FRANKFURTER ALLGEMEINE SONNTAGSZEITUNG, 21. JULI 2019, NR. 29 reise 47
A
mzweiten Tag in der Wildnis ist
die letzte Verbindung zur Außen-
welt gerissen. In ein schwarzes
Nichts hat sich der Bildschirm
meines Handys verwandelt. Wasser ist
hineingesickert, nachdem das Kajak ge-
kentert ist, am felsigen Ufer des
Laxsjöns, eines Sees im tiefen Westen
Schwedens. Das Ungeschick eines Kopf-
menschen aus der Großstadt, der hemds-
ärmelig sein wollte und schon beim Ein-
stieg in ein kleines Boot die Balance ver-
loren hat. Zu Hause in Berlin hätte ich
wegen des kaputten Geräts längst getobt
wie ein Kleinkind. Hier, in der Abge-
schiedenheit der skandinavischen Ein-
öde, verursacht dessen Havarie nur ei-
nen kurzen Trennungsschmerz.
Auf der Halbinsel Baldersnäs in Dals-
land, einer Region, wo pro Quadratkilo-
meter nur elf Menschen leben, mache
ich zwischen Stock, Stein und ruhenden
Gewässern einen Versuch. Wie kann Mü-
ßiggang in dieser Kulisse den rastlosen
Geist eines Internet-Junkies, Büroarbei-
ters und Metropolenmenschen besänfti-
gen?
Mein Rückzugsort ist eine Hütte auf
einem bemoosten Hang am See: die Ke-
menate eines Zivilisationsflüchtigen, auf
einer Fläche von fünf Quadratmetern.
Gebaut ist das Giebelhäuschen größten-
teils aus Glas – um freie Sicht auf den
Spielplan im Naturtheater zu haben, auf
Cumuluswolken tagsüber, auf weiße
Nächte, auf Waldkäuze und Elstern, auf
raschelndes Blätterwerk. Dem Aufent-
halt in diesem Atrium und der Flora und
Fauna drum herum attestiert die lokale
Tourismusbehörde eine fast schon über-
natürliche Wirkung. „Stress und Anfor-
derung des Alltags werden begraben“,
versprechen sie. Man wolle „den Rest
der Welt dazu einladen, den entspannen-
den Effekt der schwedischen Natur zu er-
leben“.
Acht dieser Hütten gibt es in Dals-
land, verstreut auf den Arealen von Feri-
enanlagen. Entworfen hat sie Jeanna Ber-
ger, eine junge Architektin aus der Regi-
on; vor etwas mehr als zwei Jahren wur-
de das erste Exemplar in die Botanik ge-
zimmert. „72 Hour Cabins“ haben PR-
Leute die minimalistischen Gehäuse ge-
nannt – weil drei Tage schon ausreichen
würden, um Stresshormone abzubauen
und den Cortisol-Spiegel zu senken. Her-
angeführt wird dabei eine Studie von
Stressforschern. Sie haben Karrieristen
aus Städten wie New York, Paris oder
London in die Häuschen eingeladen und
nach ihren Auszeiten die Blutwerte ge-
messen. Meine Hütte steht auf dem
Grundstück eines Herrenhauses aus dem
frühen 20. Jahrhundert, das heute ein ge-
diegenes Hotel ist – im verwilderten Teil
des Parks, der das Gebäude säumt.
Die Entschleunigung in der Idylle ist
die neueste Facette eines touristischen
Massenphänomens: der Teilzeitausstieg
von Großstädtern aus der Monotonie ih-
res Bürolebens, aus der Verschmelzung
mit ihren digitalen Endgeräten. Immer
mehr Workaholics aus der westlichen
Welt pilgern zu Orten der Besinnung,
ob in Yoga-Retreats auf Costa Rica oder
Schweigeklöster in Myanmar. Nun wird
die Natur vor der eigenen Haustür als
Sanatorium entdeckt – eine Weltflucht,
die müde Eskapisten bereits im mittleren
- Jahrhundert angetreten haben. Da-
mals veröffentlichte der amerikanische
Philosoph Henry David Thoreau seine
vielzitierte Einsiedelei „Walden“, die Bi-
bel aller Aussteiger. In eine Blockhütte in
Neuengland war der Einzelgänger gezo-
gen, an einem naturtrüben See, nur ein
paar Kilometer von seiner Geburtsstadt
entfernt. Thoreau wollte sich dort auf
Sinnsuche begeben. Er plante, „dem ei-
gentlichen, wirklichen Leben näher zu
treten, zu sehen, ob ich nicht lernen
konnte, was es zu lehren hätte, damit ich
nicht, wenn es zum Sterben ginge, einse-
hen müsste, dass ich nicht gelebt hatte“.
Doch was ist die Lektion aus dem Le-
ben im Bann der „72 Hour Cabin“? Es
geht vor allem darum, Routinen zu ver-
lernen. Morgens weckt mich das Däm-
merlicht des anbrechenden Tags – wäh-
rend der Handy-Alarm, der mich sonst
aus dem Schlaf reißt, nur als leises Echo
im Unbewussten nachhallt. Abends ist
der Regen mein Nachtradio, er trom-
melt aufs Dach wie die Finger eines Per-
kussionisten auf eine Bongo. Übrigens
beschert das Wetter an diesem Ort keine
sonnendurchfluteten Motive für den Ins-
tagram-Account. Ein Trip ins skandinavi-
sche Outback hat mit den Bahamas nun
einmal so wenig zu tun wie ein Knäcke-
brot mit einer Kokosnuss. Meine Medita-
tionen: Pfifferlinge suchen im Wald, ver-
geblich auf Lichtungen nach Elchen
schauen. Zerstreute Wanderungen
durchs Unterholz, wie sie auch Thoreau
in seiner berühmten Schrift beschreibt,
die mein Reisebuch ist.
Das Wohltuende der Landschaft ist,
dass sie so heimisch erscheint: die Farne
und Butterblumen, aber auch die Ei-
chen, die ihre Äste über das Dach der
gläsernen Hütte strecken. Abends wir-
ken sie wie die gichtigen Hände eines
Urgroßvaters, der einem Enkel über die
Wangen streichelt. Der Wald weckt
Urvertrauen, dieses Habitat unserer Vor-
fahren, der Jäger und Sammler. Viel-
leicht haben die Wissenschaftler recht,
die behaupten, dass eine grüne Umge-
bung lindert und heilt. Ich denke an
eine vielbeachtete Studie des US-ameri-
kanischen Wissenschaftlers Roger S. Ul-
rich. Deren Ergebnis: dass Patienten, de-
ren Fenster im Krankenhaus auf Bäume
im Innenhof gerichtet waren, schneller
gesund wurden als Leidensgenossen
ohne Sicht auf Gewächse. Was für eine
Ironie: Ausgerechnet jener Landstrich,
der dem Organismus auf eine ähnliche
Weise zur Ruhe verhilft, war früher ein-
mal ein Zentrum der Akkordarbeit. Im
- Jahrhundert wurde in Dalsland Eisen-
erz zu Stahl gegossen, in heißlaufenden
Fabriken; und im frühen und mittleren - Jahrhundert produzierten Facharbei-
ter Chlor, im Werk der „Elektrokemiska
Aktiebolaget“, mitgegründet von Alfred
Nobel.
Als ich nach einem geglückten See-
gang mit dem Kajak über den Laxsjön
paddle, erblicke ich in der Ferne ein
Rauchzeichen aus der industriellen Ver-
gangenheit: den Schlot einer Papierfa-
brik, umgeben von den rührigen Schwe-
denhäuschen einer Siedlung namens Bil-
lingsfors. Das Werk ist in einer ehemali-
gen Eisenhütte angesiedelt worden, es be-
lebt heute die westschwedische Wirt-
schaft. Ein Denkmal aus dem Industrie-
zeitalter ist auch jenes Herrenhaus, das
meine Treppe in die örtliche Zivilisation
ist. Vor etwas mehr als einem Jahrhun-
dert gönnte sich Rudolf Lilljeqvist, ein
sendungsbewusster Fabrikdirektor, den
Bau im Stil der Neorenaissance. Seine
Zierde ist ein englischer Garten, so ge-
pflegt, dass sich die Greenkeeper von
Buckingham Palace verbeugen würden.
Der Rasen ist gestutzt, die Kronen der
Rotbuchen sind majestätisch.
In diesem Palast übernachten vor al-
lem schwedische Pärchen über 50, deren
Porsche auf dem Hof parkt. Wenn ich
abends im Kaminzimmer auftauche, wo
diniert wird, mit weißer Serviette und
funkelndem Besteck, fühle ich mich wie
ein Landstreicher: die kurze Hose von
Erde bestäubt, die Beine von Ameisen
zerbissen. Die Hotelgäste bleiben unge-
rührt, Frauen in Blousons, Männer in Po-
lohemden. „Hej hej“, murmeln sie und
tunken ihre Löffel ins Tomaten-Gazpa-
cho.
Das Herrenhaus betrete ich, um den
Service zu beanspruchen, der zur Bu-
chung der „72 Hour Cabin“ gehört: ein
Drei-Gänge-Menü, das Extra zum Früh-
stückskorb, den Angestellte des Hotels
morgens auf den Holzstufen der Hütten-
tür ablegen. Dazu kann ich in ein Zim-
mer im dritten Stock verschwinden, um
mich zu duschen. Irgendwann zwischen-
durch haben Hausgeister auch das Kajak
an der Böschung des Sees abgestellt.
Ein Luxus, der die Illusion vom uri-
gen Naturerlebnis ankratzt: Das Silenti-
um ist, trotz aller Philosophie, natürlich
vor allem ein Wellness-Angebot. Letzt-
lich bin ich nur ein Tourist, angereist mit
Flieger und Mietauto, die Tickets für die
Rückfahrt im Rucksack. Manchen Besu-
chern scheint die Rast dennoch gutzu-
tun. Im Foyer erzählt die Hotelchefin Su-
sanne Björk Jensen, früher einmal eine
Managerin in Los Angeles, ehe sie nach
Schweden zurückkehrte, von wundersa-
men Heilungen – etwa von einer ausge-
brannten Frau, die vor Freude weinte,
weil sie endlich einmal nachts durchge-
schlafen hatte. In tranceartiger Nachtru-
he war ich auch, hypnotisiert vom Re-
gen, der aufs Haupt der Hütte prasselte.
Am Tag der Abreise leuchtete das
Handy übrigens auch wieder. In der Hüt-
te hat es sich regeneriert. So wie ich
auch. PHILIPP WURM
AnreiseFlüge nach Göteborg gibt es
nonstop ab Berlin, Hamburg, München,
Düsseldorf und Frankfurt. Von dort
steuert man am besten mit einem Miet-
auto Dalsland an und damit auch Bal-
dersnäs; die Fahrzeit beträgt rund zwei
Stunden.
SehenswürdigkeitDie Trogbrücke in
Håverud ist eine Kombination von
Bahnlinie, Aquädukt und Straße. Die
Brücke verbindet den entlegenen Land-
strich mit dem restlichen Schweden.
AktivitätenDalsland, die größte Seen-
landschaft Schwedens, ist ein Paradies
für Kajakfahrer, Ruderer und Angler.
Der Vänersee, der auch zur Fläche der
historischen Provinzen Värmland und
Västergötland gehört, ist der drittgrößte
Binnensee Europas.
„72 Hour Cabins“ Zwei der acht
„72 Hour Cabins“ stehen auf dem Gut
des Herrenhauses Baldersnäs Herrgård.
Der Preis für 72 Stunden Aufenthalt be-
trägt 6695 SEK/Person (ca. 640 Euro),
für zwei Personen 7990 SEK (ca. 760
Euro). Im Preis enthalten sind dreimal
Frühstück, zweimal Mittag- und dreimal
Abendessen. Buchung und weitere Infos
unter Telefon +46/5 31/4 12 13 und bal-
dersnas.eu sowie unter vastsverige.com
DER WEG NACH DALSLAND
Die nächsten
drei Tage
Kann die Einsamkeit Schwedens den
rastlosen Geist eines Büromenschen
besänftigen? Über 72 Stunden im Rausch
des Waldes – und ein Hotel als Notausgang
Eine von acht „72 Hour Cabins“ in der westschwedischen Region Dalsland: die Hütte am Iväg-See bei Steneby Foto Jonas Ingman / Imagebank Sweden
Die Cabin unseres Autors auf der Halbinsel Baldersnäs am Laxsjön-See Foto Wurm
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Nehmen Sie jetzt an unserem Gewinnspiel
im Rahmen der Ausstellung „Goethe.
Verwandlung der Welt“ (bis zum 15.9.2019
in der Bundeskunsthalle in Bonn) teil.
Die Frankfurter Allgemeine Zeitung verlost anlässlich der Kooperation mit
der Bundeskunsthalle als Hauptpreiseine Kulturreise nach Weimar für
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© Goethe, Illustration von Maria Gottweiss nach dem Gemälde von Johann Heinrich
Wilhelm Tischbein, Goethe in der römischen Campagna (Ausschnitt), 1787
© Kunst- und Ausstellungshalle der Bundesrepublik Deutschland GmbH
1x
Laxsjön
25 km F.A.Z.- Karte lev.
Västra Götaland
DALSLAND
Dals Långed
Håverud
Billingsfors Halbinsel
Baldersnäs
Värmland
SCHWEDEN
NORWEGEN StockhoStockholmlm
Göteborg
Oslo
Ostsee
Skagerr
ak
250 km
Vänersee