Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung - 28.07.2019

(Ann) #1

56 wissenschaft FRANKFURTER ALLGEMEINE SONNTAGSZEITUNG, 28. JULI 2019, NR. 30


D


as menschliche Gehirn arbei-
tet pausenlos. Und manchmal
schießt es übers Ziel hinaus
und spielt uns einen Streich. Zum Bei-
spiel, wenn es uns auf Fotos oder in der
freien Natur irgendwo Gesichter entde-
cken lässt, wo keine sind. Berühmt ist
das „Marsgesicht“, das ja eigentlich
nur eine Felsformation zeigt (de.wiki-
pedia.org/wiki/Cydonia_Mensae). Auf
Instagram liefert wiederum der
Hashtag #iseefaces viele weitere Bei-
spiele und ständig neue.
Für die Fähigkeit, in leblosen Din-
gen Gesichter zu erkennen, gibt es in
der Medizin sogar einen Fachaus-
druck: Pareidolie. Diesem Phänomen
widmet sich das Fotoblog „Faces in
Places“, facesinplaces.blogspot.com;
das Blog steht auch in Verbindung mit
der gleichnamigen Flickr-Gruppe

http://www.flickr.com/groups/facesinplaces/.
An dieser Stelle sammelt „Jody“ Fotos
von Alltagsgegenständen, Steinen,
Nahrungsmitteln und dergleichen
mehr, in denen man mit etwas Phanta-
sie allerlei Gesichter erkennen kann,
selbst auf einem Schokokuchen. Die
linke vertikale Navigation gestattet das
Durchsuchen des Archivs nach dem
Veröffentlichungsmonat. Die Samm-
lung enthält einige bemerkenswerte
Exponate. Meine Favoriten sind die
ins Eulenartige lappenden Gesichter
auf Lachsscheiben (veröffentlicht am


  1. Dezember 2014), der traurige Mag-
    netkartenleser im Hoodie (vom 27. Juli



  1. sowie der indifferente Smiley, be-
    stehend aus einem Treppengeländer
    und zwei Lampen, veröffentlicht am 2.
    März 2008. Falls Sie zu der Sammlung
    etwas beitragen möchten, können Sie
    sich per Flickr bei Jody melden:
    http://www.flickr.com/photos/pickup_stix/
    Nun unser Rätsel: Bei welchem
    Test müssen Probanden in Tinten-
    klecksen Bilder erkennen? Bitte schi-
    cken Sie Ihren Lösungsvorschlag an
    [email protected]. Unter allen richti-
    gen Einsendungen verlosen wir einen
    E-Book-Einkaufsgutschein im Wert
    von 25 Euro. Einsendeschluss ist der



  1. Juli 2019, 21 Uhr. Das Lösungswort
    des Rätsels der vergangenen Woche
    lautet: „Shmuzzle“, gewonnen hat
    Max Heister aus Siegen.


N


icht jeder hat einen eigenen Gar-
ten, zumal in einer Großstadt.
Die Einrichtung öffentlicher
Grünanlagen fiel daher wohl nicht zufäl-
lig in die Zeit, als die Metropolen weit
über ihre mittelalterlichen Mauergürtel
hinausgequollen waren. Die Entfernun-
gen ins Grüne vor der Stadt wurden zu
groß, die Stadt musste also selbst grün
werden, zumindest ein bisschen.
Auch in New York war die Einrich-
tung des Central Parks eine Antwort auf
eine Vervierfachung der Einwohnerzahl
Manhattans zwischen 1821 und 1855. Da-
nach wurde Amerikas größte Stadt noch
gehörig nachverdichtet, ohne dass Platz
für weitere Parks übrig gewesen wären.
Dennoch eröffnete 2009 im Westen Man-
hattans eine neue Grünfläche, die dann
noch erweitert wurde und seit Anfang
Juni komplett ist: Im „High Line Park“
wurde ein 2,33 Kilometer langes Stück ei-
ner stillgelegten Hochbahn bepflanzt.
Die mehr als 150 Millionen Dollar teure
Aktion hat die Grundstückspreise in der
Lower West Side zwischen der 14. und
der 34. Straße prompt verdoppelt.
Auch botanisch gesehen, ist das kein
gewöhnlicher Stadtpark. Zum einen un-
terliegen die etwa 1200 Bäume und
110 000 mehrjährigen Pflanzen auf der
High Line offenkundigen geometrischen
Einschränkungen. Der Humus ist hier
im Durchschnitt nur 46 Zentimeter mäch-

tig, mancherorts ist es sogar nur die Hälf-
te und nur unter Bäumen zuweilen 90 bis
120 Zentimeter. „Die Erde wurde sorgfäl-
tig ausgesucht“, erklärte Andi Pettis, die
gärtnerische Direktorin des High Line
Parks, im vergangenen Jahr einem ameri-
kanischen Gartenportal. „Im Wesentli-
chen ist das hier ein einziger großer Blu-
menkasten, und wir müssen aufpassen,
dass die Feuchtigkeit genau reguliert ist.“
Die Herausforderungen für Pettis und
ihre Mitarbeiter sind aber nicht einfach
die eines sehr großen Dachgartens. „Wir
sind hier praktisch auf einer Brücke und
haben mit den starken Winden zu kämp-
fen, die vom Hudson River heraufwe-
hen.“ Zehn Meter über Straßenniveau sei
es zwei bis fünf Grad kälter oder wärmer,
und im Winter friere die Erde von oben
und von unten. „Das verursacht dann He-

bungen und Wurzelschäden.“ Und dann
ist da noch der Bauwahn in dem neuen
In-Viertel. „Neue Hochhäuser tauchen
Abschnitte in Schatten, die für volle Son-
ne konzipiert waren. Es gibt neue Wind-
korridore, neue Niederschlagsschatten –
und alles hat Einfluss darauf, welche
Pflanzen wir wo wachsen lassen können.“
Ohnehin wäre „High Line Garden“
der angemessenere Titel. Allerdings steht
das Areal insofern in der Tradition der
Landschaftsgärten, als sich die Bepflan-
zung durchaus als Imitation von Natur
versteht. Bei der Auswahl der mehr als
500 Pflanzenarten hat sich der niederlän-
dische Gartendesigner Piet Oudolf von
der Vegetation inspirieren lassen, die sich
von allein zwischen den rostenden Schie-
nen angesiedelt hatte, nachdem hier 1980
der letzte Güterzug rollte: So gibt es jede
Menge Gräser und Pionierpflanzen wie
die Graubirke Betula populifolia. Auch die
Blütenpracht erinnert zuweilen an die Ru-
deralflora auf vernachlässigten Arealen
der Deutschen Bahn. Doch außer im
nördlichsten Abschnitt, wo noch wirkli-
cher Wildwuchs zu sehen ist, überformt
Oudolfs sorgfältige Kombination von Far-
ben und Formen die Schuttflächenanmu-
tung. Das Ergebnis wirkt dann an vielen
Stellen ausgesprochen ostasiatisch. Das
ist wohl weder zufällig noch beabsichtigt,
sondern die Konvergenz auf ein Design
für Naturfreunde in Platznot.

PUNKT, PUNKT,


KOMMA, STRICH
VON JOCHEN REINECKE

W


arum gingen, warum gehen
die Leute eigentlich in die
Kirche? Nicht nur um Gottes
willen, so viel ist sicher. Lange Zeit
gab es zur Teilnahme am Ritual keine
Alternativen. Wer beim Gottesdienst
unentschuldigt fehlte, galt als ungläu-
big, und um den Ungläubigen pfleg-
ten die anderen auch außerhalb der
Kirche einen großen Bogen zu ma-
chen. Kann man so jemandem Geld
leihen? Seiner Aussage trauen, wenn
er als Zeuge vor Gericht auftritt? Ihn
heiraten? Am Sonntag zur Kirche zu
gehen war also schon deshalb sinnvoll,
weil es im Alltag viel Ärger ersparte.
Noch im Amerika des neunzehnten
Jahrhunderts galt die Zugehörigkeit
zu den Methodisten als sicheres Zeug-
nis einer einwandfreien Zahlungsmo-
ral, und also konnte man dieser Kirche
auch im Interesse an der eigenen Kre-
ditwürdigkeit beitreten. Die Teilnah-
me an „geistlichen“ Kommunikatio-
nen zahlte sich in „weltlichen“ Hand-
lungszusammenhängen aus. Auf die re-
ligiöse Qualität der Teilnahmemotive
konnte es unter diesen Umständen
nicht ankommen, und auch ihr etwai-
ges Fehlen wurde nicht immer be-
merkt. Denn wo der eigene Glaubens-
zweifel, offen einbekannt, all jene Pro-
bleme erzeugt hätte, da war man gut
beraten, ihn für sich zu behalten. Der
Unglaube war Privatsache.
In einem entlegen publizierten, nun
erstmals leicht zugänglichen Aufsatz
ist der Bielefelder Soziologe Niklas
Luhmann einmal der Frage nachgegan-
gen, welche Folgen sich aus dieser
Lage für die kirchenoffizielle Ausle-
gung des Glaubens, also für die Dog-
matik ergaben. In den antiken Anfän-
gen des Christentums, als es noch reli-
giöse Alternativen gab, musste diese
Auslegung sich auch bei der Mitglie-
derwerbung bewähren. In der späte-
ren Staats- oder Volkskirche war das
nicht mehr erforderlich. Die Dogma-
tik des Mittelalters musste, so Luh-
mann, nicht mehrheitsfähig, nicht
plausibel, nicht attraktiv sein. Die
Theologen genossen erhebliche Inter-
pretationsfreiheiten und wie die gro-
ßen Kontroversen der Scholastik be-
zeugen, haben sie davon reichlich Ge-
brauch gemacht. Am Ende standen
jene radikalen, kaum noch vermittelba-
ren Positionen der voluntaristischen
und nominalistischen Theologie, mit
denen nicht nur die Kirchenspaltung,
sondern auch die Moderne beginnt.
In der modernen Gesellschaft ist da-
gegen der Glaube zur Privatsache ge-
worden. Die Kirchenmitgliedschaft
verspricht wenig Vorteile in anderen
Rollenbereichen, und man kann jeder-
zeit auf sie verzichten, ohne dafür mit
dem Verlust des Wahlrechts oder mit
Nachteilen auf dem Arbeitsmarkt oder
bei der Partnersuche bestraft zu wer-

den. Entsprechend findet man die reli-
giös Indifferenten inzwischen in allen
gesellschaftlichen Bereichen und Rang-
lagen, auch in den höchsten politi-
schen Ämtern. Luhmann fragt nun
auch für diese Lage, was sie für die
Dogmatik des Glaubens bedeutet: Soll
man davon ausgehen, dass die Leute
nun erstmals aus rein religiösen Grün-
den in die Kirche gehen, einfach weil
sie sonst ja nichts davon haben? Soll
man ihren Verbleib in der Mitglied-
schaft als eine Art von Votum zuguns-
ten der offiziellen Dogmatik verste-
hen? Oder gar in den Motiven für Kir-
chenaustritte nach Anregungen für
eine zeitgemäße Neuauslegung des
Glaubens suchen?
Dass die Kirchen selbst in Eintritt
und Austritt ihrer Mitglieder eine Stel-
lungnahme zum Glauben sehen, ist
klar. Aber schon der Umstand, dass
viele dieser Mitglieder an Gemeindele-
ben und Gottesdienst gar nicht teilneh-
men, weckt erste Zweifel daran. Offen-
bar kann man einen Glauben auch des-
halb unterstützen, weil es andere gibt,
denen er etwas bedeutet. Aber wie gut
lernt man ihn dann kennen? Weitere
Zweifel kommen hinzu, wenn man in
Umfragen liest, in wie unbestimmten
Worten Kirchenmitglieder den Sinn
ihres jeweiligen Glaubens umschrei-
ben. Auf die kirchenoffizielle Dogma-
tik dieses Sinnes scheint es dabei kaum
anzukommen. Dazu passen andere Da-
ten, wonach die religiösen Meinungs-
verschiedenheiten innerhalb der gro-
ßen Volkskirchen keineswegs geringer
sind als diejenigen zwischen ihnen.
Wenn die Mitglieder den wirkli-
chen Glauben nicht kennen, dann
kann die Kirche aus ihrem Kommen
und Gehen auch über möglichen Glau-
ben nichts lernen. Die Außengrenzen
des Kirchensystems, so der Befund
Luhmanns, sind theologisch nicht in-
formativ. Einen besseren Ansatzpunkt
für religiöse Experimentierfreude
könnte dagegen, so sein Vorschlag, ein
genau darauf spezialisiertes Gespräch
des Geistlichen mit den aktiven Ge-
meindemitgliedern bieten. Dazu müss-
te es den Amtsträgern freilich gestattet
werden, zwischen mehreren Lesarten
des Glaubens zu wählen, so dass sie
auf den Fehlschlag der einen Version
mit dem Angebot einer anderen reagie-
ren können. Die Grenzen des Wählba-
ren wären durch die Amtskirche zu zie-
hen, die dann auch die Rückmeldun-
gen sammeln und auswerten müsste.
Das freilich ist, wie Luhmann auch
selbst zugibt, ein ziemlich kühner Vor-
schlag. Er würde nämlich eine neue
Ausbildung der Geistlichen erfordern,
die von Wahrheitsbesitz auf Lernfähig-
keit umgestellt wäre.

Niklas Luhmann, Die Organisierbarkeit von Religionen
undKirchen, in: ders., Schriften zur Organisation 3,
Wiesbaden 2019, Springer.

Geistliche können aus Austritten keineswegs ablesen,
wie die Leute Kirche und Glauben denn lieber hätten.
Von André Kieserling

AB IN DIE BOTANIK INS NETZ GEGANGEN


SOZIALE SYSTEME


A


m Ende blieb nur eine Transplanta-
tionder kaputten Leber. Doch der
56-jährigen Patientin der Unikli-
nik Leipzig half auch das nicht
mehr: Sie starb an den Komplikationen
der aufwendigen Operation. Ihre Ärzte
führten an dem geschädigten Organ eine
Reihe von Tests durch. Die Ergebnisse
veröffentlichten sie Ende Juni im Ameri-
can Journal of Gastroenterology. Ihr überra-
schendes Fazit: Die Schäden an der Le-
ber wurden von dem pflanzlichen Magen-
mittel Iberogast verursacht.
Die Kräutertinktur ist nun ein Fall für
die Kölner Staatsanwaltschaft. Sie ermit-
telt einem Bericht des „Handelsblatts“ zu-
folge im Fall Iberogast wegen fahrlässiger
Tötung gegen unbekannt. Ob die verstor-
bene Patientin der Uniklinik Leipzig die-
se Ermittlungen ausgelöst hat, lässt sich
nur vermuten – bisher lehnen die Kölner
Juristen jede Stellungnahme ab. Doch
dies ist nur einer von vielen Fällen, die
das scheinbar harmlose, da rein pflanzli-
che Iberogast des Herstellers Bayer ins
Zwielicht rücken. Ein heikler Verdacht,
denn das Magenmittel ist einer der Best-
seller unter den apothekenpflichtigen Arz-
neien mit einem geschätzten Jahresum-
satz von 120 Millionen Euro.
Iberogast ist ein Gemisch von Extrak-
ten aus neun verschiedenen Heilpflanzen.
Problematisch ist vor allem das darin ent-
haltene Schöllkraut Chelidonium majus.
Das Gewächs ist seit der Antike für seine
heilende Wirkung bekannt. In Mitteleuro-
pa findet man das Kraut mit den gelben
Blüten heute an Straßenrändern, Schutt-
plätzen oder in Mauerspalten. Typisch ist
der gelbe, extrem bittere Milchsaft, der
aus abgebrochenen Stengeln tritt. Er ent-
hält mehr als 20 Verbindungen aus der wir-
kungsstarken Stoffgruppe der Alkaloide.
Sie werden zusammenfassend als Chelido-
nin bezeichnet und verursachen in hohen
Dosen, etwa nach dem Verschlucken des
Krauts, schwere Vergiftungserscheinun-
gen wie Kreislaufstörungen und Erbre-
chen. Die Dosis macht jedoch bekannt-
lich das Gift, und so ist das Chelidonin
eben auch für die traditionell zugeschrie-
benen und teilweise auch belegten Heil-
wirkungen des Schöllkrauts verantwort-
lich, etwa als Tinktur gegen Warzen.
Doch auch geringe Dosen von Cheli-
donin stehen schon länger im Verdacht,
in Einzelfällen schwere Leberschäden zu
verursachen. Aus diesem Grund wider-
rief das Bundesinstitut für Arzneimittel
und Medizinprodukte, BfArM, bereits
2008 die Zulassung für Arzneimittel mit
einer Tagesdosis Chelidonin von mehr als
2,5 Milligramm. Ab einem Tausendstel da-
von, also 2,5 Mikrogramm, verlangte das
BfArM zumindest die Aufnahme von
Warnhinweisen auf eine mögliche Leber-
toxizität in den Beipackzettel. Wie viel
Chelidonin genau in Iberogast enthalten
ist, wird in den Produktinformationen
nicht aufgeführt. Nach Angaben von Bay-
er liegt die Tagesdosis bei rund 0,3 Milli-
gramm – und somit deutlich über der ver-
weisfreien Menge.
Der Pharmakonzern legte Wider-
spruch gegen die
BfArM-Auflagen
ein. Das Verfah-
ren stockte zehn
Jahre lang, in
der Zwischen-

zeit durfte Bayer sein Produkt weiterhin
ohne die geforderten Warnhinweise ver-
kaufen. Bayer argumentiert, dass Ibero-
gast schließlich schon seit 1961 auf dem
Markt ist. 80 Millionen zufriedene Kun-
den sprächen für den Nutzen der Kräu-
tertropfen. Das Schöllkraut-Extrakt sei
so niedrig dosiert, dass es keine Risiken
mit sich bringe, Warnhinweise seien
demnach unbegründet.
Doch immer mehr Verdachtsfälle von
schweren Leberschäden brachten den
Pharmakonzern in Bedrängnis. 2016 be-
richtete das American Journal of Gastroen-
terology über einen 37-jährigen Spanier
der an einem akutem Leberversagen litt.
Als wahrscheinlichsten Auslöser benann-
ten seine Ärzte Iberogast, dabei hatte er
das Medikament nur einmal genommen.
Nachdem Mitte des vergangenen Jahres
der nun publizierte Fall der Leipziger Pa-
tientin bekannt wurde, gab Bayer nach:
Seit Herbst 2018 findet man den entspre-
chenden Warnhinweis im Beipackzettel
und der Produktinformation.
Vergangene Woche sendete die Firma
jedoch eine Stellungnahme an Apotheker,
in der sie an der
Unschuld
ihres Medi-

kaments festhält. Analysen des Falls wür-
den zeigen, „dass dies höchstwahrschein-
lich eine idiosynkratische Reaktion war –
eine äußerst seltene, dosisunabhängige
Reaktion auf Substanzen, die in der Regel
von Menschen sicher toleriert werden.“
Idiosynkrasie bedeutet, dass die Wirkung
der Arznei durch die Eigenheiten des In-
dividuums, wie eine genetischen Veranla-
gung, bedingt ist – und somit schwer vor-
herzusehen.
Tatsächlich wurden Leberschäden bis-
her erst bei täglicher Einnahme in der
Größenordnung von 10 Milligramm Che-
lidonin nachgewiesen, in einer Über-
sichtsarbeit aus dem Jahr 2012 mit sech-
zehn Fällen. Kann weniger als ein Drei-
ßigstel dieser Menge, wie in Iberogast
enthalten, wirklich lebensgefährlich
sein? Das können auch Experten nur
schwer beantworten. „Analysen früherer
Fälle von Leberschäden durch Schöll-
kraut kamen zu dem Schluss, dass der kli-
nische Verlauf nach Absetzen des Präpa-
rats gut war“, sagt Rolf Teschke vom Kli-
nikum Hanau. Er ist Spezialist für arznei-
mittelbedingte Leberschäden.
Der Fall Iberogast ist verzwickt: Die
Nebenwirkungen sind schwerwiegend,
aber zweifelsohne selten. „Das Nutzen-
Risiko-Profil von Iberogast® ist weiter-
hin positiv“, schließt Bayer in seiner aktu-
ellen Stellungnahme. Dies hätten mehr
als zwanzig klinische Studien und Erhe-
bungen mit insgesamt über 7000 erwach-
senen Probanden belegt.
Ganz anders sieht das der Hamburger
Gastroenterologe Ulrich Rosien, Mitglied
der Arzneimittelkommission der deut-
schen Ärzteschaft. In der Hauspostille der
Kommission kritisierte er schon im März,

dass ein großer Teil der vorhandenen Stu-
dien methodisch schwach und kaum geeig-
net sei, die echte Wirkung von einem Pla-
cebo-Effekt zu unterscheiden. Übrig blie-
ben lediglich drei prospektive, randomi-
sierte, doppelblinde – und damit nach
dem Goldstandard der evidenzbasierten
Medizin ausgeführte – Studien mit einem
positiven Effekt auf Symptome eines Reiz-
magens. Der umfasst Magenbeschwerden
wie Völlegefühl, Magenschmerzen, Sod-
brennen und Übelkeit, die keine organi-
sche Ursache haben. Diese maue Evidenz
reiche nicht, meint Rosien. Er ist über-
zeugt: „Unter Nutzen-Risiko-Abwägung
kann ein Schöllkraut-haltiges Iberogast
nicht mehr empfohlen werden.“
Nur weil ein Arzneistoff aus Pflanzen
gewonnen wird, ist er noch lange nicht
unbedenklich. Eigentlich ist das eine
Binsenweisheit. Man denke nur an die
rein pflanzlichen und todsicheren Gifte
der Schwarzen Tollkirsche und des Wun-
derbaums. Doch in Werbung und popu-
lärem Dafürhalten wird „natürlich“ gern
mit „verträglich“ gleichgesetzt. Dafür
bedarf es jedoch stets seriöser, also auf-
wendiger, Studien. Die Crux: Ange-
sichts der im Vergleich zu „Big Pharma“
bescheidenen Umsätze der pflanzlichen
Arzneien sind solche nur schwer zu fi-
nanzieren. Die wissenschaftliche Evi-
denz eines solchen Medikaments kann
beim Ausschuss für pflanzliche Arznei-
mittel der europäischen Arzneimittelbe-
hörde EMA eingeholt werden, rät Ro-
bert Fürst, Direktor des Instituts für
pharmazeutische Biologie der Universi-
tät Frankfurt. Ansonsten gelte auch bei
Pflanzenextrakten die alte Empfehlung:
„Fragen Sie ihren Arzt oder Apotheker.“

Illustration Charlotte Wagner

Iberogast ist ein altbewährtes Pflanzenextrakt gegen Magenbeschwerden.
Nun steht es im Verdacht, Leberschäden zu verursachen. Nach einem Todesfall

ermittelt die Kölner Staatsanwaltschaft. Von Georg Rüschemeyer


Theologisch


nicht informativ


Ganz natürliche Risiken


und Nebenwirkungen


Magengrummeln, Sodbrennen undÜbelkeit: Rund 10 bis 20 Prozent der Deutschen leiden unter den Symptome eines Reizmagens. Foto Superbild

Nicht ganz
so harmlos: das
Schöllkraut
Foto Mauritius

GRÜNES AUF


STELZEN
VON ULF VON RAUCHHAUPT
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