- Juli 2019 DIE ZEIT No 31
Im Namen einer
falschen Toleranz
Wir müssen endlich lernen, zwischen islamismus und islam zu unterscheiden. Die jüngsten Shitstorms im
alten Kopftuch-Streit zeigen, wie blauäugig nicht nur die intellektuelle linke ist VON ALICE SCHWARZER
M
eine Freundinnen und
Freunde in Algerien sind
liberal bis links oder apo-
litisch; sie sind gläubig,
ungläubig oder Kultur-
muslime. Zurzeit demons-
trieren sie alle für ein offe-
nes, demokratisches Algerien. Wenn ich sie besuche,
schallt mir seit vielen Jahren der immer gleiche
Vorwurf entgegen: Wie könnt ihr nur mit denen
zusammenarbeiten. Das sind doch Rechte! und
wir sind deren erste Opfer.
Mit »ihr« meinen sie uns Westler und speziell uns
liberale und linke; »die«, das sind die islamisten,
für die die Scharia, das »Gesetz Gottes«, über dem
weltlichen Gesetz steht und ihr leben bestimmt. ich
erkläre dann meinen Freunden, dass man bei uns bis
heute nicht unterscheidet zwischen dem islam als
Glauben und dem islamismus, der ideologie. und
dass Menschen wie ich, die den politischen islam
kritisieren, in meiner Welt von so manchen linken
und vor allem von »islamischen Feministinnen« plus
Sympathisantinnen und Sympathisanten als »Ras-
sisten« beschimpft werden.
Denn das ist ja der infame Trick der islamisten
seit der ersten Stunde: Sie setzen die Kritik an ihrer
ideologie gleich mit einer Kritik am islam an sich,
an allen Musliminnen und Muslimen. und die
westlichen linken, von denen viele von Beginn an
sympathisiert haben mit dem politischen islam,
machen das mit. So bejubelte zum Beispiel der
französische Philosoph Michel Foucault die »ira-
nische Re vo lu tion« als »die modernste und verrück-
teste Form der Revolte«. Dass dabei von Anbeginn
an die Frauen entrechtet waren, hat nicht nur ihn
nicht sonderlich gestört.
Der linken war ihr revolutionäres Subjekt, das
Proletariat, verloren gegangen. Sie ersetzte es ge-
schmeidig durch »die Muslime« – die sind für sie
seither die neuen »Verdammten dieser Erde«. »Die
westliche linke und uns verband der Hass auf den
Schah, auf den imperialismus und auf Amerika«,
schreibt die iranische Schriftstellerin
Chahla Chafiq, die sich bis heute als lin-
ke und als Feministin versteht. Rückbli-
ckend schreibt die Soziologin: »Wir haben
die Diktatur bekämpft, aber nicht be-
griffen, dass der neue iran ein totalitäres
Re gime wurde. Auch ich habe die Gefahr
nicht gleich erkannt.« Chafiq flüchtet
1984 ins Exil nach Frankreich.
ich war wenige Wochen nach der
Machtübernahme Chomeinis mit einer
Gruppe Französinnen, dem Comité Simo-
ne de Beau voir, in Teheran. Wir waren
den Hilferufen von Feministinnen gefolgt, die wie
Chafiq die Ankunft des Ajatollahs zunächst bejubelt
hatten. Doch dann kam der 8. März 1979 und das
Dekret: »Die Frauen dürfen nicht mehr nackt in die
Ministerien kommen. Sie können arbeiten, aber nur
verschleiert.« Was von nun an für alle Berufs- und
Bildungsbereiche galt.
Seither ist das Kopftuch, die Verhüllung des
»sündigen« Haares und Körpers der Frau, das iden-
titätsstiftende Symbol der islamisten. in den ersten
Jahrzehnten schlugen die Revolutionswächter so
mancher Frau das verrutschte Kopftuch mit Nägeln
in den Schädel. Das ist heute anders. Ganz anders?
»Viel lockerer«, so heißt es. Anfang 2019 allerdings
wurde in Teheran die international geachtete Men-
schenrechtlerin und Anwältin Nasrin Sotoudeh zu
38 Jahren Gefängnis und 148 Peitschenhieben ver-
urteilt. ihr Vergehen: Sie hatte es gewagt, vor Gericht
Frauen zu verteidigen, die gegen den Kopftuchzwang
und für Frauenrechte demonstrierten.
Damals, im April 1979, haben wir mit allen Par-
teien gesprochen. Mit den empörten Feministinnen
(die ausnahmslos wenig später tot waren oder im Exil)
wie mit den islamischen Frauenrechtlerinnen (von
denen auch nur wenige überlebt haben) und den
Töchtern und Ehefrauen der neuen Machthaber.
letztere waren beeindruckende Frauen, tief ver-
schleiert im schwarzen Tschador, mit Gesichtern wie
in Granit gemeißelt. unterm Tschador hatten sie im
Kampf gegen den Schah nicht selten die Ka lasch ni-
kow verborgen. Auf unsere Fragen antworteten sie
ganz offen, genau wie die neuen politischen Führer.
»Ja, selbstverständlich Einführung der Scharia!« – »Ja
klar, Steinigung bei Ehebruch (der Frau) oder Homo-
sexualität.« Das stehe so im Koran. und dazu lächel-
ten sie liebenswürdig. Sie haben aus ihren Absichten
keinen Hehl gemacht. Man hätte es wissen können.
Zurück in Deutschland, habe ich in Emma und
in der ZEIT geschrieben, was ich gehört und gesehen
hatte. Meine Reportage endete mit den Worten:
»Diese Frauen waren gut genug, für die Freiheit ihr
leben zu riskieren – sie werden nicht gut genug sein,
in Freiheit zu leben.« Prompt schallte es mir ent-
gegen: »Schahfreundin!«, »Rechte!«. Das war neu.
Wie war das eigentlich noch kurz zuvor, in den
Siebzigerjahren in Deutschland? Da lebten schließ-
lich schon über eine Mil lion Türkinnen und Türken
bei uns. Aber Kopftücher waren kein Thema. Mehr
noch: Dass Türken Muslime waren, war kein Thema.
Es war ihnen selber egal, oder aber sie betrachteten
es als ihre Privatsache. ihr Glaube existierte in der
öffentlichen Wahrnehmung nicht.
und noch vor zehn Jahren ergab eine repräsen-
tative Studie des innenministeriums, dass sieben
von zehn Musliminnen in Deutschland kein Kopf-
tuch tragen. Sogar unter denjenigen, die sich selber
als »stark gläubig« einstuften, hatte jede Zweite
noch nie ein Kopftuch getragen. Denn das Kopf-
tuch ist kein religiöses Gebot. Nur für die islami-
schen Fundamentalisten ist die obsessive Ver-
hüllung der Frauen so unverzichtbar wie für die
christlichen Fundamentalisten das Abtreibungs-
verbot. immer geht es dabei um die Kontrolle des
weiblichen Körpers.
Bei der vom innenministerium in Auftrag ge-
gebenen Studie gab übrigens nur jede und jeder
Dritte an, »stark gläubig« zu sein. Nicht zuletzt da-
rum ist es falsch, Menschen muslimischer Herkunft
über den islam zu definieren – so wie es falsch wäre,
mich über das Christentum zu bestimmen.
Jüngst wurde Bundeskanzlerin Angela Merkel
gefragt, was für sie islamismus sei. Sie antwortete:
Wenn Gewalt im Spiel ist. Da freilich irrt die Kanz-
lerin. Die Gewalt ist nur die Spitze des Eisberges,
sozusagen der dramatische Endpunkt einer langen
indoktrinierung. islamismus beginnt bei einer fun-
damentalistischen, wissenschaftsfeindlichen Welt-
sicht, die den im 7. Jahrhundert geschriebenen Koran
auch im 21. Jahrhundert noch wörtlich nimmt. Er
geht weiter mit der Geschlechter-Apartheid (Tren-
nung schon im Kindergarten) sowie der Entrechtung
des individuums im Namen des Kollektivs. und er
gipfelt schließlich in der Propagierung der Verschleie-
rung, die den Körper von Frauen zum Objekt macht
- und die Männer zu deren Wächtern. Für die
schriftgläubigen islamisten bestimmt der Koran das
leben der Menschen ebenso wie die
Regeln der Gesellschaft.
Bis heute wird dieser Propaganda der
islamisten in den muslimischen Com-
munitys westlicher Metropolen leider
kaum etwas entgegengesetzt. im Gegen-
teil: Politik, Kirchen und Me dien hofie-
ren diese ideologen, indem sie mit den
überwiegend orthodoxen bis islamisti-
schen Verbänden »dialogisieren« – und
die aufgeklärten Musliminnen und
Muslime lange links liegen ließen. Ent-
sprechend stieg das unbehagen, bei den
Muslimen wie auch bei uns, ihren Nachbarn. Aber
das Klima ist polarisiert, und die Menschen sind ein-
geschüchtert. Sie haben Angst, bei Kritik als »Ras-
sisten« gescholten zu werden. Da ist es gut, dass in-
zwischen auch immer mehr kritische Musliminnen
und Muslime in die Offensive gehen.
So wie etwa die in Deutschland lebende ägypti-
sche Soziologin Hoda Salah. Sie führte eine Studie
über »Feminismus und islamismus« durch und
schreibt im Blick auf die Kopftuch-Debatte über
»die mit den islamischen Aktivistinnen sympathisie-
renden Wissenschaftlerinnen«, die sich »um Ver-
ständnis und Nachsicht« bemühten: Sie »blenden
die sozialen und politischen Auswirkungen auf die
Gesellschaft und die existierenden Menschenrechte
aus«. Dabei seien diese »politischen Agitateurinnen
ein sichtbares Zeichen des islamismus sowie ein
zentraler Marker der Grenzziehung zwischen dem
›islamischen Kollektiv‹ und dem davon zu unter-
scheidenden Außen«. Doch statt diese Strategie zu
erkennen, wird die hochpolitische Kopftuch-Frage
von der Politik wie von den Medien als Privatsache
behandelt. in einer Endlosschleife debattiert man
darüber, ob das einzelne individuum das Kopftuch
nun »freiwillig« trage oder nicht.
So geht das nun seit den Neunzigerjahren. Schon
vor einem Vierteljahrhundert gab es auch in
Deutschland diese Fronten: Hier die Kulturrelativis-
ten, für die die Fremden eben »anders« sind und ihre
Sitten bedingungslos zu respektieren sind (selbst
wenn sie gegen elementare Menschenrechte ver-
stoßen); und da die universalisten, für die alle
Menschen gleich(berechtigt) sind und die Menschen-
rechte universell gelten. und schon damals lief be-
reits die Diffamierung der Kritikerinnen und Kriti-
ker des islamismus als »Rassisten«.
Als ich beispielsweise 1995 den Protest gegen die
Verleihung des Friedenspreises des Deutschen Buch-
handels an die islamwissenschaftlerin Annemarie
Schimmel initiierte, traf ich auf viele Eingeschüch-
terte und Ängstliche. Schimmel, nach der zu ihren
Ehren eine Allee in der pakistanischen Hauptstadt
lahore benannt ist, war eine verdeckte islamistin
oder wenigstens ein naives instrument islamistischer
Alice Schwarzer,
76, lebt in
Köln und Paris
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Kräfte. Es war auf jeden Fall ein fatales Zeichen, sie
im Moment des Beginns einer islamistischen Offen-
sive in Deutschland zu ehren.
Die intellektuellen und islamexperten, die ich
für die Protestliste ansprach, waren fast alle entsetzt
über die Ehrung. Gleichzeitig baten sie mich, sie
auf keinen Fall zu zitieren. »ich bin ganz ihrer Mei-
nung, Frau Schwarzer«, hieß es dann. Doch: »Mir
haben schon Studenten nach einer islamkritischen
Vorlesung die Fenster eingeschlagen.« Ein Professor
erzählte mir sogar von Morddrohungen nach einem
kritischen Seminar über die Muslimbrüder.
Das war vor 24 Jahren.
Die universitäten. Da scheint die systematische
islamistische indoktrination – umgesetzt von Pre-
digern, die in Saudi-Arabien oder Katar, in Pakistan,
Kairo oder london geschult wurden – weltweit am
stärksten gefruchtet zu haben. Ganze Generationen
sind inzwischen auch in Deutschland durch und
durch ideologisiert, mit einem Amalgam aus (be-
rechtigter) Kritik am imperialismus und Neokolo-
nialismus, vermischt mit ethnischer identitäts politik
plus diversen Denkverboten.
Kürzlich habe ich das mal wieder selber erfahren
dürfen, an der universität Frankfurt. Dort hatte die
Direktorin des Forschungszentrums Globaler islam,
Susanne Schröter, zu einer Konferenz über das
Kopftuch geladen. Die Folgen sind bekannt: unter
dem Hash tag #schröter_raus folgte ein Shit storm
gegen die Professorin, ihre Entlassung wurde ge-
fordert. Die universitätsleitung wies das in diesem
Fall entschieden zurück, und auch der Asta hielt zu
der Professorin.
Vor dem Konferenzgebäude tauchte im laufe
des Tages ein Häuflein Demonstrantinnen und
Demonstranten auf, angeführt von dem professio-
nellen »Campaigner« Zuher Jazmati, in Berlin ge-
borener Sohn syrischer Eltern. Er gibt Kurse in
»Critical White ness« und befasst sich laut eigener
Aussage mit »Dekolonialisation, Anti-islamophobie
und muslimischem Rassismus«.
ich war die einzige Teilnehmerin der Konferenz,
die spontan hinausging, um mit den Demonstranten
zu reden. Doch mich empfing nur Gebrüll. un-
möglich, mit ihnen zu reden. Bei einem meiner
Trotz-alledem-Versuche tippte ich einer der De-
monstrantinnen (mit Kopftuch) ganz leicht an den
unterarm – Skandal! Wie ich es wagen könne, sie
»ohne Erlaubnis anzufassen«! Sie werde mich »an-
zeigen«. Darauf antwortete ich ironisch: »ich dach-
te, nur Männer dürfen Sie nicht anfassen.« Es folgte
ein Shit storm im internet gegen mich als »Rassistin«.
Nur zwei Monate später mussten Emma und ich
den zweiten Rassismus-Shitstorm aushalten. Die
Emma-Cartoonistin Franziska Becker sei eine »Ras-
sistin«. Beleg: ein halbes Dutzend Cartoons, aus 40
Jahren, die sich über die Propagierung der »modi-
schen Burka« lustig machten oder die Agi ta tion des
fundamentalistischen islams satirisch zuspitzten.
Diesmal kam der Rassismus-Bann allerdings
nicht nur aus dem Milieu der quasiprofessionellen
»Anti-Rassistinnen«, sondern auch von bekannten
Autoren wie Jakob Augstein und Carolin Emcke.
Doch auch diese Anwürfe waren so durchsichtig,
dass die FAZ en passant über eine »Kritik, die auf-
klärerischen Spott mit Rassismus verwechselt«,
spottete. und der Chefredakteur der französischen
Satire-Zeitschrift Charlie Hebdo – die 2015 Opfer
eines Massakers mit zehn Toten durch islamistisch
motivierte Terroristen geworden war – sah in dem
deutschen Satire-Streit gar »Moral-Kapos« am Werk.
Jede Kritik am politischen islam und an seinem
sichtbarsten Symbol, der Verschleierung der Frauen,
gilt in diesen politisch korrekten Kreisen als »Treten
nach unten« und »Rassismus« beziehungsweise
neuerdings auch als »islamophobie«. (Bemerkens-
wert, dass für diese leute »die Muslime« immer
»unten« sind und sie »oben«.)
Da dürfen wir uns nicht wundern, wenn nicht
nur die AfD, sondern auch immer mehr Bürgerin-
nen und Bürger angesichts der falschen Toleranz
»den islam« mit islamismus gleichsetzen – und all-
mählich zu echtem Rassismus neigen. Dabei schie-
nen gerade wir Deutschen nach dem Schock der
Nazi- Zeit relativ gut geimpft zu sein gegen Frem-
denhass und Anti semi tis mus. Auch beim Sexismus
waren wir in Richtung Gleichberechtigung bemer-
kenswert gut vorangekommen. und all das wollen
wir jetzt in Gefahr bringen lassen durch die infil-
tration einer tief reaktionären, rechten ideologie?
im Namen einer falschen Toleranz?
Alice Schwarzer, Jahrgang 1942, ist Gründerin und
Herausgeberin der Zeitschrift »Emma«. Sie hat
mehrere Bücher zum Thema veröffentlicht,
darunter »Die Gotteskrieger und die falsche Toleranz«
und »Der Schock – die Silvesternacht in Köln«.
Zuletzt erschien von ihr »Meine algerische Familie«
(Kiepenheuer & Witsch)
Der Hijab als Streitgegenstand
ist auch das Thema der Fotoserie »Elles«
der Fotografin Françoise Beauguion,
die muslimische Frauen in Frankreich porträtierte
Fotos: Françoise Beauguion/VOST Collectif, aus der Serie „Elles“, Frankreich 2012; Henning Kaiser/dpa (l.)