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Früher, als Teenager, hatte ich eine genaue Vorstellung, wie
ein Erwachsener zu sein hat. Die fehlt mir gerade leider,
deswegen habe ich mir meine alte »Erwachsenen-Liste«
mal wieder angeguckt, die ich vor ein paar Jahren in mein
Tagebuch geschrieben habe:
- Kann Auto fahren
- Mag Wein, Bier, Oliven, Anchovis, Grapefruit
und hat Angst vor Süßigkeiten - Hat Angst, dick zu werden und alt auszusehen
- Bezahlt mit Kreditkarte, hat viel oder wenig Geld
- Kann Kuchen backen, kochen und Wäsche waschen
- Ist groß
- Raucht, hat Tattoos, Narben
- Kann Geschichten erzählen
- Kann nach dem Essen nicht Fußball spielen
- Geht allein zum Arzt
- Hat wenig Zeit
Erschreckenderweise wäre ich, wenn ich nach dieser Liste
gehe, schon halb das, was ich nie sein wollte, nämlich ... ge-
nau! Wobei mir inzwischen auch klar ist, dass Erwachsen-
sein etwas anderes bedeutet als Ausgewachsensein. Was
genau, das ist die Frage, auf die ich gerade ein paar Ant-
worten finde. Woraufhin sich natürlich auch neue Fragen
ergeben, so viele Fragen.
Hier erst mal die Eckdaten:
In meinem letzten (und ersten) Artikel im ZEITmagazin
habe ich über die Pubertät geschrieben. Damals habe ich
mein Schülerpraktikum in der Redaktion gemacht. Mitt-
lerweile ist Zeit verstrichen, fünf Jahre, um genau zu sein.
Man hat mir das Abiturzeugnis in die Hand gedrückt und
mich auf die Welt losgelassen. Ich bin jetzt 20 Jahre alt,
gerade zu Hause ausgezogen, und ich studiere in Berlin.
Und nun will die Redaktion, dass ich aufschreibe, wie das
geht, das Erwachsensein.
Wenn ich das alles so lese, hört sich das schon wie ein
richtiges State ment an, etwas, das man auf ein Wahlplakat
schreiben könnte: Wählt Paul, er ist ausgezogen und stu-
diert! Na ja, Studieren bringt mir eine neue Struktur und
neue Menschen in mein Leben. Neue Menschen sind im-
mer gut. Ich studiere Gesellschafts- und Wirtschaftskom-
munikation an der Universität der Künste. Wenn man es
abkürzt, klingt es wie eine Maschinengewehrsalve: GWK
an der UdK. Es ist so ein bisschen von allem: Beobachten,
Schreiben, Filmen, Fotografieren, Ausdenken, Lesen. Aber
auch so was wie Statistik, wo ich gar nicht durchblicke.
Irgendwie scheint jetzt die Zeit anzufangen, in der man sich
die Welt immer kleiner macht, sodass sie für einen selbst
passt. Denn das ist vielleicht eine der ersten Erkenntnisse
nach der Schule: Die Welt ist zu groß und die Zeit leider zu
kurz, um alles zu werden und alles zu tun.
Zu wissen, dass man sich von jetzt an immer weiter spe-
zialisiert und auf einen Punkt konzentriert, fasziniert mich
genauso, wie es mir Angst macht. Ich will am liebsten mit
offenen Armen dastehen und mit einem feinmaschigen
Netz alles einfangen, was mir entgegenkommt. Obwohl ich
weiß, dass ich das eh nicht schaffe. Man muss in diesem
game of life offensichtlich dauernd etwas fallen lassen, um
was Neues aufheben zu können.
Ich wusste, dass ich nicht direkt nach der Schule studieren
wollte, sondern erst einmal eine Orien tie rungs pause brauch-
te. Um mich selbst und das, was ich will, ernst zu nehmen.
Ich bin in verschiedene Länder gereist. Ich habe mein Ge-
päck verloren, Tee aus winzigen Tassen getrunken, habe bei
Vollmond häufig wach gelegen. Mir wurden schrumpelige
Äpfel von freundlichen und ebenso schrumpeligen Mön-
chen geschenkt, ich habe an zahlreichen Flughäfen zahl-
reiche Thunfischsandwiches misstrauisch beäugt, Zement
gemischt, ein Dach angemalt, wobei ich es natürlich auch
geschafft habe, von der Leiter zu fallen.
In dieser Zeit konnte ich auch mir selbst eine zweite
Chance geben: der Paul zu sein, der ich sein möchte. Nicht
der, der einfach das tut, was andere von ihm erwarten, oder
der die Rolle weiterspielt, in die er halt reingewachsen ist.
Durch die Distanz zu allem konnte ich viele Sachen klarer
sehen. Wer mir wichtig ist, wen ich vermisse. Was ich gerne
tue, was ich kann und was ich nicht kann.
Jetzt studiere ich also, weil ich gerne kreativ bin, aber
trotzdem eine Struktur brauche. (Und weil ich auf mei-
ner Reise gemerkt habe, wie unbegabt ich handwerklich
bin. Siehe Leiter.) Was genau ich später machen werde,
weiß ich noch nicht und will es auch noch nicht wissen.
Das hört sich vielleicht naiv an oder träge, aber ich bin
bisher einfach immer geradeaus gelaufen, so weit, wie ich
im Nebel halt einen Weg erkennen konnte, und es hat
funktioniert. Als ich mit der Schule fertig war, dachte ich,
das Leben sei ein linearer Pfeil und dass alle Leute, die
älter sind, genau wüssten, wo es hingeht. Aber auf meiner
Reise habe ich viele Menschen kennengelernt, die sich
mit 27 oder 50 noch neu erfinden wollten und die immer
noch nicht wussten, was das Ziel ist. Und das hat mich
wahnsinnig beruhigt.
So langsam fühle ich mich in dieser Ungewissheit ganz
wohl. Ob Studium oder Ausbildung oder Freiwilliges So-
ziales Jahr: Solange man Entscheidungen trifft, kommt es
zu Veränderungen, man macht Erfahrungen, und es geht
weiter. Darüber nachzugrübeln bringt meistens wenig.
Man muss Sachen in die Hand nehmen und ausprobieren,
um herauszufinden, was man wirklich tun will.
Wobei, was heißt das schon, etwas wirklich tun zu wollen?
Im Internet gibt es so eine Rede von Steve Jobs, die ich
mir als Inspiration für eine Rede, die ich schreiben muss-
te, angehört habe. Lebe jeden Tag, als wäre es dein letz-
ter, sagte Jobs, der zu dem Zeitpunkt dachte, er habe den
Krebs besiegt. Es ist eine von diesen amerikanischen Mo ti-
va tions reden für Elite-Uni-Absolventen, wobei die Super-
Uni jemanden einlädt, der es geschafft hat, erfolgreicher
zu werden, als die Elite-Absolventen es sich je erträumen