Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung - 21.07.2019

(Tina Meador) #1

FRANKFURTER ALLGEMEINE SONNTAGSZEITUNG


Leben (^) 21. JULI 2019 NR. 29 SEITE 9
VON HAUCK & BAUER
AM RANDE DER
GESELLSCHAFT


I

m Einser-Kanal stehen drei weiße
Reiher. Sehr weit weg. Zu weit
weg. Einer erhebt sich, landet auf
der ungarischen Seite im Ufergras
und blickt nach Österreich her-
über. Wir wiederum schauen ins Bestim-
mungsbuch, durchs Fernglas, durchs
Spektiv. Die Frage, die sich hier stellt,
lautet: Silber- oder Seidenreiher? Der Sil-
berreiher hat einen dolchförmigen, zur
Paarungszeit fast schwarzen Schnabel
und helle Unterschenkel. Der Seidenrei-
her hat einen blaugrauen Zügel – das ist
jener Bereich, der von der Schnabelbasis
bis zum Auge reicht –, Schmuckfedern
im Nacken, schwarze Beine und gelbe
Zehen. Er ist kleiner als der Silberreiher


  • und in unseren Breiten viel seltener.
    Wir befinden uns auf der Brücke von
    Andau. Während des ungarischen Volks-
    aufstands von 1956 flüchteten an genau
    dieser Stelle rund 70 000 Menschen
    nach Österreich. Die Brücke wurde
    schließlich gesprengt und 40 Jahre später
    als Mahnmal wiederaufgebaut. Der Ge-
    denktafel zufolge soll sie heute ein „Sym-
    bol der Hilfsbereitschaft und Toleranz“
    sein. Unser historisches Interesse ist für
    den Moment jedoch ausgeknipst. Hinter-
    her werden wir alles nachlesen, jetzt gilt
    es herauszufinden, welche Reiher wir vor
    uns haben. Wenn nur diese ganzen Ab-
    lenkungen nicht wären: Aus dem nahe
    gelegenen Wäldchen schickt ein Grün-
    specht seinen gellenden Ruf über den Ka-
    nal, in den Bäumen um uns herum sin-
    gen Goldammern, und über uns kreist
    ein Kaiseradler. Jemand fragt, ob es
    nicht doch ein Seeadler sein könnte. Aus-
    geschlossen, trotzdem werfe ich, sicher
    ist sicher, einen verstohlenen Blick ins
    Bestimmungsbuch.Kaiseradler it is.
    Während wir die Vögel betrachten, ist
    es wieder spürbar, das Gefühl, aus der
    Zeit zu fallen. Ein Dutzend Hobby-Orni-
    thologen zwischen 20 und 80, gefangen
    im Bann des Augenblicks, konzentriert
    aufs Hier und Jetzt, verlieren sich in fo-
    kussierter Intensität. Das passiert oft bei
    der Vogelbeobachtung, Raum und Zeit
    schnurren auf einen kleinen Punkt zu-
    sammen, verdichten sich, verschwim-
    men. Wer solche Momente erlebt, ver-
    steht sofort, worauf der französische Phi-
    losoph Henri Bergson mit seiner Unter-
    scheidung zwischen „temps“ und „du-
    rée“ hinauswollte. Während „temps“ das
    mechanische Ablaufen der Zeit meint,
    bezieht sich „durée“ auf die subjektive
    Zeiterfahrung. Jede besondere Begeben-
    heit – Trauriges, Gefährliches oder Hei-
    teres – geschieht in der „durée“ und ver-
    wandelt den Zeitfluss. Der Gründer des
    Berlin-Verlags, Arnulf Conradi, be-
    schreibt die Sichtung eines Albatros in
    seinem Buch „Zen und die Kunst der Vo-
    gelbeobachtung“ wie folgt: „Es war ein


Jetzt, ein Augenblick, der sich tief ein-
prägt – eine Senkrechte in der Zeit.“
Die Vogelbeobachtung galt lange als
Hobby für antisoziale Naturfreaks. Selt-
sam genug sind schon die Begriffe, die
ihre Adepten benutzen: Durchzügler,
Teilmauser, Jugend-, Schlicht- und
Prachtkleid. Und erst die Vogelnamen:
Zilpzalp, Heckenbraunelle, Klappergras-
mücke. Ganz zu schweigen von den für
die Bestimmung wichtigen Fachtermini:
Handschwingenprojektion, Überaugen-
streif, Unterschwanzdecken. Das ist
doch alles rentnerhaft, einem Putzigkeits-
imperativ verpflichtet, letztlich für Leu-
te, die um vier Uhr nachmittags in holz-
vertäfelten Cafés (ausgestopfte Marder
an der Wand, Nelkengesteck auf dem
Tisch) Bienenstich essen. Bis heute hän-
ge ich mir das Fernglas nur in Ausnahme-
fällen um den Hals, im Traum käme ich
nicht darauf, in Trekking-Schuhen
durchs Marschland zu stolpern oder at-
mungsaktive Softshell-Jacken zu tragen.
Generell gilt: Wer bekundet, seine Lei-
denschaft sei Kitesurfen oder Fallschirm-
springen, ist auf der sicheren Seite, Ap-
plaus garantiert. Wer sagt, er beobachte
gerne Vögel, wird schräg angeglotzt.
Eine Freundin bemerkte neulich: „Du
guckst Spatzen hinterher wie andere
Männer Frauen.“
Wenn jedoch nicht alles täuscht, ver-
liert die Vogelbeobachtung seit einigen
Jahren peu à peu den Ruf, nur etwas für
Sonderlinge zu sein. Inzwischen hat es
sich sogar eingebürgert, vom „Birden“
und von „Birdern“ zu sprechen. Das
klingt cool und frisch und dynamisch. Un-
ter dem Label „Die Flugbegleiter“ berich-
tet ein Team von ornithologisch interes-
sierten Journalisten online über Vögel,
Umwelt und Naturschutzpolitik. An Vo-
gelexkursionen nehmen immer mehr Ju-
gendliche und Kinder teil. Und bei einer
Beringung im vergangenen Frühling hat
mir ein neunjähriger Junge nicht nur
sämtliche Vögel mit lateinischem Namen
vorgestellt, sondern obendrein viel Wis-
senswertes über den Bartgeier erzählt.
Dieser Enthusiasmus fällt mit dem
wachsenden Bewusstsein für die kollabie-
rende Natur zusammen. Momentan erle-
ben wir das größte Artensterben seit den
Dinosauriern; in den vergangenen 200
Jahren haben wir 80 Prozent unserer Vö-
gel verloren. Tendenz weiter fallend. Mo-
nokulturen und Katzen, Windräder und
Habitatzerstörung, Lichtverschmutzung
und illegaler Vogelfang – die Gefahren

lauern überall. Je weniger Vögel draußen
anzutreffen sind, desto eifriger suchen
wir sie. Dieser Trend wird vom Buch-
markt befeuert. Bislang ist nicht auszu-
machen, wann die Flut naturkundlicher
und ornithologischer Schmöker abebben
wird. Das Gros der Werke will dem Le-
ser vermitteln, dass Tiere uns recht ähn-
lich sind und dass die Highlights ihres
Lebens unbemerkt vonstattengehen.
Man beachte die Titel: „Die geheime
Sprache der Vögel“, „Die Weisheit der
Trottellumme“, „Das verborgene Leben
der Meisen“, „Die Genies der Lüfte“.
Auch in der Erzählliteratur treten Vö-
gel und deren Fans gerade häufig auf:
Nell Zink schreibt über den Mauerläu-
fer, Juli Zeh über einen Vogelschützer,
Norbert Scheuer lauscht der Sprache der
Vögel, Uwe Timm widmet sich einem
Vogelwart, Jonathan Franzen, nun, der
ist ein Sonderfall. Er gehört zu den be-
kanntesten Birdern überhaupt und wid-
met sich auch in seinen Romanen dem,
mit Emily Dickinson gesprochen, „thing
with feathers“. In dem autobiographi-
schen Büchlein „Die Unruhezone“ heißt
es: „Die Kalifornische Grundammer, die
ich jeden Morgen beim Frühstück beob-
achtete, der schlichteste aller mittelgro-
ßen braunen Vögel, ein bescheidener Bo-
denbewohner, der fröhliche, einfache
Tschilp-Rufe von sich gab, verschaffte
mir mehr Freude als der Half Dome bei
Sonnenaufgang oder die Küstenlinie des
Ozeans bei Big Sur.“ Zum einen ist Fran-
zens Manie damit hinreichend charakteri-
siert, zum anderen sind mir seine Ausfüh-
rungen absolut nachvollziehbar.
Das war nicht immer so. Als Kind
habe ich Vögeln nur hinterhergeschaut,
weil sich mein Großvater so angetan von
ihnen zeigte. Wobei ich gleich einschrän-
kend hinzufügen muss, dass er seine Lie-
be sehr ungleich verteilt hat. Singvögel
waren für ihn Staffage, Greifvögel etwas
Großartiges, Weißstörche – von denen
es damals nicht annähernd so viele gab
wie heute – eine Sensation. Manchmal
waren wir gemeinsam mit dem Rad un-
terwegs, manchmal spazierten wir durch
den Wald. Und immer hatte er sein Fern-
glas dabei, das mir vorkam wie ein Teil
des Standardequipments uralter Leute.
Franzbranntwein, Schuhanzieher, Fern-
glas, voilà. Als mein Großvater fast neun-
zig und schon dement war, habe ich ihn
gefragt, welches Tier er gerne wäre.
Ohne lange zu überlegen, antwortete er:
„Ein Adler.“ Warum? Er lächelte, zeich-

nete mit seinen Armen eine imaginierte
Flugbahn nach und sagte: „Dieser Blick
von oben, das muss majestätisch sein.“
Im Teenageralter wurden andere Din-
ge wichtig für mich. Musik, Filme, Seri-
en. Tiere mochte ich nach wie vor, aber
gefährlich sollten sie sein. Zum Bestand
meines idealen Bestiariums gehörten so-
gar ausgestorbene (T-Rex) und feuerspu-
ckende (Godzilla) Geschöpfe. Was ich
nicht ahnte: Mit dem Tyrannosaurus war
ich schon wieder unterwegs zu den Vö-
geln. Das habe ich im ersten Teil von „Ju-
rassic Park“ (sechs Kinobesuche!) ge-
lernt, als der Paläontologe Alan Grant an
einer Ausgrabungsstätte seinen Zuhö-
rern erzählt, dass die Saurier im Laufe
der Evolution das Fliegen lernten.
Jahre später war ich auf Sylt und habe
mich über die vielen Schilder gewun-
dert, auf denen zu lesen war, man könne
jetzt, im April, an Ort und Stelle Ringel-
gänse beobachten. Ich kannte diese Vö-
gel nicht, pflanzte mich auf den erstbes-
ten Deich, sah ein Gänsegrüppchen und
dachte: Das müssen sie sein, erledigt. Im
Nachhinein ist mir beim Blick ins Be-
stimmungsbuch aufgefallen, dass es sehr
viele Gänse bei uns gibt. Je länger ich
darüber nachdachte, desto klarer wurde
mir, dass ich Graugänse gesehen haben
musste. Und je mehr ornithologische
Werke ich konsultierte, desto faszinieren-
der kam sie mir vor, die Vogelwelt. Was
für eine Vielfalt, was für Farben, was für
Rekorde! Der Wanderfalke stürzt sich
mit mehr als 300 Stundenkilometern auf
seine Beute; die Pfuhlschnepfe fliegt
11 500 Kilometer nonstop von Alaska
nach Neuseeland; manche Küstensee-
schwalbe legt im Laufe eines Jahres
90 000 Kilometer zurück. Das ist doch al-
les nicht zu fassen!
Dann ging es los, das obsessive Bird-
en. In überschaubarer Zeit erklomm ich
mehrere Eskalationsstufen, lernte Gefie-
dervariationen auswendig, machte mich
mit der Biologie der Vögel vertraut, mel-
dete gesichtete Exemplare in Online-Da-
tenbanken und ging nie mehr ohne Fern-
glas aus dem Haus. Ein Wiedehopf ist
zwar kein Gottesbeweis für mich, aber er
mobilisiert fast religiöse Gefühle in mir.
Manche Freunde finden das wunderlich.
Nicht zu Unrecht. Auch ich mache mir
Gedanken. Wann werde ich anfangen,
mit Pfeifenten und Blaumeisen Gesprä-
che zu führen? Beruhigung verschafft
mir der englische Journalist Simon Bar-
nes: „Vögel beobachten ist eine Daseins-
form, keine Aktivität.“

Was aber ist so großartig daran, Hau-
bentauchern bei der Balz zuzusehen
oder die Berg- und Talflüge von Ringel-
tauben zu betrachten? Solche Eindrücke
sind überwältigend, weil sie sich in dem
Augenblick, da wir sie sehen, schon wie-
der verflüchtigen. Sie blitzen auf und
sind passé. Insofern eignet ihnen ein me-
lancholisches Moment. Barnes schreibt
in seinem Buch „How to Be a Bad Bird-
watcher“ von der „stillen Freude am
gänzlich Gewöhnlichen und der plötzli-
chen Begeisterung über das gänzlich Un-
verhoffte“. Das gänzlich Gewöhnliche
schließt die Farbenpracht auch jener Ar-
ten ein, die wir kaum noch wahrnehmen,
weil wir sie gut kennen. Die schokoladen-
braune Kopfplatte des Feldsperlings etwa
harmoniert wunderbar mit seinen wei-
ßen Wangen; der Schwanz der Elster
schimmert mal in Schwarz, mal in Grün.
Wer wollte Charles Darwin widerspre-
chen, wenn er sagt, Vögel seien die „äs-
thetischsten Tiere von allen“?
Beckmesser würden einwenden, dass
Schmetterlinge und Korallenfische eben-
falls prächtig aussehen. Das stimmt
schon, nur ist es mit ihren Sound-Effek-
ten nicht weit her. Erst der Gesang und
die Rufe der Vögel runden das Birding-
Erlebnis ab. Etwas technisch formuliert:
Es kommt auf das Nebeneinander der
Vögel und das Nacheinander ihrer Laut-
äußerungen an. Außerdem steht und fällt
mit dem Gesang die Stimmung. Die hell
perlenden Strophen des Rotkehlchens,
das Klagelied des Waldkauzes oder die
wehmütigen Flötentöne der Amsel errei-
chen uns vor aller Reflexion und färben
unsere Gemütslage ein. Bereits das Wort
„Stimmung“ verweist auf das Verb „stim-
men“, also auf den Bereich des Auditi-
ven. Manche Vögel aktivieren sogar un-
terschiedliche Register. So erzeugen
trompetende Kraniche entweder Schwer-
mut (wird Herbst da draußen) oder Ver-
gnügen (der Frühling naht).
Erfreulicherweise leben sie überall,
die Vögel. Am Meer, in den Bergen, im
Wald, in der Stadt. Das zwitschernde
Empfangskomitee, das mich überall, wo
ich hinkomme, direkt begrüßt, hat et-
was von einem guten Bekannten, dem
es möglich ist, sich in Hunderte Persön-
lichkeiten zu teilen. Manchen von ihnen
fühle ich mich sehr nahe, zu anderen
habe ich ein leicht distanziertes Verhält-
nis, aber alle sind sie faszinierend und
schützenswert. Besonders groß ist die
Freude freilich, wenn man einem Vogel
begegnet, den man noch nie oder länger
nicht gesehen hat. Dann gilt es, genau
hinzuschauen und die Senkrechte in der
Zeit bis zur Neige auszukosten. Das pas-
siert selten, aber es passiert. Kürzlich
zum Beispiel, am Einser-Kanal. Bei den
drei Vögeln handelte es sich übrigens
um Seidenreiher.

Wer als junger Mensch erzählt, er beobachte stundenlang Vögel,


wird schnell zum Freak erklärt.Kai Spankemacht es trotzdem und


vergisst dabei Raum und Zeit – eigentlich cool, oder?


Illustration Valentine Edelmann


Meine zwitschernden Gefährten

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