„Ihr seid viel stärker, als ihr denkt!“

(mfitzner) #1
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Das Stottern wird von den meisten dieser Stotternden als Prüfstein erlebt, des-
sen Wert darin besteht, dass man ihn überwinden kann, dass man sich an ihm
beweisen kann. Und hat man das erst einmal geschafft, kann eine stabile Kraft,
ein stabiles Selbstbewusstsein daraus erwachsen.


Früher veranstalteten Eltern Windpocken- oder Masernpartys, auf denen ge-
sunde Kinder bewusst von erkrankten angesteckt werden sollten. Wenn diese
Praxis heute auch sehr in Frage gestellt werden muss, so entsprang sie doch dem
Wissen der Eltern um den Wert einer bewältigten Krankheit für die spätere
Abwehrkraft ihrer Kinder.


Bei der Hyposensibilisierung in der Allergietherapie wird das Immunsystem
mit einer erhöhten Dosis des Allergens konfrontiert. So soll sich der Körper an
das Allergen gewöhnen und fortan nicht mehr mit einer übermäßigen Reaktion
des Immunsystems (Allergie) darauf antworten. Auch hier wird die Kraft ge-
nutzt, die aus der Entkräftung erwächst.


Das Stottern – wenn wir es bewältigt haben – stärkt uns in besonderer Weise
gegenüber Unsicherheiten, Sprechängsten und Krisen, wie sie ein jeder erleben
kann, und verleiht uns eine Resistenz, über die manch Flüssigsprechender nicht
verfügt (der quasi gar nicht zur Windpockenparty eingeladen war).


Aus alledem lässt sich vielleicht zusammenfassend sagen: Das Stottern selbst
hat eigentlich kaum etwas Positives. Überaus positiv können aber die Folgen
sein, die eintreten, wenn ich es wage mich dem Stottern zu stellen.


Und ich? Warum war das Stottern für mich persönlich ein absoluter Glücksfall?
Zunächst einmal war es mir Anlass mich schon früh mit mir selbst und der Dy-
namik meines Innenlebens zu beschäftigen. Und mich ebenso früh darin zu üben
über meine Gedanken und Gefühle wie auch über meine Probleme zu sprechen,
Hilfe zu suchen und Hilfe anzunehmen – Fähigkeiten, die mir auch im Umgang
mit vielen anderen Lebenserschwernissen zugutekamen und kommen.


Dann habe ich das Stottern schnell zum „Hobby“ und zum Gegenstand meines
besonderen Interesses gemacht. Kaum dass ich mit 22 Jahren die Stotterer-
Selbsthilfe für mich entdeckt hatte, begann meine Faszination für dieses Phä-
nomen, das überdies endlich einen Namen bekam – bis dahin hatte noch nie-
mand meine stummen Blockaden, die mir wie eine obskure und einmalige
Sprachhemmung vorkamen, „Stottern“ genannt. Jetzt hatte ich endlich eine

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