„Ihr seid viel stärker, als ihr denkt!“

(mfitzner) #1

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stotternden Schülers höher als die der anderen Kinder, weil er mitempfindet,
wie viel Mühe sie ihm abverlangen.


Mitleid hat einen verdammt schlechten Ruf. Wir beeilen uns stets zu beteuern,
auf keinen Fall Mitleid entgegengebracht bekommen zu wollen. Denn wer be-
mitleidet wird, scheint ein armes Würstchen zu sein, ein objektiv defizitär Aus-
gestatteter. Und das will wohl niemand sein. Der Begriff „Mitgefühl“ ist uns
sympathischer, Mitgefühl können wir besser annehmen (wenngleich das Mit-
Gefühl mit jemandem, der leidet, etwa mit einem Stotternden, der an seinem
Stottern und dessen Folgen leidet, ja per definitionem ein Mit-Leid(en) sein
muss ...).


Mitgefühl also. Aber das kann eben auch so manchen Vorteil mit sich bringen:
Aufmerksamkeit, Zuwendung, Schonung. Vor einigen Jahren las ich von einer
Untersuchung, deren Ergebnisse besagten, dass das Stottern männlicher Ju-
gendlicher auf gleichaltrige Mädchen besonders anziehend wirke. Soll man sich
darüber freuen oder das Helfersyndrom der Mädchen zurückweisen? Wie auch
immer – ein gewisser Vorteil bleibt es in jedem Fall.


Und wenn mir der Mitleidsbonus des Eisverkäufers, bei dem ich stotternd eine
Eiswaffel bestelle, eine extragroße Portion verschafft – ist das dann kränkend
oder sollte ich triumphieren? Die Antwort auf diese Frage dürfte unterschied-
lich ausfallen – je nachdem, ob ich unwillkürlich stottern musste oder ob ich
mich (wie ich als Eisjunkie es gelegentlich tue) des taktischen Pseudostotterns
bediene.


Die bis hierher genannten Vorteile des Stotterns sind natürlich nicht wirklich
welche, sind nur vermeintliche, vordergründige Vorteile, denn sie konfrontieren
uns eben gerade mit der Pein der Sprechbehinderung. Sie sind das notdürftige
Trostpflaster für die kränkende Erfahrung des kommunikativen Eingeschränkt-
seins.


Wenn ich nun die Frage aufwerfe, ob Stottern einen zwischenmenschlichen
Mitteilungsgehalt besitzen und dadurch zu einer Art Komplizen für den Stot-
ternden werden könnte, begebe ich mich auf dünnes Eis. Könnte etwa das Stot-
tern eines restriktiv erzogenen Kindes in der Beziehung zu seinen Eltern eine
regulierende Funktion haben?

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