäischer Fertigung gibt es
ab 1500 Euro. Viele Kämpfer zahlen
für ihre eisernen Maßanzüge mehr als
das Doppelte. Sonderwünsche kosten
extra: Einige Helme sind golden ver-
ziert, in andere sind GoPro-Kameras
eingebaut. „Der Helm zeigt den Cha-
rakter des Ritters“, sagt Jan Schrader.
Der gelernte Kunstschmied fertigt seit
seiner Schulzeit Rüstungen an. Sein
Knowhow kommt aus dem Internet,
aus den wenigen Fachbüchern oder
von alten Grabplatten. Der Stahl für
die schimmernde Wehr muss federnd
und robust sein. Allein an einem Helm
schmiedet, schweißt und hämmert
Schrader gut fünfzig Stunden. Das Pro-
dukt ist am Ende rund sechs Kilo-
gramm schwer und schränkt das Sicht-
feld ziemlich ein. Dafür rummst es
nur, wenn der Kopf getroffen wird.
„Ein Millimeter Stahl trennt den
Kämpfer vom Rollstuhl“, sagt Schra-
der. „Im Vergleich zu anderen Kampf-
sportarten ist das hier nicht gefähr-
lich“, meint Justus Nelke. Das sehen
auch der Schiedsrichter und die ande-
ren Ritter so. Erst auf Nachfrage wird
von gebrochenen Zehen, Meniskus-
schäden oder einer gerissenen Bizeps-
sehne berichtet. „Die häufigsten Verlet-
zungen sind blaue Flecken, Zerrungen
und Prellungen“, sagt Nelke. Die Ret-
tungssanitäter vor Ort stimmen zu:
„Dressurreiten ist viel gefährlicher.“
Trotzdem, schwere Verletzungen
kommen vor. Beim Kaltenberger Rit-
terturnier zertrümmerte sich ein Rit-
ter-Stuntman vor zwei Jahren die Hals-

wirbelsäule und ist seither gelähmt.
Vor rund zehntausend Zuschauern hat-
te er versucht, sich um den Hals des ga-
loppierenden Pferds zu schwingen,
und schmetterte gegen die Wand der
Arena. Sein Stuntkoordinator Mario
Luraschi, dessen Reiter und Pferde
schon in den „Asterix und Obelix“-Fil-
men mitspielten, hatte ihm die Num-
mer untersagt. Ein Jahr trainiert seine
Crew für das Turnier. Die Show folgt
einem strengen Drehbuch. Rund drei-
hundert Stuntmen, Schauspieler und
Amateur-Ritter haben ihren Auftritt.
Die Handlung wird jedes Jahr neu ge-
schrieben – diese Saison wird der Kö-
nig erstmals von Kriegerinnen geret-
tet. Publikumsliebling ist trotzdem der
böse, schwarze Ritter. In Tambach-
Dietharz siegte derweil wieder einmal
das russische Team, die „Bear Paws“.
Strapazen, teure Ausrüstung, Verlet-
zungsgefahr – warum tut man sich das
an? Da ist natürlich der Kindertraum
vom Ritter. Ein Kämpfer der „Zitadel-
le“ hat sogar eine dreijährige Knap-
pen-Ausbildung hinter sich, inklusive
Minnesang. Vielen geht es um die Ge-
meinschaft. Nach dem Turnier ist die
Stimmung ausgelassen. Die Ritter trin-
ken Bier, entschuldigen sich beieinan-
der für unfaire Hiebe. Für welches
Team sie kämpfen, spielt keine Rolle.
„Dein Gegner ist der Erste der Dir auf-
hilft“, sagt Nelke. Auch ein ehemaliger
Zitadelle-Ritter ist heute dabei. Er
kämpft seit einer Knieverletzung nicht
mehr. Danach hat er viele Sportarten
versucht: unter anderem Paintball und
Downhill. „Aber an diesen Adrenalin-
rausch im Kampf kommt nichts ran“,
sagt er und betrachtet wehmütig die ak-
tiven Ritter, wie sie sich langsam ihrer
verbeulten, mit Schlamm bespritzten
Rüstungen entledigen. Ein beißender
Geruch nach Schweiß greift um sich.
Dafür hat das Scheppern ein Ende.
Johanna Kuroczik

Das siebte Turnier des „Freydal“: Beim „Bundrennen“ (links) sind Freydal und sein Gegner Philipp von Rechberg beide vom Pferd gefallen. Beim „Welschen Gestech“ tritt der Held gegen Michel von Perg an, beim „Fußkampf mit Glefen“ gegen Philip von Cleve, den Herrn zu Ravenstein. Das Turnier endet im Tanzvergnügen zum Klang eines Krummhornes (rechts), bei dem die Herren aus verschiedenen österreichischen Geschlechtern als Jäger gekleidet sind.

Manöver und


Mummenschanz


Im neunten Turnier bekommt es Freydal beim „Rennen mit fliegenden Schilden“ abermals mit Philip von Rechperg zu tun (links), und in der Abbildung des „Deutschen Gestechs“ gegen Wolfgang von Polhaim sind unter den Pferdedecken die „Stechsäcke“ genannten Schutzpolster der Tiere zu sehen. Gegen Georg von Montfort ficht Freydal dann mit dem Dreschflegel und zur „Mummerey“, dem Tanz am Turnierende, gehört ein Moriskenreigen mit komplizierten Drehungen und Sprüngen (rechts).

Wonderwomen: Gibt’s nicht nur im Kino,
sondern auch in Kaltenberg.

Die neuen


Rittersleut’


Trendsport: Auch heute gehen wieder


gepanzerte Gestaltenaufeinander los


Abbildungen aus: „Freydal. Das Turnierbuch Kaiser Maximilians I.“ Taschen Verlag, Köln 2019/Pressestelle Kaltenberger Rittertunier
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