Die Welt am Sonntag Kompakt - 21.07.2019

(Wang) #1

Kontrolle. Eine Achterbahnfahrt, die ich
vorher nie erlebt hatte.


Wie haben Sie einen Weg gefunden,
das alles gut durchzustehen?
Ich habe großartige Menschen, die mich
unterstützen – meine Eltern, meine
Frau, meine Freunde. Nicht alleine zu
sein, war wichtig für mich. Normaler-
weise komme ich gut und gern auch mal
alleine zurecht. Ich brauche nicht stän-
dig Menschen um mich herum. Wenn
du aber Krebs hast, ist alleine zu sein,
der härteste Part. Für mich jedenfalls.
Das waren jene Stunden, in denen mei-
ne Fantasie verrückt spielte, in denen
mir Geschichten von Menschen im Kopf
spukten, bei denen die Behandlung
nicht oder nicht gut anschlug. Das hilft
nicht gerade beim positiven Denken.
Schwimmen war für mich auch deshalb
eine große Hilfe, weil es mir ein konkre-
tes Ziel gab. Ich werde angespannt und
nervös, wenn ich nicht das Gefühl habe,
auf etwas Bestimmtes hinzuarbeiten.
Meine Physiotherapeutin und ich haben
dann alles getan, um meinen Körper zu
pushen, sind aber niemals über das hi-
nausgegangen, was der Arzt empfohlen
hatte.


Konnten Sie sich leicht zurückhalten?
Du darfst es einfach nicht übertreiben.
Es war auch nicht so, dass ich stark und
in guter Verfassung war, ganz im Gegen-
teil: Ich war ziemlich schwach nach
zwei Operationen. Aber für mich war es
wichtig, jeden Tag ein bisschen auf mei-
ne Rückkehr hinzuarbeiten und dabei
kleine Fortschritte zu beobachten.


Sie gingen rechtzeitig zum Arzt, bei
anderen Menschen wird Krebs zu
spät entdeckt. War das ein Grund,
weshalb Sie Ihre Krankheit und die
Behandlung über soziale Medien öf-
fentlich machten?
Das ist der einzige Grund, ja. Menschen
zu sensibilisieren. Ich hatte wirklich
Glück, dass der Krebs in einem frühen
Stadium entdeckt wurde. Viele Men-
schen gehen selbst bei Schmerzen ein-
fach nicht zum Arzt – oder zu spät. Es
gibt zudem bei Hodenkrebs nicht wirk-
liche Anzeichen und Symptome, wenn
du keinen Selbsttest machst. Aber du
denkst nicht wirklich daran, regelmäßig
abzutasten. Das solltest du jedoch.


Sie taten das?
Nein, auch ich nicht. Ich hatte aus Ver-
sehen meine Hoden gestoßen, und es
tat mehr weh, als es sollte. Außerdem
ging der Schmerz nicht weg. Als er nach
einigen Tagen immer noch da war, ging
ich zum Arzt – da stimmte etwas nicht.
Die Ärzte sagten mir, dass die meisten
Männer an meiner Stelle deutlich län-
ger gewartet hätten. Aber jeder Tag, den
du länger wartest, ist gefährlich. Die
meisten gehen erst zum Doktor, wenn
sie Schmerzen im unteren Rücken ha-


ben oder Blut husten. Sie vermuten ir-
gendeine Infektion. Und eventuell ist
der Krebs dann weit fortgeschritten, sie
müssen eine Chemotherapie machen.
Es ist einfach wichtig, auf seinen Körper
zu achten, auf ihn zu hören und einen
Arzt aufzusuchen. Nicht nur wegen Ho-
denkrebs. Männer gehen einfach oft un-
gern und seltener zum Arzt als Frauen.

Woran liegt das Ihrer Meinung nach?
Wir haben diese komische Sichtweise,
dass Männlichkeit verbunden ist mit
guter Gesundheit und Potenz. Aber die
Wahrheit ist doch: Wenn du zum Arzt
gehst, bist du danach schlauer, hast
mehr Informationen und kannst Ent-
scheidungen treffen. Nur weil du den
Arzt nicht siehst, heißt es ja nicht, dass
du gesund bist. Ich wollte meine Ge-
schichte öffentlich machen, um Auf-
merksamkeit zu wecken. Es ist immer
hilfreich, einen Reminder zu haben.
Und wenn ich nur eine Person dazu er-
mutigen kann, sich früher durchche-
cken zu lassen, oder durch mich eine
Person weniger durch die Chemothera-
pie muss, dann bedeutet meine Scham
nichts, rein gar nichts.

Welchen Raum nimmt der Krebs noch
in Ihrem Leben, Ihren Gedanken ein?
Ich habe immer noch eine Menge Angst
und Sorge. Weil das Leben kostbar ist.
Es gibt bei mir keine Anzeichen der
Krankheit mehr, aber ich werde natür-
lich regelmäßig medizinisch kontrol-
liert, denn der Krebs kann schließlich
zurückkommen. Und dass er eines Ta-
ges zurückkehren könnte, ist ein be-
ängstigender Gedanke, auch wenn mei-
ne Prognose gut ist. Mein Angstlevel ist
die meiste Zeit, vielleicht zu 95 Prozent,
eher niedrig, aber in den restlichen fünf
drehe ich am Rad.

Weil Sie das Gefühl hatten, Ihr Körper
habe sie betrogen?
Ich habe mich ja schließlich gesund ge-
fühlt bis zu jenem Tag im Dezember.
Und ich fühle mich jetzt gesund. Der
nächste Bluttest oder das nächste MRT
aber könnten zeigen, dass das trüge-
risch ist und ich nicht gesund bin. Angst
ist Teil meines Lebens. Aber je mehr ich
zurück bin in meinem Alltag, desto bes-
ser geht es mir.

Ein großer Schritt war Ihr erster
Wettkampf Mitte Mai. Was bedeutete
Ihnen die Rückkehr?
Der erste Wettkampfstart in meinem
zweiten Schwimmerleben war großar-
tig. Ich wusste nicht, wie schnell ich
sein würde, aber es ging mir einzig da-
rum, überhaupt antreten zu können.
Für mich war es ein Abschluss und das
Zeichen zu sagen: Es ist Zeit, nach vor-
ne zu blicken und Schwimmen wieder
in den Mittelpunkt meines Lebens zu
rücken, den Fokus darauf zu legen,
schneller zu werden. Ich wurde Vierter

und Dritter bei diesem Wettkampf.
Jetzt ist es an der Zeit, körperlich und
mental daran zu arbeiten, irgendwann
wieder Erster zu werden.

Es mag makaber klingen: Aber kann
es helfen, beim nächsten wichtigen
Wettkampf zu wissen, dass Sie einen
viel schwierigeren Kampf bereits ge-
wonnen haben? Das Rennen kann
nicht härter werden.
Das ist so wahr. Das denke ich auch. Am
Ende des Tages habe ich die Ehre, wie
jetzt bei der WM mein Land zu reprä-
sentieren, mich selbst, meine Familie.
So lange ich mein Bestes gebe und diese
Ehre ernst nehme, kann ich nicht versa-
gen. Das nimmt mir einiges an Druck.

Wie stark sind Sie schon wieder?
Ich bin vielleicht bei 90 Prozent. Die Sa-
che ist, dass Kontinuität beim Schwim-
men wichtig ist und ich die längste Pau-
se meines Leben hatte. Ich habe viel von
dieser Beständigkeit verloren. Mein Ziel
ist es, wieder mit den Besten der Welt
mithalten zu können. Das kann sich bei
den Weltmeisterschaften in Südkorea
erfüllen oder später. Im September
möchte ich auf einem Niveau mit den
Besten sein, und ich denke, dass ich auf
einem guten Weg bin. Das macht mich
glücklich. Wenn gesundheitlich bei mir
alles gut wird, sind wir im Plan für die
Olympischen Spiele 2020 in Tokio.

Ist der Traum von Ihrem vierten
Olympia-Start größer als zuvor?
Die Krankheit verleiht den Spielen in
Tokio auf jeden Fall eine andere Bedeu-
tung als zuvor. Krebs zu überwinden,
diese Zwangspause zu machen, hat
mich deutlich mehr wertschätzen las-
sen, was es bedeutet, ein Profisportler
sein zu dürfen. Ich könnte mir nichts
Besseres vorstellen, um meinen Le-
bensunterhalt zu bestreiten. Ich habe
das immer gewusst, es irgendwann aber
einfach nicht mehr im Kopf gehabt. Es
gibt mir definitiv Extra-Motivation. Ich
bin ja keinesfalls der Einzige, der so et-
was durchgemacht hat und in seinen
Sport zurückkehrt. Ich hoffe, dass auch
ich andere Leute motivieren kann, die
eine ähnliche Diagnose erhalten.

Haben Sie nach der Diagnose auch an
vergessene Kindheitsträume gedacht?
Kindheitsräume waren so immens groß,
du willst gleichzeitig Feuerwehrmann
und Astronaut werden und Olympia-
gold gewinnen – aber der Tag hat nur 24
Stunden. Außerdem erfordern all diese
Dinge schon alleine 100 Prozent deiner
Aufmerksamkeit, wenn du ihnen auch
nur nahe kommen willst. Die Diagnose
hat bei mir insofern keine vergessenen
Träume zum Leben erweckt, aber defi-
nitiv meine aktuellen Träume bestätigt,
verstärkt und mir gezeigt, wie wichtig
es ist, alles zu geben, damit sie am Ende
Wirklichkeit werden.

WELT AM SONNTAG NR. 29 21. JULI 2019 SPORT 55


GETTY IMAGES

/MADDIE MEYER

Freistilsprinter Nathan Ghar-jun
Adrian, am 7. Dezember 1988 in
Bremerton im US-Bundesstaat
Washington geboren, ist der
Sohn eines Amerikaners und
einer Chinesin. Er startete als
FFFünfjährigerünfjährigerbei seinem ersten
Wettkampf, gab sein Olympia-
Debüt mit 19 Jahren bei den
Spielen 2008 in Peking und feier-
te mit Gold über 100 Meter Frei-
stil2012 in London seinen größ-
ten Erfolg. Zudem gewann Adri-
an insgesamt fünfmal Olympia-
gold und einmal Silber mit US-
Staffeln sowie 2016 in Rio zwei-
mal Bronze im Einzel.
Am 15. September 2018heiratete
erseine langjährige Freundin
Hallie Ivester. In seiner Heimat-
stadt ist mittlerweile eine Straße
nach ihm benannt.

Nathan Adrian
Schwimm-Olympiasieger
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