Die Zeit - 25.07.2019

(WallPaper) #1

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Manchmal erlebe ich bei meinen Töchtern eine gewisse Bildungs-
scheu. Bildung scheint für sie etwas zu sein, was für mich als Kind
Lebertran war: ekliges Zeug, das man kaum schlucken wollte, von
dem aber meine Oma überzeugt war, dass es unglaublich gesund sei.
Ähnliche Reaktionen ernte ich, wenn ich meine Kinder zu einem
Museumsbesuch animieren möchte. Dabei kann es durchaus sein,
dass sie sich gerade sogar tödlich langweilen. Aber wenn ich ihnen
erkläre, dass dies doch ein guter Moment sei, um vielleicht ein-
mal eine tolle Ausstellung anzuschauen, bekommen die Mädchen
fast allergische Reaktionen. Als sei das Betrachten von Kunst noch
schlimmer als das Betrachten der Zimmerdecke. Ich habe den Ein-
druck, dass alles, was nicht auf einen Smartphone-Bildschirm passt
und anhand irgendeines 3-D-Filters mit einer virtuellen Hundenase
versehen und gepostet werden kann, als unzumutbar gilt.
Neulich allerdings verbrachte ich mit Greta ein Wochenende in
London. Bei der Gelegenheit waren wir auch im British Museum.
In London fand Greta es völlig okay, ins Museum zu gehen. Im
Museum gab es eine Edvard-Munch-Ausstellung, auch eine Version
des Bildes Der Schrei war dort zu sehen. »Das müssen wir nicht an-
gucken, das habe ich schon in der Schule durchgenommen«, sagte
Greta. Ich fand, dass das doch gerade ein Grund sei, ein Bild anzugu-
cken. »Papa, wir mussten das interpretieren«, sagte Greta. Sie wusste
aber nicht mehr, was genau ihre Interpretation des Bildes gewesen
war. Sie meinte, im Hintergrund des Bildes seien Schiffe zu sehen
und ein roter Himmel wie bei einer Morgenröte, das Ganze spreche
für Hoffnung oder so. In der Ausstellung war auch ein Selbstporträt
von Munch zu sehen, eine Zeichnung: er als kleiner Junge vor dem
Leichnam seiner gerade gestorbenen Mutter. Sein Gesicht mit einem
entsetzten Ausdruck, der sehr dem der Figur bei Der Schrei ähnelt.
Greta stand lange vor dem Bild. Dann betrachtete sie ein Bild von
Munchs tuberkulosekranker Schwester auf ihrem Sterbebett. Greta
wollte wissen, was Tuberkulose ist und warum man daran stirbt. Da-
nach stand sie noch einmal lange vor dem Bild Der Schrei, nun im
Kopf die Figur eines Malers, der im Leben gelernt hatte, dass jeder-
zeit ein Unglück auf einen einstürzen kann, das einem den Boden
unter den Füßen wegzieht. Das fand Greta tief beeindruckend und
sagte trocken: »Ich glaub, da lagen wir in der Schule mit unserer
Interpretation ziemlich daneben.« Sie habe ja gar nicht gewusst,
welche Geschichten hinter diesen Bildern steckten.
Manchmal frage ich mich, ob man Kindern Kunst nicht am besten
vermitteln könnte, wenn sie sich die Bilder selbst erschließen wür-
den – und zwar über das, was sie im Leben am meisten interessiert.
Bei Greta sind das schlimme Schicksale und Krankheiten. Wenn sie
sich auf eigene Faust durch eine Ausstellung treiben lässt, sprechen
die Bilder von ganz allein zu ihr, und sie erlebt die Malerei viel
besser, als wenn ich sie ihr näherbringen wollte. Vielleicht sollte
man im Kunstunterricht einfach mit den Kindern in Ausstellungen
gehen und sie gucken lassen.
Meine Hoffnung, aus Greta eine angehende Kunsthistorikerin ge-
macht zu haben, hat sich übrigens nicht erfüllt. Wieder in Berlin,
quittierte sie meinen Vorschlag, die interessante Emil-Nolde-Aus-
stellung zu besuchen, mit dem gleichen Unverständnis wie immer.
Vermutlich muss ich den Kindern künftig einfach nur vorschlagen,
in ein Museum in London oder Paris zu fahren.

Prüfers Töchter MEINE 12-JÄHRIGE

Illustration Aline Zalko

Greta ist 12 Jahre alt. Ihr Vater Tillmann Prüfer schreibt
hier im wöchentlichen Wechsel über sie und seine
anderen drei Töchter im Alter von 19, 14 und 5 Jahren

»Ich glaub,


da lagen wir in der


Schule daneben«

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