Die Welt am Sonntag Kompakt - 21.07.2019

(Wang) #1

WELT AM SONNTAG NR. 29 21. JULI 2019 DEUTSCHLAND & DIE WELT 13


Füralle,dieVerantwortungübernehmen


undimmerdasind.Diesichimmer


kümmern,aberniemalsfordern.


Noah,Enkel

Lore,Oma

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Pakistan angekommen, beziehen sie, die Eltern und
Geschwister ihre Zimmer im Haus einer Tante. Aus
zwei Wochen werden zwei Monate. Erst reist der Va-
ter ab, dann auch Mutter und Geschwister. Nur Laiba
darf nicht mit zurück, ihr Reisepass ist abgelaufen. Sie
würden ihr einen neuen besorgen, versprechen ihre
Verwandten. Das Mädchen ahnt noch nichts. Sie er-
zählt von damals: „In Pakistan durfte ich das Haus
meiner Tante niemals verlassen, irgendwann war auch
noch der abgelaufene Reisepass weg.“ Laiba bittet ihre
Verwandten um einen neuen, doch wird immer wieder
vertröstet. Sie habe ihre Eltern angerufen und sie an-
gefleht, wieder nach Hause zu dürfen. Doch die Eltern
halfen nicht. Nur einmal noch sei der Vater zu Besuch
gekommen. Und wieder abgefahren, ohne sie.
Dieser Moment sei einer der schlimmsten ihres Le-
bens gewesen, sagt Laiba. „Meine Eltern haben mich
im Stich gelassen.“ Als Laiba 15 ist, wird sie mit einem
ihrer Cousins verheiratet. Sie hat ihn nur ein paarmal
im Haus der Tante gesehen. „Gesprochen haben wir
aber nie miteinander.“ Per Videochat muss sie dem um
acht Jahre Älteren das Jawort geben, er ist im Ausland.
Persönlich sieht sie den Cousin danach nie wieder,
doch es wird trotzdem alles schlimmer: Die Tante und
Cousins schlagen sie immer häufiger, zwingen sie,
Kopftuch zu tragen, erlauben ihr keinen Kontakt nach
draußen. „Ich war dort eine Gefangene“, sagt Laiba.
„Die Mädchen begreifen die Situation oft gar nicht.
Sie glauben den Lügengeschichten ihrer Eltern oder
halten das Vorgehen für normal. Sobald sie im Ausland
sind, ist es meistens zu spät“, sagt Petra Koch-Knöbel.
Sie ist die Vorsitzende des Berliner Arbeitskreises ge-
gen Zwangsverheiratung und kämpft seit vielen Jah-
ren als Beraterin und Projektleiterin gegen häusliche
Gewalt und ihre Folgen. Laut einer Umfrage des Ar-
beitskreises sind Frauen zwischen 16 und 21 Jahren mit
arabischen und türkischen Wurzeln am häufigsten be-
troffen, seltener aus kurdischen Gebieten, vom Bal-
kan, aus Bulgarien und Rumänien. Auch in jüdischen,
jesidischen und christlichen Familien kommen dem-


nach Zwangsverheiratungen vor. Bei den Beratungs-
stellen melden sich die jungen Frauen selber, Freun-
dinnen oder Lehrer, die die Verschleppung eines Mäd-
chens befürchteten. In jedem fünften Fall war es laut
der Umfrage schon zu einer Zwangsheirat gekommen.
Eine von drei Betroffenen war minderjährig. „Junge
Frauen sind die Trägerinnen der Familienehre und
werden oft wie Gegenstände gehandelt“, sagt Myria
Böhmecke von Terre des Femmes in Berlin. Bei ihrer
Anlaufstelle seien zuletzt etwa 60 Anfragen pro Monat
aufgelaufen – zu viele, um die damit verbundene Ar-
beit bewältigen zu können, sagt sie. Es gebe zu wenig
öffentliche finanzielle Unterstützung für die Bera-
tungsstellen. Und das liege daran, dass kaum Zahlen
zu Zwangsehen und Beratungsanfragen bekannt seien.
Die letzte bundesweite Erhebung stammt von 2008.

EINE URSACHE: DIE STARKE ZUWANDERUNGIn
den vergangenen Jahren seien die Fallzahlen deutlich
gestiegen, da sind sich alle Hilfseinrichtungen einig.
Myria Böhmecke macht als eine der Ursachen auch die
stärkere Zuwanderung aus – und dies erhöhe umso
mehr die Notwendigkeit, neue Zahlen zu erheben. Nur
wenn es eine Statistik und damit eine Übersicht über
das Problem gebe, glaubt sie, „würde die Politik auf-
wachen und das nötige Geld zur Verfügung stellen, um
die Beratungsangebote auszubauen“.
Alles zeigt: Die Hilfsstrukturen sind eigentlich aus-
reichend vorhanden, doch viele engagierte Helfer wer-
den allein gelassen. Auch die Berliner Organisation Pa-
patya, die Laiba die Flucht ermöglichte, spürt den
Geldmangel. Die Kriseneinrichtung bietet für Betrof-
fene von Zwangsehen die anonyme Online-Beratung
„Sibel“. Bundesweit sei es die einzige dieser Art, sagt
die Leiterin Eva Kaiser. „Momentan wird uns für die
Online-Beratung eine halbe Stelle von Bund, Ländern
und Senat finanziert. Das reicht einfach nicht für die
vielen Anfragen“, klagt Kaiser. „Wir kämpfen seit Jah-
ren mit dem Senat um die Aufstockung von einer hal-
ben auf zwei Vollzeitstellen. Wenn das nicht klappt,

müssen wir aufhören.“ Die zuständige Berliner Behör-
de erklärt dazu auf Anfrage, der Bund sei aus der Fi-
nanzierung ausgestiegen. Dabei hatte das Familienmi-
nisterium erst im vergangenen Jahr einen entschlosse-
neren Kampf gegen Zwangsverheiratungen angekün-
digt. Laiba erzählt jetzt weiter: In ihrer Verzweiflung
benutzt sie heimlich das Smartphone ihrer Tante, kon-
taktiert eine alte Schulfreundin. Diese stellt die Ver-
bindung zu Papatya her. Deren Leiterin Kaiser beglei-
tet Laiba seit diesem ersten Hilferuf, tauscht Nach-
richten mit ihr aus, und bereitet ihre Rettung gemein-
sam mit der deutschen Botschaft in Islamabad vor. Die
Beamten stellen Laiba einen neuen Pass aus.
Mit ihrer Wiedereinreise nach Deutschland endet
Laibas Zwangsehe. Ein Gesetz zur Bekämpfung von
Kinderehen macht das seit 2017 möglich: Wenn ein
Ehepartner zum Zeitpunkt der Heirat unter 16 Jahre
alt ist, gilt die Ehe in Deutschland automatisch als un-
wirksam. Die wiedergewonnene Freiheit kann sie aber
nur bedingt genießen. Zu präsent ist das Grauen in ih-
rer Erinnerung. „Ich dachte, wenn ich zurück in
Deutschland bin, muss ich nie wieder weinen“, sagt
sie. Doch ohne Familie fühle sie sich noch immer ver-
loren. Frauen wie Laiba könnte besser geholfen wer-
den, wenn es nicht nur mehr Fördergelder für Bera-
tungsstellen gäbe, sondern zusätzlich wirksame Kon-
trollen an Flughäfen. Sie sind in der Regel die letzte
Station der jungen Frauen vor der Ausreise. Die zu-
ständige Bundespolizei teilt mit, ihre Beamten seien
sensibilisiert.
Großbritannien könnte ein Vorbild sein: Dort kon-
trollieren speziell geschulte Polizei- und Grenzbeamte
in den Schulferien an Flughäfen, sie sprechen Reisende
aktiv an. Am Londoner Flughafen Heathrow konnten
dadurch Medien zufolge mehrere Verdachtsfälle ver-
folgt werden. Die britische Organisation Karma Nirva-
na rät zu einem Mittel, das Kampagnen gegen Men-
schenhandel und Verschleppung empfehlen: Betroffe-
ne sollen einen Metalllöffel in ihrer Unterwäsche ver-
stecken – als Alarmzeichen an Sicherheitsmitarbeiter.
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