Die Welt am Sonntag Kompakt - 21.07.2019

(Wang) #1

38 KULTUR WELT AM SONNTAG NR. 29 21. JULI 2019


mma Chamberlain sieht fer-
tig aus. Die Teenie-Akne hat
auf Stirn und Nasenpartie ge-
streut, die Haarsträhnen hän-
gen wie vertrocknete Gras-
halme aus der Strickmütze, die Augen-
ringe stammen wohl aus Nächten, die
sie am Computer verdaddelte. Cham-
berlain fährt in ihrem Auto durch Los
Angeles, sie will so viele Coffeeshops
wie möglich testen. Nach dem dritten
Iced Latte muss sie rülpsen, nach dem
vierten aufs Klo, und nach dem fünften
sagt sie: „Ganz ehrlich, die schmecken
alle gleich.“

VON SILVIA IHRING

Solche Szenen finden acht Millionen
Abonnenten, die der Amerikanerin auf
YouTube folgen, megawitzig. Die 18-Jäh-

rige aus Kalifornien ist der neue Star
der Social Media und gilt als bestes Bei-
spiel für eine neue Generation von In-
fluencern, die der überkuratierten, pas-
telligen Avocado-Toast-Ästhetik, wie sie
Chiara Ferragni oder Arielle Noa Char-
nas prägten, den Rücken kehrt. Cham-
berlain wird von ihren Fans geliebt, ge-
rade weil sie alles anders macht als Kol-
leginnen in Designerkleidung, die in ge-
sponserten Posts und Front-Row-Sel-
fies Perfektion vorleben.
Sie fotografiert sich mit Kapuzen-
pullover und ungeschminktem Schlaf-
mützen-Gesicht beim Frühstück im Di-
ner, verzichtet auf Photoshop und Fil-
ter, zieht Grimassen und verzerrt ihr
Gesicht zusätzlich in ihren Videos,
wenn es dem Witz dient. Denn das sind
ihre Videos: sehr, sehr witzig, zumin-
dest für jene Menschen, die von dem

hibbelig-nervösen und von Dauerironie
durchtränkten Geschnatter eines
Teenagers nicht genervt sind. Aufge-
wachsen als Einzelkind und Tochter ei-
nes Künstlers drehte sie ihre ersten Vi-
deos bereits in der vierten Klasse und
postete sie auf ihrem „Finsta“-Account


  • so nennen Teenager Instagram-Profi-
    le, die nur für Freunde und Familien-
    mitglieder einsehbar sind. Bald reichte
    das Chamberlain aber nicht mehr an
    Publikum.


HEULEN, BACKEN, FLOHMARKT Für
die YouTuber-Karriere hat sie inzwi-
schen die Highschool aufgegeben, sie
filmt sich beim Heulen, Backen, Floh-
markt-Shoppen, hält ihren blutigen,
frisch gepiercten Nasenring in die Ka-
mera und macht sich über die eigenen
Versprecher lustig. Chamberlain zer-

hackt ihre Filme mit schnellen Schnit-
ten, fügt Zoomeffekte und selbstironi-
sche Kommentare aus dem Off hinzu.
Bis zu 20 Stunden verbringt sie nach ei-
genen Angaben damit, ihre Videos zu
schneiden und zu bearbeiten, oft bis tief
in die Nacht hinein. Das Ergebnis: Op-
tisch ist in ihren Filmchen so viel los,
dass man schnell vergisst, wie wenig im
Grunde inhaltlich passiert.
Die Vloggerin filmt schließlich nur
ihr unspektakuläres Teenager-Dasein
und liefert auf diese Weise viel Identifi-
kationspotenzial für Gleichaltrige, die
mit den Capri-Kurzreisen und Gala-
Dinners anderer Fashion-Blogger wenig
anfangen können. Als „Generation Z“
bezeichnet man die Generation nach
den Millennials: Elf- bis 20-Jährige, die
mit Social Media und Smartphone auf-
gewachsen sind und ganz früh anfan-
gen, selbst zu drehen. Die Kamera ist
für diese Jugendlichen Alltagsbegleiter,
der Auftritt vor der Linse keine Ausnah-
mesituation, für die es besondere Licht-
verhältnisse, fotogene Hintergründe
oder einen makellosen Teint braucht.
Millennial-Influencer sind dafür be-
kannt, dass sie für die Produktion ihrer
Inhalte eigene Teams beschäftigen und
professionelles Kamera-Equipment
kaufen. Vlogger wie Emma Chamber-
lain dagegen kümmert es nicht mal, ob
die Haare gewaschen sind.
Auch das US-Magazin „The Atlantic“
hat daher schon über den Erfolgszug
des „Relatable Influencer“ geschrieben:
Social-Media-Stars, die mit der unor-
dentlichen Normalität ihres Alltags
überzeugen und so Nähe zu ihrem Pu-
blikum schaffen. Aber auch diese
scheinbar bescheidenen Stars machen
längst großes Geld. Die Seite social-
blade.com etwa erstellt anhand von Da-
ten, die sie über diverse Social-Media-
Plattformen bezieht, Statistiken über
einflussreiche Profile. Demnach könnte
Emma Chamberlain allein mit YouTu-
be-Werbung bis zu 1,6 Millionen Euro
im Jahr verdienen.
Längst zählt die junge Frau, die in
Los Angeles lebt, Marken wie Hollister
und Louis Vuitton zu Kooperationspart-
nern. Für die Luxusmarke besuchte sie
bereits Modenschauen in Paris und
New York. Da die meisten ihrer Follo-
wer wohl nicht 3000 US-Dollar für eine
Tasche ausgeben können, investieren
sie gerne 25 Dollar in ein T-Shirt aus der
Chamberlain-Kollektion. Das Logo er-
innert an die Flyer eines billigen Pizza-
lieferservices. Slogan: „Wird heiß gelie-
fert – manchmal.“

Ungewöhnlich normal


Kein Photo-
shop, sondern
einfach witzig
Mit Emma
Chamberlain
können sich
Teenies bestens
identifizieren

GETTY IMAGES

/JEROD HARRIS

Unausgeschlafen, ungeschminkt, ungefiltert: Die Vloggerin Emma


Chamberlain ist so unperfekt wie wir alle. Acht Millionen Fans lieben das


E


Einigen schon vom Record Store Day
bekannt, setzen die Flaming Lips hier
den zuletzt auf „Oczy Mlody“ wie-
dergefundenen Pop-Pfad konsequent
fort. Mick Jones (The Clash) erzählt
mit Londoner Akzent die wundersame
Geschichte von königlichen Baby-Rie-
sen. Sonst jedoch hört man hier den
allerfeinsten psychedelischen Flow aus
Oklahoma, mit breitwandigen Songs
voll zuckrig-melancholischer Harmo-
nien, vielfältigsten, auch elektronisch
verstärkten Beats zwischen Rock, Pop
und Hip-Hop sowie spacigen, quaken-

den, schwappenden, zischenden Geräu-
schen aus einem vollgefressenen Syn-
thesizer. Es gibt zum Beispiel einen
scheppernd verhallten Elektromarsch,
einen weich strömenden, mit hell ver-
schwimmenden Keyboards dahinpo-
chenden Popsong, ein sinister auf ei-
nem Bolero aus gummiartigem Klopfen
ausgelegtes Stücklein mit sämigen
Streichern und einen schlurfenden
Pop-Hop mit bedrohlichen Bläsern.
Und durch alle Gischt- und Gazeschlei-
er hindurch dringt aus massiven Echo-
kammern Wayne Coynes sphärisch-

süßer Gesang. In jeder Ecke eine Über-
raschung. MARKUS SCHNEIDER

PLATTENKRITIK

The Flaming


Lips


Der „Rolling Stone“, Deutschlands
wichtigstes Musikmagazin, erstellt
die Plattenkritik exklusiv für WELT
AM SONNTAG Kompakt

The Flaming
Lips: „King's
Mouth“(Bella
UUUnion/PIAS)nion/PIAS)
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