„Ihr seid viel stärker, als ihr denkt!“

(mfitzner) #1
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Charles Van Riper, selbst Betroffener und einer der bis heute wichtigsten Stot-
tertherapeuten des 20. Jahrhunderts, hat das Unglück stotternder Menschen
einmal folgendermaßen beschrieben: „[D]ie Schwierigkeit des Stotterers ist,
leicht und ohne Abnormität zu kommunizieren. Das ist die Hauptquelle seines
Unglücks. Er hungert nach erfolgreicher Kommunikation; er dürstet nach einer
Sprechweise, die nicht durch die Frustration zeitweilig gebrochener Wörter, Sil-
ben und Laute gefärbt ist. Er leidet an dem Mangel an flüssigem Sprechen.“^3
Dieses durch die Unmöglichkeit, spontan bzw. willentlich flüssig zu sprechen,
bedingte Unglück stotternder Mensch entsteht natürlich nicht aus dem Nichts.
Wesentlichen Anteil an seiner Entstehung haben Diskriminierungserfahrun-
gen, deren Ausgangspunkt in den meisten Fällen Vorurteile gegenüber dem
Stottern sind. Noch immer ist diese nach derzeitigem Stand der Wissenschaft
primär „körperlich bedingte Sprechbehinderung“^4 überlagert mit Stereotypen.
Stotternden Menschen unterstellt man gemeinhin zum Beispiel nach wie vor
einen psychischen Defekt als Ursache ihrer Sprechunflüssigkeit. Man setzt vor-
aus, sie seien besonders unsicher und nervös oder gar weniger intelligent als
andere Menschen oder gekennzeichnet durch irgendeine andere psychische
Anomalie^5. Auf die Konfrontation mit solchen Vorurteilen bzw. mit auf diesen
basierenden Diskriminierungen reagieren viele Betroffene, indem sie Gespräche
und sprachliche Interaktionen aller Art vermeiden. Der Grad des Vermeidens
steigert sich gelegentlich bis hin zu einem umfassenden kommunikativen Rück-
zug, aus dem weitgehende soziale Isolation resultieren kann. Das sind für stot-
ternde Menschen wesentliche Anlässe und konkrete Ursachen für ihr Leiden
vor, während und nach jeder alltäglichen Kommunikation. Doch wenn Betrof-
fene es schaffen, sich den kleinen-großen Herausforderungen des Alltags zu
stellen; wenn sie es schaffen, das eigene Stottern ohne fortdauernde Selbstan-
klagen und andauernde Frustration in das eigene Leben zu integrieren; wenn sie
es schaffen, sich den mal implizit, mal explizit von Kommunikationspartner_in-


(^3) Charles Van Riper: Die Behandlung des Stotterns. 4. Aufl. Köln: Bundesvereinigung Stotterer-Selbsthilfe 2002.
S. 22.
(^4) Vgl. die Definition des Stotterns auf der Internetseite der Bundesvereinigung Stottern & Selbsthilfe:
https://www.bvss.de/index.php?option=com_content&view=article&id=1&Itemid=18 (zuletzt geprüft am
21.08.2018).
(^5) Deutliche Spuren hinterlassen solche und verwandte Vorurteile in der Darstellung stotternder Menschen
innerhalb verschiedener Medien, etwa des unterhaltenden Films oder der erzählenden Literatur. Vgl. dazu
Jürgen Benecken: Wenn die Grazie mißlingt. Stottern und stotternde Menschen im Spiegel der Medien. Köln: De-
mosthenes 1996.

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