„Ihr seid viel stärker, als ihr denkt!“

(mfitzner) #1

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von der Norm wahrnimmt, versucht, diese zu kaschieren. Deshalb tragen
manche unserer Zeitgenossen Toupets oder Perücken, um ihren spärlichen
Haarwuchs zu übertünchen, andere überschminken Narben, Pickel und Mut-
termale, manch einer lacht nicht offen, sondern verdeckt sein schiefes Gebiss
mit der Hand, Förderschüler geben sich als Regelschüler aus und so weiter
und so fort. Das bietet der Industrie natürlich ein gefundenes Geschäftsfres-
sen. Alles ist möglich, suggeriert die Werbung. Abweichungen von der Norm
sind überholt. Gegen jedes Abweichen vom Ideal ist ein Kraut gewachsen,
steht irgendein Mittelchen bereit: Faltencremes, Haarwuchsmittel, obskure
Therapien, die Heilung vom Stottern versprechen.


Irgendwann nach meinem Abitur habe ich angefangen, die gesellschaftlichen
Idealvorstellungen vom Menschen zu hinterfragen. In dieser Zeit setzte ich
mich zum ersten Mal in meinem Leben intensiv mit dem Stottern auseinan-
der. Ich nahm Kontakt zur Selbsthilfebewegung auf, las Fachliteratur und be-
stellte mir Therapievideos, deren dargestellte Sprechtechniken ich im Selbst-
versuch erprobte. Außerdem erhielt ich durch meinen Zivildienst Kontakt zu
Menschen, die ebenso wie ich deutlich von sozialen Normvorstellungen abwi-
chen: geistig behinderte Kinder und Jugendliche an einer Förderschule, die im
Rollstuhl saßen, epileptische Anfälle hatten und daher einen Schutzhelm tra-
gen mussten, die nicht sprachen oder sich in sich gekehrt verhielten, abgekap-
selt, wie in ihrer eigenen Welt lebend, autistisch.


Meine Aufgaben bestanden darin, die Schülerinnen und Schüler beim Lernen
zu unterstützen, mit ihnen zu spielen und spazieren zu gehen, ihnen beim
Essen und auf der Toilette zu helfen. Wenn ich mit einzelnen von ihnen un-
terwegs war, bemerkte ich hin und wieder die abwertenden Blicke der Passan-
ten auf den Straßen, wenn meine Schüler lautierten oder ihnen Speichelfäden
aus dem Mund liefen und ich fühlte mich dann selbst verletzt. Ich gelangte zu
der Erkenntnis, dass ich durch mein Stottern behindert war, so wie meine
Schüler es durch ihre Handicaps waren. Gemeinsam gehörten wir zu denjeni-
gen Menschen, die von den geforderten gesellschaftlichen Idealen abwichen.


Heute, zwanzig Jahre später, bin ich überzeugt davon, dass mein Stottern mei-
nen weiteren Lebensweg entscheidend positiv beeinflusst hat. Ich begann
Sonderpädagogik zu studieren und arbeite heute wieder an einer Förderschu-
le mit geistig behinderten Kindern und Jugendlichen, was mich ganz erfüllt.

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