„Ihr seid viel stärker, als ihr denkt!“

(mfitzner) #1
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Steffen Paschke


Mein Stottern und das Lob


der Toleranz


Ich stottere seit meiner Kindheit. Früher habe ich das Stottern gehasst, heute
liebe ich es beinah. Ohne das Stottern wäre ich nicht der, der ich heute bin,
hätte, da bin ich mir sicher, andere Haltungen und Einstellungen meinen
Mitmenschen gegenüber. Dies meine ich ganz positiv. Das Stottern ist mein
Lehrmeister gewesen, es hat mich Toleranz gelehrt. Und es hat mir gezeigt,
dass unsere Gesellschaft mit dem Streben nach perfekter Erfüllung ihrer
Idealvorstellungen vom Menschen auf dem falschen Gleis unterwegs ist.


Wer abends zur vollen Stunde den Fernseher einschaltet, kann sich leicht da-
von ein Bild machen, wie ein perfekter Mensch landläufiger Meinung nach zu
sein hat: rundherum gesund, schlanke Figur, glatte Haut, volles Haar, anlie-
gende Ohren, gerade weiße Zähne, intelligent und natürlich flüssig sprechend.
Mich wundert, dass für die allabendlichen Nachrichten überhaupt immer
wieder Leute gefunden werden können, die tatsächlich alle Ideale zu erfüllen
scheinen, ist dies doch keineswegs selbstverständlich. Denn wenn man sich in
einen Zug setzt, auf die Bank in einem Flughafengebäude oder in die Fuß-
gängerzone einer Großstadt, wird man so gut wie ausschließlich Menschen
erleben, die die gesellschaftlichen Standards eben nicht zur Gänze erfüllen,
sondern in irgendeinem Punkt oder auch auf mehreren Ebenen von den stren-
gen Erwartungen abweichen. Trotzdem werden Verstöße gegen die Norm im
menschlichen Miteinander aber klar stigmatisiert, bis jetzt zumindest.


So war es auch in meiner Kindheit. Mit meinem Stottern. In einer frühen
Erinnerung saß ich eines Nachmittags zuhause auf dem Sofa und sah aus dem
Fenster. Wahrscheinlich regnete es, sonst hätte ich sicher draußen mit meinen
Freunden gespielt. Es klingelte an der Haustür und eine Freundin meiner El-
tern kam zu Besuch. Ich muss bei dieser kurzen Begebenheit irgendetwas in

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