„Ihr seid viel stärker, als ihr denkt!“

(mfitzner) #1
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Alltag erfordert, letztlich eine Stärkung bedeutet. In dieser Perspektive stellt
Stottern eine Art ‚Krisentraining‘ dar. Flüssig sprechende Menschen müssten
hingegen bestimmte ‚Muskeln‘, d.h. bestimmte Charaktereigenschaften und
Fähigkeiten gar nicht erst so intensiv trainieren wie stotternde Menschen. An
diesem Punkt wird besonders deutlich, was auch für andere noch zu erläuternde
Punkte gilt: Gerade die negativen Aspekte des Stotterns scheinen ins Positive
zu kippen, wenn sie erfolgreich in ein vom Stottern unabhängigeres, positiveres
Selbstbild integriert werden können. So führt etwa die Neigung stotternder
Menschen zur Zurückhaltung und Schweigsamkeit dazu, dass sie eine besonde-
re Fähigkeit zum Zuhören entwickeln – so die mehrfach wiederkehrende Er-
fahrung unserer Autor_innen. Ihr eigenes Leiden an einer Behinderung und die
daraus resultierende Isolation macht stotternde Menschen anscheinend auch
besonders empfänglich für die Empfindungen von Menschen mit anderen Be-
hinderungen und von anderen Außenseitern. Das ‚Unglück‘ des Stotterns för-
dert auf diese Weise die Fähigkeit zur Empathie. Daraus entsteht im besten Fall
eine von großem Verständnis geprägte Solidarität. Eine andere mehrfach geäu-
ßerte Beobachtung besteht darin, dass Stottern eine ausgeprägte Sensibilität
gegenüber der gesprochenen und geschriebenen Sprache sowie einen Sinn für
die Bedeutung guter, tiefer gehender und – gerade auch stotternd – gelingender
Kommunikation fördert. Es zwinge außerdem dazu, sich mit der eigenen Per-
sönlichkeit auseinanderzusetzen – wohl nicht zuletzt vor dem Hintergrund der
Herausforderung, eine Behinderung und ein positives Selbstbild miteinander
zu verbinden. Selbst seine Eigenschaft als ein in flüssige, reibungslose Abläufe
nicht-integrierbares Element könne eine wünschenswerte Qualität des Stot-
terns darstellen: Es verlange und fördere Geduld sich selbst und anderen gegen-
über ebenso wie die Akzeptanz des Unperfekten. In Bezug auf den Umgang mit
anderen Menschen könne Stottern einerseits neue wertvolle Kontakte fördern



  • das scheint vor allem eine Erfahrung derjenigen Betroffenen zu sein, die sich
    in der Selbsthilfe engagieren. Andererseits könne es geradezu als eine Art
    ‚Lackmuspapier für menschliche Qualitäten‘ eingesetzt werden: Welche_r Ge-
    sprächspartner_in weiß mit einem Menschen umzugehen und ihn zu schätzen,
    obwohl diesen eine für die meisten anderen in den ersten Momenten des Ken-
    nenlernens irritierende Kommunikationsbeeinträchtigung kennzeichnet? Das
    zeigt sich für stotternde Menschen in der Regel bereits in den ersten Sekunden
    eines Gesprächs. Es sind diese und einige andere positive Aspekte, die in den

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